Transkript
BERICHT
«Das Hirn ist kein Muskel»
Die überwiegende Mehrzahl der Sportunfälle widerfährt Amateursportlern
Sportverletzungen
Fachsymposium der SUVA , der Rehaklinik Bellikon und der Schweizerischen Gesellschaft fur Traumatologie und Versicherungsmedizin (SGTV), 28. November 2013 in Zürich
Verletzungen passieren bei Berufsund Amateursportlern teilweise aufgrund unterschiedlicher Mechanismen und bedürfen oft auch verschiedener therapeutischer Vorgehensweisen.
HALID BAS
Die Zahlen der SUVA sind eindrücklich: Ein Viertel aller Unfälle sind Sportunfälle. Pro Jahr registriert sie 1,6 Millionen Unfälle in Zusammenhang mit Sport. 1,5 Millionen entfallen dabei auf Nichtberufsunfälle. Am häufigsten kommt es beim Fussballspiel zu Unfällen, gefolgt von Ski- und Snowboardfahren. Eine deutliche Zunahme haben die Unfälle mit Mountainbikes erfahren, parallel zur Verbreitung dieser Freizeitbeschäftigung. Unterschiedlich sind die Kosten pro Unfall. Beim Fussballspielen betragen sie im Mittel 3100 Franken, bei Skiunfällen hingegen 5700 Franken. Ebenfalls unterschiedlich sind die Verletzungsmuster bei verschiedenen Sportarten und bei Profis und Amateuren. Rund 90 Prozent der Verunfallten sind Amateure. Bei rund 45 000 Fussballunfällen entstehen jährliche Kosten von rund 130 Millionen Franken, und entsprechend engagiert sich die SUVA bei Präventionskampagnen, beispielsweise bei Fussballspielenden oder bei Wintersportlern. Das mit beachtlichem Erfolg, kommt es heute bei Grümpelturnieren
doch zu deutlich weniger Unfällen, wie Dr. Walter Vogt, Facharzt für Chirurgie bei der SUVA, feststellte.
Gehirnerschütterungen sind nicht harmlos Bei Profifussballern engagiert sich die FIFA in spezifischen Präventionsprogrammen und hat sich in den letzten Jahren intensiv für eine Aufklärung über die Gefahren von Gehirnerschütterungen eingesetzt, wie Prof. Dr. Jiri Dvorak, Facharzt für Neurologie und Chefarzt der FIFA, ausführte. Eine Reglementsverschärfung (Rote Karte für Ellbogenstoss gegen den Kopf) hat zu einer messbaren Abnahme von Hirntraumata bei Profifussballern geführt. Die FIFA verlangt auch, dass Spieler selbst beim blossen Verdacht auf eine Gehirnerschütterung vom Spielfeld genommen werden – eine Empfehlung, der jedoch nicht immer und überall nachgelebt wird. Sie hat dazu eine Abklärungshilfe erarbeiten lassen (Pocket Concussion Recognition Tool™ unter www.f-marc.com) und die Empfehlung abgegeben, dass Spieler nach leichtem Hirntrauma zunächst einen Tag körperliche und geistige Ruhe einhalten und dann über insgesamt mindestens
sieben Tage einen schrittweisen Wiederaufbau der Aktivität bis hin zur Wiedereingliederung auf dem Spielfeld durchführen sollen. Zur Abklärung bei traumatischer Hirnverletzung gelte heute das Computertomogramm (CT) als Goldstandard, berichtete Prof. Dr. Pieter E. Vos, Nijmegen. Auch bei leichter traumatischer Hirnverletzung (LTHV) besteht akut das Risiko einer lebensbedrohlichen intrakraniellen Blutung. Zur Indikationsstellung für das CT sind auf Risikofaktoren (z.B. Erbrechen, initialer Glasgow Coma Score < 15, höheres Alter) basierende Tools entwickelt worden, die unnötige CT zu verhindern helfen. Nach LTHV liessen sich innert der ersten 24 Stunden deutliche neuropsychologische Defizite nachweisen, sagte Prof. Dr. Grant L. Iverson, Harvard Medical School, Boston. Die kognitiven Defizite bilden sich im Allgemeinen innert sieben Tagen zurück. Allerdings erfolgt die Erholung nach rezidivierender Gehirnerschütterung langsamer und dauert länger. Als Langzeitfolge nach traumatischer Hirnverletzung werde eine chronische traumatische Enzephalopathie (CTE) postuliert, die zwei überlappende klini- 1212 ARS MEDICI 24 I 2013 istockphoto BERICHT sche Bilder zeige, berichtete Prof. Dr. Paul McCrory, Melbourne Brain Centre, Australien. Ein Drittel der CTE-Betroffenen weist eine kognitive Beeinträchtigung auf, diese Patienten sind älter und haben einen späteren Beginn der Symptome. Zwei Drittel zeigen Stimmungs- und Verhaltenssymptome, diese Patienten sind jünger und haben einen früheren Symptombeginn. Allerdings ist bei diesen an Spielern im American Football gewonnenen Erkenntnissen nicht klar, welche Rolle einzelne oder mehrere LTHV oder leichtere Erschütterungsereignisse spielen. Sehr wichtig für persistierende Symptome nach Gehirnerschütterung seien vorbestehende psychische Störungen (Depression, Angst), betonte Prof. Dr. Jennie L. Ponsford, Neuropsychologin an der Monash University, Melbourne. Für die spätere Belastbarkeit der Patienten ist eine sorgfältige Aufklärung über die leichte traumatische Hirnverletzung ausschlaggebend. «Ein einfaches Blatt Papier allein reicht da nicht», so Ponsford. Eher zurückhaltend schätzte sie die Effizienz von kognitivem Training ein: «Das Hirn ist kein Muskel.» Schulterluxationen bei jungen Patienten operieren Beim Eishockeyspiel führe der Bodycheck zu häufigen Schulterverletzungen, erwähnte PD Dr. Hansjörg Koch, Facharzt für Orthopädische Chirurgie bei der SUVA. Eine typische Verletzungsform ist auch die Werferschulter bei sportlichen Aktivitäten mit Überkopfbewegungen. Sie ist gekennzeichnet durch eine laxe vordere Schultergelenkkapsel und eine Kontraktur der hinteren Anteile. Bei sportlichen Aktivitäten kommen auch Schulterluxationen nicht selten vor. Hier sei ein differenziertes, altersbezogenes Vorgehen sinnvoll, sagte Dr. Bernhard Waibel, Facharzt fur Orthopädische Chirurgie, Bern. Am meisten betroffen sind 20- bis 30-Jährige, und bei ihnen sind Reluxationen wesentlich häufiger als bei älteren Patienten. Nach der klassischen Ruhigstellung in Innenrotation wurde zunehmend die Ruhigstellung in Aussenrotation propagiert. Hinsichtlich der Reluxationsrate scheint die Aussenrotationsstellung jedoch keine Vorteile zu bieten, so Waibel. Bei Patienten unter 25 Jahren sprach er sich für eine operative Stabilisierung aus. Voraussetzung ist eine Bildgebung mittels Magnetresonanz (MRI) mit Darstellung der Pathologie an Gelenkpfannenrand, Kapsel und glenohumeralem Bandapparat. Heute sind die arthroskopischen Techniken den offenen zumindest ebenbürtig. Die proximale Humerusfraktur kann zu 80 Prozent konservativ behandelt werden, wenn keine Varus- oder Valgusfehlstellungen zu befürchten sind und die Fraktur eingestaucht ist. Bei Dislokationen und Zusatzverletzungen (Gefässe, Nerven) ist jedoch die Operationsindikation gegeben, betonte Dr. Ives P. Acklin, Chirurgie Kantonsspital Graubünden, Chur. Bänderläsionen am Kniegelenk müssen nicht immer operiert werden Von Rissen des vorderen Kreuzbandes im Knie sind Profiskifahrerinnen und fahrer häufig betroffen. Das geschehe oft durch Valgisierung ohne Sturzereignis, weshalb die Bindungen hier kaum präventiv wirken könnten, erwähnte Dr. rer. nat. Jörg Spörri, Universität Salzburg. Die FIS hat entsprechenden Forschungsergebnissen mit einer Reglementsänderung Rechnung getragen. Heute sind die Rennskis weniger tailliert, länger und schmäler. Bei Kreuzbandverletzungen konkurrieren verschiedene Therapieansätze. «Nicht mehr als 60 Prozent der Patienten werden mit einer Kreuzbandrekonstruktion eine vollständig Heilung erfahren, und das muss man den Patienten auch sagen», erklärte Prof. Dr. Stefan Eggli, Facharzt fur Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungspparats, Klinik Sonnenhof, Bern. Als noch neuen, aber vielversprechenden Mittelweg zwischen konservativem Vorgehen und Kreuzbandersatz propagierte er die dynamische intraligamentäre Stabilisierung (DIS), die mittels des Implantats Ligamys® ein Wiederzusammenwachsen des gerissenen Ligaments erlaubt. «Heute wollen wieder mehr Patienten ihr eigenes Kreuzband behalten», so Eggli. Bei Tibiaplateaufrakturen, die sehr oft mit zusätzlichen Läsionen (Menisken, Kreuzbänder) einhergingen, sei das CT der diagnostische Goldstandard, sagt Dr. Björn Zappe, Oberarzt Traumatologie, Universitätsspital Basel. Bei der osteosynthetischen Versorgung ist auto- genem Knochen und Kalziumphosphatzement der Vorzug zu geben. Sehr wichtig für die spätere Funktionalität ist die Erhaltung des lateralen Meniskus. Viele Verletzungen im Bereich des Kniegelenks könnten konservativ behandelt werden, erwähnte Dr. Hannabeth Brühlmann, Sportärztin an der SportClinic Zürich. Dazu gehören Läsionen des vorderen Kreuzbandes bei Personen im mittlerem Alter ohne besonderen sportlichen Anspruch, ferner mediale Seitenbandrupturen und die erstmalige Dislokation der Patella ohne Ruptur des medialen patellofemoralen Ligaments oder des osteochondralen Fragments. Der Verlauf nach Bandläsionen folgt gesetzmässigen Stadien (Inflammation 5–7 Tage, Reparation 2–5 Wochen, Remodelling 2–12 Monate). Im Rahmen der Physiotherapie muss stadiengerecht vorgegangen werden. Da immer auch eine Schädigung der Propriozeption erfolgt ist, muss diese gezielt trainiert werden. Neben Krafttraining und Stretching zur Vorbeugung muskulärer Imbalancen muss immer auch ein zentrales Stabilitätstraining erfolgen. Viele Sportler haben Rückenweh Zwischen 3 und 30 Prozent aller Sport- verletzungen betreffen die Wirbelsäule. Von den Rückenmarksverletzungen haben 8,7 Prozent ihre Ursache im Sport. Viele Sportler (Fussball, Reiten, Kunstturnen usw.) haben chronische Rückenschmerzen. Chronische Schädi- gungen durch Überlastung oder repeti- tive Mikrotraumata betreffen vor allem die lumbale Wirbelsäule, akute Verlet- zungen durch massives Trauma sowohl Hals- wie Lendenwirbelsäule. Spondylolysen werden im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung bei Wurfsport- lern, Kunstturnern und Ruderern ge- häuft beobachtet. Für Patienten mit Para- oder Tetraple- gie sei es wichtig «den Körper gernzu- haben», sagte der erfolgreiche Roll- stuhlsportler Heinz Frei. Diese positive Haltung verhüte auch Komplikationen wie Dekubitus, bestätigte Dr. Patrick Moulin, Chefarzt Wirbelsäulenchirur- gie und Orthopädie, Paraplegikerzen- trum Nottwil. O Halid Bas 1214 ARS MEDICI 24 I 2013