Transkript
FORTBILDUNG
Die Kunst des Verschreibens von Antidepressiva in der Hausarztpraxis
Depressionen entwickeln sich als eigenständige Erkrankung, treten jedoch häufig auch im Zusammenhang mit Schmerzen, Angststörungen, chronischen Erkrankungen oder im Alter auf. Praxisbezogene Empfehlungen zu Auswahl und Anwendung geeigneter Antidepressiva sollen den Hausarzt bei einer massgeschneiderten Behandlung dieser unterschiedlichen Patienten unterstützen.
CLEVELAND CLINIC JOURNAL OF MEDICINE
Die Behandlung von Depressionen mit oder ohne Komorbiditäten obliegt häufig dem Hausarzt. Angesichts der zahlreichen Antidepressiva ist die Auswahl eines individuell geeigneten Präparats jedoch eine Herausforderung. Obwohl die einzelnen Substanzen unterschiedliche Merkmale aufweisen, die sie für bestimmte Patienten besonders geeignet erscheinen lassen, sind für eine erfolgreiche Behandlung oft mehrere Versuche erforderlich.
Basisuntersuchungen Vor Behandlungsbeginn sollten Laboruntersuchungen durchgeführt werden, um gesundheitliche Störungen auszuschliessen, die zur Depression beitragen oder bei denen bestimmte Antidepressiva nicht angewendet werden können. Zu den relevanten Laboruntersuchungen gehören ein vollständiges Blutbild, ein vollständiges Stoffwechselprofil und die Bestimmung des thyroideastimulierenden Hormons (TSH). Bei manchen Patienten kann auch ein Elektrokardiogramm (EKG) sinnvoll sein, da manche Antidepressiva das QT-Intervall verlängern oder die Blutwerte anderer Medikamente mit dieser Wirkung erhöhen.
Merksätze
Allgemeine Überlegungen zur Behandlung Zur Behandlung von Depressionen werden hauptsächlich selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI), Serotonin- Norephedrin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI), trizyklische Antidepressiva (TCA) und Monoaminooxidase(MAO-)Inhibitoren oder Generika der Einzelsubstanzen jeder Klasse angewendet. Da sich die Wirksamkeit einzelner Antidepressiva nicht wesentlich unterscheidet, sollte sich der Hausarzt zunächst mit einer Substanz aus jeder Klasse vertraut machen (siehe Tabelle). Die Behandlung beginnt üblicherweise nach dem Prinzip «start low and go slow». Dementsprechend wird zu Beginn die halbe Normaldosis appliziert und die Dosis bei guter Verträglichkeit dann alle 14 Tage erhöht. Mit diesem Vorgehen lassen sich unerwünschte Wirkungen minimieren. Die meisten Nebenwirkungen sind auf den jeweiligen Wirkmechanismus zurückzuführen und können im Vorfeld abgeschätzt werden. Bei allen Antidepressiva kann es zu sexuellen Störungen kommen. Spricht der Patient auf eine Substanz nach 4 bis 6 Wochen nicht ausreichend an, wird innerhalb der Klasse oder zu einem Präparat einer anderen Substanzklasse gewechselt. Meist werden die Substanzen während der Umstellungsphase über Kreuz ein- und ausgeschlichen, um einen plötzlichen Abbruch oder das Risiko für unerwünschte Wirkungen wie Cytochrom-P-450-Interaktionen, ein Serotoninsyndrom oder eine hypertensive Krise (beim Wechsel zu MAO-Inhibitoren) zu vermeiden. Alle SSRI und SNRI werden über Cytochrom P 450 in der Leber verstoffwechselt, sodass bei diesen Antidepressiva ein Interaktionspotenzial zu berücksichtigen ist. Zu Beginn der Behandlung mit TCA kann durch eine Überprüfung der Blutwerte abgeklärt werden, ob die Gefahr einer Toxizitätsentwicklung besteht. Bei gleichzeitiger Gabe von TCA und SNRI oder SSRI ist grosse Vorsicht geboten, da die Blutkonzentration des TCA unter dieser Kombination signifikant erhöhte Werte erreichen kann.
O Depressionen treten häufig im Zusammenhang mit Schmerzen, Angststörungen, chronischen Erkrankungen oder im Alter auf.
O Einige Antidepressiva sind auch zur Behandlung anderer Indikationen zugelassen.
O Oft ist mit einer Substanz die Behandlung von Depression und Komorbidität möglich.
Major Depression Für Patienten mit einer Depression ohne weitere signifikante psychische Störung ist häufig ein SSRI die Option der ersten Wahl. Die Symptome bessern sich nach etwa 2 Wochen, und ein optimales Ansprechen sollte nach 4 bis 6 Wochen erreicht sein. Bei unzureichender Wirksamkeit kann zunächst ein unterstützendes Medikament gegeben oder sofort zu einem anderen Antidepressivum gewechselt werden.
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Bei TCA und SNRI überschneidet sich der
Tabelle:
Repräsentative Antidepressiva (nach Shultz und Malone)
Substanzklasse
Übliche
Maximal-
Bereich der effektiven Dosis zur Behandlung von chronischen Schmerzen und Depressionen. Schmerzpatienten ohne Depressionen erhalten häufig niedriger dosierte TCA. SNRI
und Beispiele
Trizyklische Antidepressiva Amitriptylin (Saroten®) Imipramin (Tofranil®, Surmontil® und Generika)
Tagesdosis
25–100 mga,b 25–100 mg
dosis
300 mg 300 mg
werden TCA oft vorgezogen, weil sie keine anticholinergen Nebenwirkungen aufweisen und eine Überdosierung wesentlich weniger wahrscheinlich letal wirkt.
Clomipramin (Anafranil®) Nortriptylin (Nortrilen®)
25–100 mg 25–100 mg
300 mg 200 mg
Patienten mit Angststörungen Viele Antidepressiva sind auch zur Behand-
Selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (SSRI) Fluoxetin (Fluctine® und Generika) Paroxetin (Dexorat® und Generika) Sertralin (Zoloft® und Generika)
10–40 mg 20–40 mg 50–200 mg
80 mg 50 mg 200 mg
lung von Angststörungen zugelassen, und einige werden «off label» angewendet. Firstline-Optionen für Ängste und Depressionen sind SSRI oder SNRI. Meist zeigen sich die antidepressiven Wirkungen einer Substanz
Citalopram (Seropram® und Generika) Escitalopram (Cipralex®)
10–40 mg 10–20 mg
40 mg 30 mg
Serotonin-Norephedrin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI) Duloxetin (Cymbalta®) Desvenlafaxin (nicht im AK der Schweiz) Nefazodon (nicht im AK der Schweiz) Venlafaxin (Efexor® und Generika) Trazodon (Trittico®)
30–90 mg 50–100 mg 200–600 mgc 37,5–225 mg 25–200 mg (Schlaf)a 150 mg (Depression)c
120 mg 100 mg 600 mg 375 mg 600 mg
bei niedrigeren und die angstlösenden bei höheren Dosierungen. Fluoxetin, Citalopram, Escitalopram und Sertralin sind sowohl bei einer Major Depression als auch bei generalisierter Angststörung wirksam. Mirtazapin, TCA und Clomipramin sind aufgrund ihrer schlaffördernden Wirkung bei nächtlichen Ängsten von besonderem Nutzen. MAO-Inhibitoren werden aufgrund der erforderlichen Ernährungseinschränkungen oft vermieden, können jedoch in refraktären Fäl-
Dopamin-Norephedrin-Wiederaufnahme-Hemmer Bupropion (Wellbutrin®, Zyban®)
Alpha-2-Agonist Mirtazapin (Remeron® und Generika)
Monoaminooxidase-(MAO-)Inhibitoren Phenelzin (nicht im AK der Schweiz)
100–300 mg 15–30 mga 15–45 mg
400–450 mgd 45 mg 60–90 mg
len eine wirksame Option darstellen. Bupropion wird bei Angststörungen ebenfalls seltener gegeben, da es aktivierender als andere Antidepressiva wirkt. Der Patient sollte darüber informiert werden, dass es anfangs zu einer Verstärkung der Ängste kommen kann, die sich jedoch nach etwa einer Woche wieder legt. Die vorübergehende Gabe eines Benzo-
Selegilin (Selegelin® Helvepharm, Selegelin® Mepha) Tranylcipromin (nicht im AK der Schweiz)
6 mg/24 h 10–30 mg
a vor dem Schlafengehen; b kann aufgeteilt werden; c aufgeteilte Dosis; d abhängig von der Formulierung.
12 mg/24 h 60 mg
diazepins wie Clonazepam (Rivotril®) kann in manchen Fällen den Behandlungsbeginn erleichtern.
Patienten mit Insomnie
Quelle: Shultz E, Malone DA: A practical approach to prescribing antidepressants. Cleveland Clinic Journal of Medicine 2013; 80(10): 625–631.
Eine Insomnie kann Symptom einer Depression sein oder als Nebenwirkung von Antidepressiva auftreten. SSRI, SNRI und TCA
können den Schlafrhythmus durch eine Verkürzung der REM-Phasen stören. In manchen
Patienten mit chronischen Schmerzen
Fällen kann die morgendliche Einnahme des Antidepres-
Chronische Schmerzen und Depressionen treten häufig sivums Abhilfe schaffen. Als Faustregel gilt für alle Antigemeinsam auf und können sich gegenseitig potenzieren. Bei depressiva: Verursacht es Müdigkeit, sollte es abends ein-
Patienten mit beiden Erkrankungen werden meist SNRI genommen werden, wirkt es aktivierend, wird es morgens oder TCA verschrieben. Manche SNRI wie Duloxetin und appliziert.
Milnacipran (nicht im AK der Schweiz) sind von der Food Eine neue Studie weist darauf hin, dass Escitalopram den
and Drug Administration (FDA) zur Behandlung chronischer Schlaf verbessert. Der Alpha-2-Agonist Mirtazapin ist bei Schmerzerkrankungen wie Fibromyalgie zugelassen. Andere Depressionen und Insomnie am besten in Dosierungen von
SNRI werden «off label» bei Kopfschmerzen und neuropathischen Schmerzen angewendet. Auch TCA wie Amitriptylin, Nortriptylin und Doxepin (Sinquan®) kommen häufig
15 oder 30 mg wirksam. Ab 45 mg ist die schlaffördernde Wirkung vermindert. Auch niedrig dosierte TCA wie Doxepin, Maprotilin (Ludiomil®, tetrazyklisches Antidepressivum),
«off label» bei neuropathischen Schmerzen, Migräne, inter- Amitriptylin und Nortriptylin stellen effektive Schlafhilfen stitieller Zystitis und anderen Schmerzerkrankungen zum dar. Diese Substanzen können zur Unterstützung anderer
Einsatz.
Antidepressiva zur Verbesserung von Schlaf und Stimmung
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angewendet werden. Beim Absetzen dieser Medikamente ist Vorsicht geboten, da es zu Reboundsymptomen in Form einer ausgeprägteren Traumaktivität kommen kann. Trazodon kann in niedrigeren Dosierungen von 25 bis 150 mg eine nicht abhängigkeitsfördernde Schlafhilfe sein. Als Antidepressivum wird Trazodon meist in höheren Dosierungen von 300 bis 400 mg verschrieben, wobei die sedierende Wirkung die Anwendbarkeit limitiert. MAO-Inhibitoren verstärken die Insomnie, weil sie den REM-Schlaf unterdrücken.
Geriatrische Patienten Ältere Patienten sind empfindlicher gegenüber einer durch SSRI verursachten Bradykardie, und bei TCA besteht die Gefahr einer QTc-Verlängerung. TCA verlangsamen zudem die kognitiven Funktionen, während SSRI, Bupropion und SNRI die Kognition nicht beeinträchtigen. Escitalopram und Duloxetin haben sich bei älteren Patienten als besonders wirksam erwiesen. Auch Mirtazapin kann bei bestimmten älteren Patienten von vielfältigem Nutzen sein. Mit dieser Substanz können gleichzeitig Ängste und Depressionen behandelt werden. Zudem wirkt sie appetitanregend, fördert die Gewichtszunahme und wirkt schlaffördernd, was bei altersbedingten Schlafstörungen von Bedeutung ist. Aus Studienergebnissen geht hervor, dass Mirtazapin auch zur gleichzeitigen Behandlung von Alzheimer und Depressionen geeignet ist.
Diabetiker Bei Diabetikern ist die Gewichtszunahme eine bedenkliche Nebenwirkung psychiatrischer Medikamente. Antidepressiva mit höherer Wahrscheinlichkeit für eine Gewichtszunahme sollten daher bei diesen Patienten als First-LineOption vermieden werden. Dazu gehören Paroxetin, TCA, Mirtazapin und MAO-Inhibitoren. Bupropion und Nefazodon wirken sich am wenigsten auf das Gewicht aus. Nefazodon wird nicht oft angewendet, da es in seltenen Fällen zu schwerem Leberversagen führen kann, bleibt jedoch eine Option für Patienten mit komorbiden Ängsten und Depressionen, die unter anderen Substanzen erheblich zunehmen.
SSRI und MAO-Inhibitoren beeinflussen den Glukosestoffwechsel günstig oder wirken neutral, während SNRI diesen möglicherweise beeinträchtigen.
Herzpatienten Depressionen entwickeln sich auch häufig im Zusammenhang mit Herzerkrankungen, insbesondere nach einem Infarkt. Bei diesen Patienten ist die Behandlung besonders ratsam, weil unbehandelte Depressionen das Risiko für einen erneuten Herzinfarkt erhöhen können. Da TCA und tetrazyklische Substanzen das QT-Intervall verlängern und ventrikuläre Arrhythmien verstärken können, sollten sie bei Risikopatienten vermieden werden. Diese Substanzen können zudem die Pulsfrequenz signifikant steigern. Diese Tachykardie erhöht das Risiko für Angina oder einen Herzinfarkt aufgrund anticholinerger Substanzeffekte. Im Februar 2013 hat die FDA einen Warnhinweis herausgegeben, dass es bei Citalopramdosierungen von mehr als 40 mg zu Arrhythmien kommen kann. TCA und MAO-Inhibitoren können eine orthostatische Hypotonie verursachen, und bei Einnahme von MAO-Inhibitoren kann der Verzehr grösserer Tyraminmengen in Nahrungsmitteln wie reiferem Käse eine hypertensive Krise hervorrufen. SSRI sind bei Herzpatienten meist sicher anwendbar. Sertralin hat sich bei kongestiver Herzinsuffizienz und koronaren Herzerkrankungen als sicher erwiesen, und Fluoxetin hat bei Patienten mit Herzinfarkt Wirksamkeit gezeigt. Bei Mirtazapin, Bupropion, SSRI und SNRI besteht zudem nur ein geringes oder kein Risiko für orthostatische Hypotensionen. O
Petra Stölting
Shultz E, Malone DA: A practical approach to prescribing antidepressants. Clev Clin J Med 2013; 80(10): 625-631.
Interessenkonflikte: keine Angaben
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