Transkript
FORTBILDUNG
Schmerzsituation immer wieder überprüfen
Wichtige Gesichtspunkte aus der NICE-Guideline zu neuropathischen Schmerzen
Das britische Institute for Health and Care Excellence (NICE) hat seine Guideline zum Management von neuropathischen Schmerzen bei Erwachsenen ausserhalb spezialisierter Zentren überarbeitet und gibt darin praktische Hinweise zur Pharmakotherapie.
HALID BAS
für die schmerzhafte diabetische Neuropathie, 8 bis 19% für die postherpetische Neuralgie). Auch nach chirurgischen Eingriffen sind chronische Schmerzen mit Prävalenzschätzungen zwischen 10 und 50 Prozent ziemlich häufig, wobei schwere Schmerzzustände 2 bis 10 Prozent betreffen und oft neuropathischen Schmerzen ähnlich sind. Ein Erhebung an Daten aus der Allgemeinpraxis in den Niederlanden berechnete die jährliche Inzidenz neuropathischer Schmerzen in der Allgemeinbevölkerung auf nahezu 1 Prozent.
Der neuropathische Schmerz ist wegen der Heterogenität der Ätiologien, Symptome und zugrunde liegenden Mechanismen eine therapeutische Herausforderung. Periphere neuropathische Schmerzen als Symptom kommen in der Praxis häufig vor bei diabetischer Neuropathie, postherpetischer Neuralgie, Trigeminusneuralgie sowie bei radikulären und postoperativen chronischen Schmerzsyndromen und beim neuropathischen Karzinomschmerz. Zu zentralen neuropathischen Schmerzzuständen kann es nach Stroke, Rückenmarksverletzungen und bei Multipler Sklerose kommen. Die Prävalenzschätzungen zu neuropathischen Schmerzen sind variabel (6–8% für die Gesamtbevölkerung, 16 bis 26%
Merksätze
O In der Pharmakotherapie chronischer neuropathischer Schmerzen kommt der Patientenaufklärung und -schulung grosse Bedeutung zu.
O Bei der medikamentösen Therapie neuropathischer Schmerzen sind regelmässige Kontrolluntersuchungen zur Erfassung und Überwachung der Effektivität und Verträglichkeit der Behandlung von grosser Wichtigkeit.
O In der Initialtherapie kommen Antidepressiva, Antiepileptika sowie Capasaicinpflaster zum Einsatz, wobei sorgfältige Dosistitration und indivuelle Wirkstoffwahl notwendig sind.
O Kombinationstherapien können Vorteile bieten, da so die Nebenwirkungen dank tieferer Wirkstoffdosierungen besser zu kontrollieren sind.
O Bei ausgeprägter Schmerzsymptomatik, Verschlechterung oder Progression des Grundleidens ist eine rechtzeitige Überweisung an Spezialisten wichtig.
Grundprinzipien zum Umgang mit neuropathischen Schmerzen Vor der Verschreibung einer konkreten Pharmakotherapie sollte mit den von chronischen neuropathischen Schmerzen Betroffenen ein Behandlungsplan diskutiert werden. Dabei gilt es, das Ausmass der Schmerzen und ihre Auswirkungen auf Lebensstil, Alltagsaktivitäten und Schlafverhalten genauer zu erfassen. Die Patientinnen und Patienten müssen sodann aufgeklärt werden über die möglichen Nutzen, aber auch Nebenwirkungen der Medikamente. Dabei ist körperlichen und psychischen Problemen sowie Begleitmedikationen Rechnung zu tragen. Die Patienten sollen auch über die Wichtigkeit der Dosistitration und das Vorgehen beim Titrationsprozess informiert werden. Neben Informationen zur Pharmakotherapie sind auch körperliche und psychologischen Behandlungsansätze sowie gegebenenfalls Möglichkeiten von operativen Eingriffen zu besprechen. Eine Überweisung an Schmerzspezialisten ist in jedem Stadium, also auch bei Erstpräsentation sowie bei Kontrollkonsultationen, in Betracht zu ziehen. Sie erscheint als angezeigt, wenn der Schmerz schwer ist oder signifikante einschränkende Auswirkungen auf den Lebensstil und die Alltagsaktivitäten hat oder wenn sich die zugrunde liegende Gesundheitsstörung verschlechtert hat. Wenn eine bestehende Therapie den neuropathischen Schmerz effektiv kontrolliert, sind regelmässige Konsultationen zur Überwachung angezeigt. Bei einer neu eingesetzten Behandlung ist sicherzustellen, dass sie mit älteren Therapien so überlappt, dass es zu keiner Verschlechterung der Schmerzkontrolle kommt. Bei jeder neu eingesetzten oder veränderten Behandlung sollen Dosistitration, Verträglichkeit und Nebenwirkungen nach kurzer Zeit überprüft werden. Die regelmässigen Kontrolluntersuchungen zur Erfassung und Überwachung der Effektivität der Behandlung sind von grosser Wichtigkeit. Dabei sind jedesmal Schmerzkontrolle, Auswirkungen auf Lebensstil und Alltagsaktivitäten sowie Partizipation am sozialen Umfeld,
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FORTBILDUNG
Kasten:
Bei neuropathischen Schmerzsyndromen häufig eingesetzte Wirkstoffe
Wirkstoffgruppe
Antidepressiva Amitriptylin (Saroten® Retard)
Duloxetin (Cymbalta®)
Indikation
bei chronischen Schmerzen, die sich gegenüber der üblichen prophylaktischen Behandlung als resistent erwiesen haben Behandlung von durch eine diabetische Neuropathie verursachten Schmerzen
Antiepileptika
Carbamazepin (Carsol® CR, Tegretol®, Timonil®) Gabapentin (Neurontin® oder Generika) Pregabalin (Lyrica®)
idiopathische Trigeminusneuralgie sowie Trigeminusneuralgie aufgrund von Multipler Sklerose (typisch oder atypisch); idiopathische Glossopharyngeusneuralgie
bei neuropathischen Schmerzen bei diabetischer oder postherpetischer Neuralgie
neuropathische Schmerzen bei diabetischer Neuropathie, postherpetischer Neuralgie und Rückenmarksverletzung
Andere Capsaicin (Qutenza™)
periphere neuropathische Schmerzen bei Erwachsenen, die nicht an Diabetes leiden
das körperliche und seelische Befinden, allfällige Nebenwirkungen und der weitere Behandlungsbedarf zu erfassen. Bei Therapiewechseln kommt dem sorgfältigen schrittweisen Absetzen bestehender Medikationen grosse Bedeutung zu.
Pharmakotherapie bei neuropathischen Schmerzen Bei der Therapie der neuropathischen Schmerzen nimmt die Trigeminusneuralgie einen besonderen Platz ein (s. unten). Für die anderen neuropathischen Schmerzsyndrome empfiehlt die britische Guideline, eine Wahl aus den Wirkstoffen Amitriptylin, Duloxetin oder Gabapentin beziehungsweise Pregabalin als initiale Monotherapie zu treffen (Kasten). Ist dies nicht effektiv oder unverträglich, kann einer der drei anderen Wrikstoffe versucht werden. Bringt auch der zweite oder dritte Wirkstoff nicht den nötigen Therapieerfolg, soll wieder gewechselt werden. Eine topische Capsaicinbehandlung stellt eine Alternative bei in der Peripherie lokalisierten neuropathischen Schmerzen dar, wenn der Patient eine orale Behandlung zu vermeiden wünscht oder nicht toleriert (in der Schweiz steht dafür ein Capsaicinpflaster zur Verfügung, in Grossbritannien nur eine Capsaicincreme). Die Guideline erwähnt auch mehrere andere Therapieoptionen, rät aber von deren Einsatz ausserhalb nicht spezialisierter Zentren ab, sofern sie nicht von einem Schmerzspezialisten
verordnet wurden. Dazu gehören Cannabis-sativa-Extrakte,
verschiedene Antiepileptika sowie Opioide (ausser Tramadol
[Tramal® oder Generika] als kurzfristiges Notfallmedika-
ment).
Bei der Trigeminusneuralgie ist spezifisch Carbamazepin die
intiale Therapie der Wahl (Kasten). Ist diese Behandlung
nicht effektiv, wird sie schlecht vertragen, oder bestehen
Kontraindikationen, sollten die Patientinnen oder Patienten
einem Spezialisten vorgestellt oder an ein entsprechendes
Schmerzzentrum verwiesen werden.
Oft werden bei neuropathischen Schmerzen Kombinations-
therapien eingesetzt. Sie können den Vorteil einer besseren
Verträglichkeit bieten, da die einzelnen Wirkstoffe dann in
geringerer Dosierung angewendet werden können. Wann
Kombinations- gegenüber Monotherapien vorteilhaft sind,
und welche Kombinationen besser wirken oder besser ver-
träglich sind und wie es mit der Kosteneffektivität aussieht,
ist bis heute in Studien nicht ausreichend untersucht.
O
Halid Bas
National Institute for Health and Care Excellence (NICE): Neuropathic pain – pharmacological management of neuropathic pain in adults in non-specialist settings. NICE clinical guideline 173 (issued Novemer 2013), http://guidance.nice.org.uk/cg173.
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