Transkript
Subklinische Schilddrüsenfunktionsstörungen
Die Diskussion um Therapiebedürftigkeit und Grenzwerte geht weiter
BERICHT
Immunologische Testverfahren
für TSH, T3 und T4 ermöglichen
die Diagnose einer subklinischen
Schilddrüsenfunktionsstörung.
Doch ab wann und bei wem sollte
man eine Therapie beginnen?
RENATE BONIFER
Die Prävalenz subklinischer Schilddrüsenfunktionsstörungen werde je nach Studie mit 1,5 bis 5,9 Prozent für die Hyper- und 2,9 bis 16 Prozent für die Hypothyreose angegeben, sagte Dr. Brigitte Velkeniers, Freie Universität Brüssel, am Euromedlab-Kongress in Mailand (1). Definiert ist die subklinische Funktionsstörung durch ein zu tiefes oder zu hohes Serum-TSH (Thyreoideastimulierendes Hormon: Thyreotropin) bei normalen Werten für freies T3 (Trijodthyronin) und T4 (Thyroxin) (s. Tabelle). Die Behandlungsbedürftigkeit bei subklinischer Hypo- oder Hyperthyreose ist umstritten, zumal diese keineswegs immer Vorboten einer sich noch entwickelnden Schilddrüsenerkrankung sind.
Vor Therapiebeginn mehrmals messen und regelmässig kontrollieren Auf alle Fälle kein Grund für Interventionen sei ein einmalig gemessener kritischer Wert, sagte Velekniers, weil spontane, vorübergehende Schwankungen vorkommen können und sich das TSH in vielen Fällen von selbst wieder normalisiert (Abbildung). Wie gross die Chance für die spontane Rückkehr auf Normalwerte ist, hängt von der zugrunde liegenden Erkrankung und dem TSH-Wert ab. So ist eine spontane Normalisierung bei einer schweren subklinischen Hyperthyreose (TSH < 0,1 mU/l) eher unwahrscheinlich (ca. 1 von 10), bei einer leichten Ausprägung (TSH 0,1–0,4 mU/l) jedoch durchaus möglich (ca. 7 von 10). In der Praxis scheinen allerdings viele Patienten mit subklinischer Hypothyreose nach nur einer Messung eines kritischen TSH-Werts bereits mit Levothyroxin behandelt zu werden. Dies ergab eine kürzlich publizierte Studie in Grossbritannien (2). Das Team um Dr. Peter Taylor, University School of Medicine in Cardiff, sichtete die Daten von 52 298 Personen, denen zwischen 2001 und 2009 erstmals Levothyroxin wegen subklinischer Hypothyreose Tabelle: Definition der subklinischen Hypo-/Hyperthyreose Subklinische Hypothyreose Subklinische Hyperthyreose TSH 4,5–9 mU/l TSH ≥ 10 mU/l T3 und T4 normal TSH 0,1–0,4 mU/l TSH < 0,1 mU/l T3 und T4 normal (leichte subkl. Hypothyreose) (schwere subkl. Hypothyreose) (Grad I) (Grad II) TSH: Thyreoidea-stimulierendes Hormon; T3: freies Trijodthyronin; T4: freies Thyroxin verordnet wurde (Schwangere ausgenommen). Es zeigte sich, dass der Erstverordnung bei gut einem Drittel der Patienten nur eine einzige Messung zugrunde lag. Dies sei umso bedenklicher, weil eine Levothyroxinverordnung im weiteren Verlauf kaum je infrage gestellt würde: 90 Prozent derjenigen, denen seit 2001 Levothyroxin verordnet worden war, hatten das Medikament auch 2009 noch. Subklinische Hypothyreose Brigitte Velkeniers warnte vor allzu gewagten Schlussfolgerungen bezüglich der subklinischen Hypothyreose als Risikofaktor. Da es sich bei den publizierten Daten durchweg um retrospektive Beobachtungen und nicht um angemessen gepowerte randomisierte Therapiestudien handle, sei es alles andere als sicher, dass eine Behandlung die mit einer subklinischen Hypothyreose assoziierten Risiken tatsächlich mindern würde. In einem Fall sei man sich allerdings einig: Subklinische Hypothyreose bei Schwangeren beziehungsweise Frauen, die schwanger werden wollen, ist behandlungsbedürftig. Weniger klar ist der Zusammenhang mit kardiovaskulären Risiken. Eine schwere subklinische Hypothyreose (TSH ≥10 mU/l) geht mit einem höheren Risiko für ischämische kardiovaskuläre Ereignisse und Herzinsuffizienz einher. Es gebe aber keine Studien, die eine Ursache-Wirkungs-Beziehung klar belegen beziehungweise beweisen könnten, dass die Substitution mit Levothyroxin in dieser Indikation tatsächlich sinnvoll wäre, sagte Velkeniers. In einer Übersichtsarbeit in der Zeitschrift «Lancet» wurden letztes Jahr die zurzeit gängigen Empfehlungen für die Indikation zur Levothyroxinsubstitution bei subklinischer Hypothyreose ARS MEDICI 23 I 2013 1165 BERICHT A B Abbildung: Entwicklung, Progression oder Normalisierung bei subklinischer Hypo- (A) oder Hyperthyreose (B) (nach [3]); TSH: Thyreoidea-stimulierendes Hormon; T3: freies Trijodthyronin; T4: freies Thyroxin. wie folgt formuliert (3): Eine Substitution mit Levothyroxin (Eltroxin®-LF, Euthyrox®, Tirosint®) ist bei einem Serum-TSH ≥ 10 mU/l sinnvoll (Zielwert 0,5–2,5 mU/l für junge Patienten und Patienten mittleren Alters, ggf. höher [4–6 mU/l] bei älteren Patienten). Auch bei einem Serum-TSH 5–9 mU/l kann man sie erwägen, sofern seit Kurzem Symptome bestehen oder Struma, positive antithyroidale Antikörper, Dyslipidämie oder andere kardiovaskuläre Risikofaktoren vorhanden sind sowie bei Schwangerschaft oder Kinderwunsch; Patienten über 85 Jahre mit einem Serum-TSH 5–9 mU/l sollten nicht behandelt werden; bei Patienten über 65 Jahre gilt ein TSH-Ziel bis 7 mU/l. Eine Therapie kommt bei einem THS 5–9 mU/l auch dann infrage, wenn der TSH-Wert stetig ansteigt (mehrfach messen!). Während Labormediziner und Endokrinologen noch darüber diskutieren, ob und wann man bei einer subklinischen Hypothyreose therapieren sollte, wird dies in der Hausarztpraxis immer häufiger gemacht, zumindest in Grossbritannien und den USA (2). Auffällig sei, dass diese Therapie nicht selten bereits bei TSH-Werten unter 10 mU/l verordnet werde, obwohl keine zusätzlichen Voraussetzungen gegeben seien, wie kardiovaskuläre Risikofaktoren oder klassische Symptome einer Schilddrüsenunterfunktion, schreiben Taylor und seine Co-Autoren. Sie warnen vor einer Übertherapie sowie dem Risiko der Induktion einer subklinischen Hyperthyreose und den damit verbundenen Risiken. Sie fanden in ihrer Studie nach 5 Jahren bei 10,2 Prozent der Patienten unter Levothyroxin einen niedrigen Thyroxinspiegel unter 0,5 mU/l und bei 5,8 Prozent der Patienten einen sehr niedrigen von 0,1 mU/l. Subklinische Hyperthyreose Für Personen mit subklinischer Hyperthyreose gibt es noch gar keine klaren Empfehlungen für eine therapeutische Intervention, zumal diese mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden ist (Thyreostatika) oder die Schilddrüse irreversibel schädigen kann (Radioiod). Eine subklinische Hyperthyreose kann viele Ursachen haben. Dazu gehört zum Beispiel die oben erwähnte Levothyroxintherapie, Morbus Basedow, solitäre autonome Adenome, Knotenstruma, Mutationen oder Thyroiditis de Quervain. Eine subklinische Hyperthyreose muss überdies nicht zwingend etwas mit der Schilddrüse zu tun haben. Niedrige TSH-Werte misst man auch in der Schwangerschaft am Ende des dritten Trimesters, im Zusammenhang mit schweren Erkrankungen unter hoch dosierter Glukokortikoid- oder Dopamintherapie, und sie kommen auch bei einigen älteren Personen und Rauchern vor. Drei im letzten Jahr publizierte Metaanalysen dokumentieren zwar eine Assoziation von subklinischer Hyperthyreose mit einem erhöhten Risiko für Arrhythmien, Vorhofflimmern und Herzinsuffizienz, aber ob eine Behandlung tatsächlich etwas bringen würde, ist mangels randomisierter Therapiestudien noch offen. Auch eine niedrigere Knochendichte wird mit der subklinischen Hyperthyreose in Verbindung gebracht, aber die Daten zum Frakturrisiko seien spärlich und widersprüchlich, so Velkeniers. O Renate Bonifer 1. Vortrag von Dr. Brigitte Velkeniers: Subclinical thyroid disorders: Is it clinically important? Symposium «Contemporary issues in thyroid disease» am Euromedlab-Kongress in Mailand, 19.–23. Mai 2013. 2. Taylor PN et al.: Falling thresholds for treatment of borderline elevated thyrotropin levels – balancing benefits and risks. Evidence from a large communitybased study. JAMA Intern Med 2013; published online October 7, 2013. 3. Cooper DS, Biondi B: Subclinical thyroid disease. Lancet 2012; 379:1142–1154. 1166 ARS MEDICI 23 I 2013