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STUDIE REFERIERT
Übelkeit und Erbrechen in der Palliativmedizin
Für welche antiemetische Therapie besteht die beste Evidenz?
Die erfolgreiche Behandlung von Übelkeit und Erbrechen ist für die Lebensqualität von Palliativpatienten von enormer Bedeutung. Leitlinien zur antiemetischen Behandlung onkologischer Patienten sind speziell gegen Nausea und Emesis bei Chemo- oder Strahlentherapie konzipiert. Die Datenlage zur evidenzbasierten Therapie von Übelkeit und Erbrechen bei Patienten mit terminaler Herzinsuffizienz, COPD oder chronisch-progredienten neurologischen Erkrankungen ist hingegen mager.
Merksätze
O Übelkeit und Erbrechen sind häufige Symptome bei Palliativpatienten.
O Eine wirksame antiemetische Therapie verbessert die Lebensqualität und vermindert somatische, psychische und soziale Auswirkungen.
O 5-HT3-Antagonisten können bei Palliativpatienten eingesetzt werden, wenn diese nicht auf Prokinetika (z.B. Metoclopramid) oder Neuroleptika (z.B. Haloperidol) ansprechen.
O Kortikosteroide potenzieren die Wirkung anderer Antiemetika (möglicher Synergismus?).
O Octreotid ist bei durch gastrointestinale Obstruktion bedingter Übelkeit wirksam, als Alternative kommt Butylscopolamin infrage.
O Cannabinoide sind aufgrund unerwünschter Nebenwirkungen als Reservemittel einzustufen.
O Für Antihistaminika und Benzodiazepine gibt es in dieser Indikation nicht genügend Evidenz.
DER SCHMERZ
Die Auswertung einer systematischen Literaturrecherche durch Wissenschaftler der Universität Göttingen soll nun als Grundlage für die Entwicklung von Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft im Bereich Palliativmedizin dienen. In die Übersichtsarbeit flossen Ergebnisse von zwischen 1966 und 2011 in deutscher oder englischer Sprache veröffentlichten Studien bei Patienten ein, die an einer fortschreitenden unheilbaren Krankheit litten und bei denen Übelkeit und Erbrechen als zu behandelnde Symptome definiert waren. Nicht berücksichtigt wurden Studien bei Krebspatienten, die postoperativ oder im Rahmen einer Chemo- oder Strahlentherapie an Übelkeit und Erbrechen litten. Der vorliegende Review eruiert die aktuelle Studienlage zur antiemetischen Therapie und befasst sich speziell mit der Evidenz zur Wirksamkeit von 5-HT3-Antagonisten, Steroiden, Antihistaminika, Anticholinergika, Somatostatinanaloga, Benzodiazepinen und Cannabinoiden bei Patienten ohne vorausgegangene onkologische Therapien. Ein separates Paper bewertet den Einsatz von Neuroleptika und Prokinetika bei diesem Patientenkollektiv.
Methodik/Ergebnisse Insgesamt fanden sich 75 Studien, die die Einschlusskriterien erfüllten, 36 davon waren im Hinblick auf die zu bewertenden Substanzklassen relevant. Davon untersuchten 13 Studien 5-HT3Antagonisten, 10 Somatostatinanaloga, 9 Steroide, 4 Anticholinergika, 5 Cannabinoide und 1 Studie Antihistaminika; Benzodiazepine fanden keine Beachtung. Darüber hinaus fanden sich
6 systematische Reviews. Die Betrachtung der Substanzgruppen in den verschiedenen Studien resultierte in einem Grad der Empfehlung und der Evidenz. Insgesamt wurde die Evidenzlage für alle als Antiemetikum verwendeten Medikamente als gering eingestuft. Die Bewertung für die meisten untersuchten Substanzen liegt im Bereich von 2B (schwache Empfehlung/moderate Evidenz) bis zu 2C (schwache Empfehlung/schlechte Evidenz). Einen 1B-Grad (starke Empfehlung/ moderate Evidenz) erzielen zwar sowohl das Somatostatinanalogon Octreotid als auch Anticholinergika (Butylscopolamin); allerdings ist die Wirksamkeit dieser Substanzen speziell bei Übelkeit und Erbrechen auf dem Boden maligner gastrointestinaler Obstruktion belegt.
Setrone Erbrechen ist ein komplexer polysynaptischer viszerosomatischer Reflex, dessen Steuerung dem in der Medulla oblongata gelegenen «central pattern generator» unterliegt. Dieser erhält Afferenzen aus dem Kortex, dem Vestibularapparat, der Chemorezeptortriggerzone in der Area postrema sowie aus dem oberen Magen-Darm-Trakt mit Serotonin als Neurotransmitter. 5-HT3Antagonisten, sogenannte Setrone, blockieren die Serotoninrezeptoren vagaler Nervenfasern im Gastrointestinaltrakt sowie in der Chemorezeptortriggerzone und der Medulla oblongata. Vertreter der Substanzklasse der 5-HT3-Antagonisten sind Ondansetron, Granisetron und Tropisetron. Die Autoren schreiben: «Bezüglich 5-HT3-Antagonisten reichen die Daten bei Aids und MS aufgrund zu kleiner Patientenzahlen nicht für eine Empfehlung aus. Bei Krebspatienten gibt es widersprüchliche Studienergebnisse, wobei in den grösseren Studien eine gute Wirkung von 5-HT3-Antagonisten und sogar eine Überlegenheit gegenüber Metoclopramid, Dexamethason und Neuroleptika bei Palliativpatienten beschrieben wurde.» In Studien bei refraktärer Übelkeit im Rahmen neurologischer Erkrankungen verbesserte Ondansetron die Symptome, wegen der sehr geringen Fallzahl könne eine Empfehlung für diesen Kontext jedoch nur bedingt ausgesprochen werden.
ARS MEDICI 21 I 2013 1085
STUDIE REFERIERT
Kasten:
Stellenwert der untersuchten antiemetisch wirkenden Substanzgruppen
5-HT3-Antagonisten
widersprüchliche Daten; Empfehlung bei Krebspatienten, die nicht auf Metoclopramid ansprechen
Steroide
wirksam in Kombination mit anderen Antiemetika
Antihistaminika
Datenlage reicht für eine Bewertung nicht aus
Anticholinergika (Butylscopolamin) wirksam bei gastrointestinaler Obstruktion
Somatostatinantagonisten (Octreotid) wirksam bei gastrointestinaler Obstruktion
Benzodiazepine
Datenlage reicht für eine Bewertung nicht aus
Cannabinoide (Dronabinol, Nabilon)
Reservemittel, da häufig mit unerwünschten Nebenwirkungen wie Schwindel, Dysphorie, Halluzinationen verbunden
Steroide Der genaue Wirkmechanismus von Steroiden bei Übelkeit und Erbrechen ist nicht bekannt. Postulierte Mechanismen sind antiinflammatorische und antisekretorische Wirkungen sowie die Reduktion der Permeabilität für emetogene Substanzen in der Area postrema und der Blut-Hirn-Schranke. Steroidale antiinflammatorische Substanzen reduzieren zudem die Synthese und Ausschüttung von Prostaglandinen und Serotonin. Die Studienlage zur Wirksamkeit von Steroiden sei heterogen, zeige aber einen positiven Trend in Bezug auf Krebspatienten. Unter einer Kombination von Kortikosteroiden mit 5-HT3-Antagonisten und Metoclopramid lassen sich Symptome bei einem höheren Prozentsatz von Patienten in den Griff bekommen als unter der alleinigen Kombination eines 5-HT3-Antagonisten mit einem Dopaminantagonisten.
Ursache berücksichtigen Auch in der symptomatischen palliativen Therapie ist es sinnvoll, sich – falls möglich – an den kausalen Mechanismen zu orientieren. Dabei macht es einen Unterschied, ob die Symptome in einer Gastrostase, einer Opiattherapie oder in einer malignen gastrointestinalen Obstruktion begründet sind. Letztere spricht gut auf Octreotid an, ein synthetisches Somatostatinanalogon. Octreotid hemmt die überschiessende Hormonsekretion im Magen-DarmTrakt und reduziert so Gallenfluss, Blutfluss im Splanchnikusgebiet sowie die Sekretion des Magens und des Pankreas und verlangsamt die intestinale
Motilität. Eine Reduktion der gastrointestinalen Sekretion lässt sich auch mit Butylscopolamin erreichen; dieses wirkt zudem spasmolytisch auf die glatte Muskulatur. Dopamin spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in der Physiologie der Übelkeit: Die Chemorezeptortriggerzone ist ein dopaminrezeptorreicher Bereich im Gehirn; Dopamin und der Dopaminagonist Apomorphin stellen starke Reize für die Chemorezeptortriggerzone dar. Im Fall der opioidinduzierten Übelkeit scheint der Dopaminantagonist Metoclopramid einer Therapie mit 5-HT3-Antagonisten überlegen zu sein.
Cannabinoide als Reserveantiemetika Cannabinoide entfalten ihre antiemetische Wirkung über Cannabinoidrezeptoren im Nucleus tractus solitarius. Zur Verfügung stehen das aus der indischen Hanfpflanze extrahierte Tetrahydrocannabinol (THC) Dronabinol oder das synthetische THC-Analogon Nabilon. In den meisten Studien wurde unter der Cannabinoidmedikation über deutlich mehr oder stärkere Nebenwirkungen gegenüber der Vergleichsmedikation berichtet. In den Studien zum Einsatz von Cannabinoiden bei Übelkeit und Erbrechen wurden diese Substanzen jedoch nicht mit Serotoninantagonisten verglichen. Bei einigen Studien nach Chemotherapie oder Strahlentherapie brachen Patienten wegen Nebenwirkungen häufiger die Cannabinoidmedikation ab. Häufigkeit und Stärke der Nebenwirkungen sprechen gegen einen Einsatz als Antiemetikum der ersten Wahl. Zu diesen
unerwünschten Wirkungen gehören Schwindel, Verwirrtheit, Sedierung, Dysphorie und Halluzinationen. Cannabinoide wurden in der Symptomkontrolle von Übelkeit und Erbrechen bei Patienten mit Krebs und Aids für wirksam befunden, wobei auch hier die Nebenwirkungen beachtenswert sind und die Studien Cannabinoide lediglich mit älteren Antiemetika verglichen, statt mit 5-HT3-Antagonisten. In Bezug auf die Symptomkontrolle von Übelkeit und Erbrechen bei Patienten mit COPD, Herzinsuffizienz und neurologischen Erkrankungen wurden keine Studien für Palliativpatienten gefunden. Fazit: Für Patienten, die mit herkömmlichen Antiemetika nicht ausreichend behandelt werden können, stellen Cannabinoide eine Ergänzung der antiemetischen Behandlung dar.
Substanz P hemmen:
Neurokinin-1-(NK1-)Antagonisten
Eine effektive Substanzklasse, die nicht
im Review berücksichtigt wurde, stel-
len die sogenannten Neurokinin-1-
(NK1-)Antagonisten dar. Ein Vertreter,
Aprepitant, verhindert als Antagonist
die Bindung des Liganden Substanz P
an den NK1-Rezeptor in der Area
postrema, sodass es hier nicht zu
einer Entwicklung von Brechreiz
kommt. Der Wirkstoff erzielt in Kom-
bination mit einem 5-HT3-Antagonis-
ten und Dexamethason eine gute
Symptomkontrolle bei Patienten unter
Chemotherapie.
O
Anka Stegmeier-Petroianu
Benze G. et al.: Treatment of nausea and vomiting with 5HT3 receptor antagonists, steroids, antihistamines, anticholinergics, somatostatinantagonists, benzodiazepines and cannabinoids in palliative care patients: a systematic review. Schmerz 2012; 26(5): 481–499.
Interessenkonflikte: keine deklariert
1086 ARS MEDICI 21 I 2013