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FORTBILDUNG
Knochengesundheit und Frakturrisiko bei Parkinson und MS
Neurologische Erkrankungen sind mit einem signifikant erhöhten Osteoporoserisiko verbunden. In einem Review haben britische Wissenschaftler den Kenntnisstand zur Knochengesundheit und zum Frakturrisiko bei multipler Sklerose und Parkinson zusammengefasst und empfehlen Strategien zur Evaluierung und für das Management.
PRACTICAL NEUROLOGY
Die Osteoporose gehört zu den Hauptrisikofaktoren für Fragilitätsfrakturen, und Knochenbrüche infolge von Osteoporose zählen zu den Hauptursachen von Morbidität und Mortalität. Hüftfrakturen sind für mehr Sterbefälle und Behinderungen verantwortlich als alle anderen osteoporosebedingten Frakturen zusammengenommen, und nach einer Femurfraktur beträgt die Mortalitätsrate innerhalb eines Jahres bis zu 30 Prozent. Neurologische Erkrankungen und ihre Behandlung mit Medikamenten wie Langzeitkortikosteroiden oder Antikonvulsiva stehen mit der Entwicklung von Osteoporose in Zusammenhang. Dennoch gehört die Evaluierung der Knochengesundheit nicht zur Routine in der neurologischen Alltagspraxis. In der Global Longitudinal Study of Osteoporosis in Women (GLOW) waren die beiden neurologischen Erkrankungen multiple Sklerose (MS) und Parkinson mit einem signifikant erhöhten Osteoporoserisiko verbunden. Der Review fokussiert sich daher auf die Knochengesundheit und das Frakturrisiko bei MS- und Parkinson-Patienten.
Merksätze
O Multiple Sklerose (MS) und Parkinson sind mit einem erhöhten Risiko für Osteoporose verbunden.
O Stürze und eine verminderte Knochendichte tragen bei MS- und Parkinson-Patienten zur Erhöhung des Frakturrisikos bei.
O Das Management der Patienten sollte eine regelmässige Evaluierung der Knochengesundheit umfassen.
O Die Behandlung der Osteoporose wird entsprechend regionaler Richtlinien vorgenommen.
Die Optionen zur Behandlung der Osteoporose reichen von Änderungen des Lebensstils wie dem Einstellen des Rauchens bis zu pharmakologischen Interventionen. Zu den medikamentösen Optionen gehören Vitamin-D- und Kalziumsupplemente, Bisphosphonate wie Alendronsäure (Fosamax® und Generika), Risedronsäure (Actonel® und Generika) und Eitidronat (Didronel®, nicht mehr im Handel), Strontiumranelat (nicht im AK der Schweiz), Raloxifen (Evista®), Östrogen- oder Testosteronsupplemente sowie der neue RANKL-Inhibitor Denosumab (Prolia®, XGeva®). Zum Osteoporoserisiko tragen zahlreiche Variablen wie Alter, Geschlecht, Körpergrösse, Rasse, Raucherstatus, Vitamin-D-Mangel, Alkoholkonsum und die familiäre Vorgeschichte bei. Vitamin-D-Mangel ist vermutlich aufgrund eines kompensatorischen oder sekundären Hyperparathyroidismus, der zu einer vermehrten Knochenresorption führt, mit einer verminderten Knochendichte assoziiert. Zur Abschätzung des Frakturrisikos ist eine Sturzevaluierung unerlässlich, denn 5 Prozent aller Stürze resultieren in einer Fraktur, und bei 20 Prozent aller Stürze ist eine medizinische Behandlung erforderlich. Zudem ereignen sich 90 Prozent aller Frakturen infolge eines Sturzes. Für die Einschätzung des Frakturrisikos stehen Instrumente wie das WHO-FRAXTool oder der QFracture-Algorithmus von 2009 und dessen überarbeitete Version von 2012 zur Verfügung. Ein MS-spezifischer Risikokalkulator wird derzeit erarbeitet.
Knochengesundheit und multiple Sklerose Bei MS-Patienten ist das Osteoporoserisiko aus vielerlei Gründen erhöht. Zum einen stehen Faktoren, die das Risiko für die Entwicklung einer MS-Erkrankung erhöhen, wie Vitamin-D-Mangel und Rauchen, auch mit der Entwicklung von Osteoporose in Zusammenhang. Nach der MS-Diagnose kommen dann weitere Faktoren hinzu, die das individuelle Risiko für Osteopenie und Osteoporose steigern können. So verbessert körperliche Aktivität die Knochengesundheit, während MS-bedingte körperliche Behinderungen und Fatigue die Knochengesundheit ungünstig beeinflussen. Zudem können hoch dosierte Kortikosteroide zur Behandlung eines Schubes und die Anwendung von Antikonvulsiva möglicherweise die mineralische Knochendichte vermindern. Obwohl bis anhin kein kausaler Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Mangel und MS nachgewiesen wurde, liegt dazu eine beträchtliche Indizienevidenz vor. Die MS weist einen starken latitudinalen Gradienten auf, und die Prävalenz spiegelt die Exposition gegenüber ultravioletter Strahlung wider.
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FORTBILDUNG
alle 2 Jahre
Multiple Sklerose/Parkinson
jährlich
geringes Risiko
Abschätzung des Sturzrisikos
geringes Risiko
Abschätzung des Frakturrisikos
mittleres/hohes Risiko
mittleres/hohes Risiko
Massnahmen zur Sturzreduzierung • Evaluierung der Wohnung • gezielte Physiotherapie • visuelle Beurteilung und Behandlung • Schulung zur Sturzprophylaxe • Management von Komorbiditäten • Überprüfung der Medikation
Untersuchungen bezüglich sekundärer Ursachen von Osteoporose • Vitamin-D-Spiegel • Prüfung der Schilddrüsenfunktion • Prüfung der Leber- und Nierenfunktion
alle 2 Jahre
DXA-Knochendichtemessung
Änderungen des Lebensstils • Ernährung • Einstellung des Rauchens • Alkohol • Bewegung
T-Score -1 bis -2,5 Osteopenie
mineralische Knochendichte
Behandlung der Osteoporose entsprechend regionalen Richtlinien
T-Score < -2,5 Osteoporose
T-Score > -1 keine Osteopenie
T-Score: Anzahl der Standardabweichungen, in denen sich die Knochendichte einer Person von den Durchschnittswerten für gesunde junge Erwachsene unterscheidet; DXA: «dual-energy X-ray absorptiometry», misst die Knochendichte pro Flächeneinheit.
Abbildung: Empfehlungen für das Management der Knochengesundheit bei MS und Parkinson (nach Dobson et al.)
Personen, die im Frühling geboren wurden – und bei deren Müttern daher ein niedriger Vitamin-D-Wert während der Schwangerschaft im Winter vorlag –, haben ein signifikant erhöhtes MS-Risiko. Zudem wurde bei Personen mit einem Serum-Vitamin-D-Wert im höchsten Quintilbereich ein relatives Risiko von 0,38 im Vergleich zu denen mit einem Wert im niedrigsten Quintil beobachtet. Stürze gehören zu den häufigsten Symptomen bei MS-Patienten. Bei etwa 60 Prozent der Patienten kommt es innerhalb von 6 Monaten zu einem oder mehreren Stürzen, von denen wiederum 60 Prozent mit einer Verletzung verbunden sind. Nebenwirkungen von Medikamenten wie Benzodiazepinen, Antikonvulsiva und Antidepressiva erhöhen das Sturzrisiko zusätzlich.
Osteopenie und Osteoporose werden bei MS-Patienten häufiger am Oberschenkelhals als an der Wirbelsäule diagnostiziert, was vermutlich auf die Immobilität zurückzuführen ist. Der Verlust der Knochendichte scheint relativ früh im Krankheitsverlauf einzusetzen, denn sogar ambulante MS-Patienten weisen eine signifikant geringere Knochendichte auf als gesunde Kontrollpersonen. In einigen Studien wurde kein erhöhtes Frakturrisiko in Zusammenhang mit der MS beobachtet, während in anderen eine Erhöhung des Risikos für alle Arten von Frakturen bis zu 1,99 beobachtet wurde. Aus der Literatur geht hervor, dass die Raten an Hüftfrakturen bei MS-Patienten mit einer Hazard Ratio von 1,9 bis 4,08 erhöht sind. Dies stimmt mit Ergebnissen der GLOW-Studie überein, in der das Risiko für
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Hüftfrakturen bei Frauen bei 1,7 (96%-Konfidenzintervall [KI]: 1,2–2,6) lag. Bis anhin existieren keine Veröffentlichungen zur Primärprävention von Osteoporose und osteoporosebedingten Frakturen bei MS-Patienten.
Knochengesundheit, Parkinson und atypischer Parkinsonismus Bei Morbus Parkinson handelt es sich um eine klinische Diagnose. Die motorischen Charakteristika verändern sich progressiv, und die Häufigkeit der Stürze nimmt mit der Dauer der Erkrankung zu. Stürze sind bei einem frühen idiopathischen Parkinson selten und werden in diesem Zusammenhang als rote/gelbe Flagge für atypische Parkinsonsyndrome wie die multiple Systematrophie betrachtet. Während eine symptomatische Behandlung Bradykinesie, Rigidität und Tremor mit unterschiedlicher Wirksamkeit verbessern kann, hat der Dopaminersatz einen sehr viel geringeren Effekt auf die posturale Instabilität und die Sturzneigung. Physiotherapie kann mit einem Nutzen zur Sturzprophylaxe verbunden sein, hierzu gibt es jedoch keine hochwertigen Studien. Bis zu 50 Prozent der Parkinson-Patienten stürzen mehrmals innerhalb von 3 Monaten. In einer Studie zählten folgende Kriterien zu den Risikofaktoren für Stürze: O höheres Lebensalter O Krankheitsdauer O Schwere der Erkrankung O klinische Charakteristika (z.B. Bradykinesie, Rigidität,
posturale Instabilität und die Unfähigkeit, vom Stuhl aufzustehen).
In der GLOW-Studie war Parkinson mit der ausgeprägtesten Frakturinzidenz im Vergleich zu allen anderen Faktoren verbunden. Zu den Faktoren für das erhöhte Sturzrisiko bei Parkinson gehören zudem eine beeinträchtigte Kognition und autonome Dysfunktionen wie die orthostatische Hypotonie oder imperativer Harndrang. Die Demenz ist bei Parkinson ein unabhängiger Risikofaktor für Stürze und Frakturen. Die höhere Sturztendenz erklärt das erhöhte Frakturrisiko bei Parkinson-Patienten jedoch nicht vollständig. Hinzu kommt, dass die Parkinson-Erkrankung eine sekundäre Ursache für eine verminderte Knochendichte darstellt. Ähnlich wie bei der MS liegen auch bei Parkinson-Patienten niedrigere Vitamin-D-Spiegel vor, und in einer longitudinalen Kohortenstudie waren höhere Serumwerte mit einem geringeren Risiko für die Entwicklung von Parkinson verbunden. Zudem wird bei Parkinson ebenfalls ein latidudinaler Gradient der Prävalenz beobachtet, und somit besteht möglicherweise auch ein höheres Parkinson-Risiko für Personen, die im Frühling geboren wurden. Eine Mangelernährung infolge von Dysphagie, Übelkeit und/oder Depression kann den Body-Mass-Index (BMI) verringern, was das Risiko für Osteoporose erhöht. Eine Behandlung mit Levodopa (Sinemet CR® und Generika) erhöht das Frakturrisiko möglicherweise
ebenfalls. Zudem steht die Parkinson-bedingte Immobilität auch mit der Entwicklung von Osteoporose in Verbindung.
Diskussion
MS und Parkinson sind signifikante Risikofaktoren für
Stürze, Osteopenie, Osteoporose und Frakturen. Die redu-
zierte mineralische Knochendichte ist bei neurologischen
Erkrankungen multifaktoriell bedingt und erfordert daher
eine entsprechende Herangehensweise. Eine aktive Präven-
tion von Immobilität und Stürzen sowie andere Strategien
zur Primärprävention sind hier von grosser Bedeutung.
Derzeit existieren keine evidenzbasierten Richtlinien zur
Evaluierung und Behandlung einer niedrigen mineralischen
Knochendichte bei neurologischen Erkrankungen. Die Auto-
ren sind jedoch der Meinung, dass Interventionen zur
Optimierung der Knochendichte entsprechend einem struk-
turierten Vorgehen durchgeführt werden sollten, das auf der
verfügbaren Evidenz basiert und den Erfordernissen neuro-
logischer Erkrankungen angepasst wurde (Abbildung).
Die Autoren raten dazu, die Vitamin-D-Spiegel bei allen
MS-Patienten sowie bei Parkinson-Patienten mit zusätz-
lichen Risikofaktoren für eine Osteoporose zu überprüfen.
Die UK National Osteoporosis Society empfiehlt, die Serum-
spiegel nur bei Patienten mit Knochenerkrankungen und
muskuloskeletalen Symptomen aufgrund von Vitamin-D-
Mangel routinemässig zu überprüfen. Diese Symptome über-
schneiden sich jedoch mit denen der MS. Ein Vitamin-D-
Mangel sollte nach Ansicht der Autoren immer behandelt
werden. In neuen europäischen Richtlinien wird eine tägliche
Applikation von 100 µg/Tag (4000 IU) empfohlen. Auch die
Schilddrüsenfunktion sollte regelmässig überprüft werden,
da sich die nicht spezifischen Symptome der Unterfunktion
meist mit MS- oder Parkinson-Symptomen überschneiden.
Die Behandlung der Osteoporose sollte entsprechend regio-
nalen Richtlinien vorgenommen werden. Eine Modifizierung
der Risikofaktoren wie die Einstellung des Rauchens und ein
Ausgleich zu niedriger Vitamin-D-Spiegel sollte bei allen
Patienten zur Routine gehören. Die Anwendung von
Bisphosphonaten gestaltet sich bei neurologischen Erkran-
kungen aufgrund von Nebenwirkungen oft schwierig.
Die Hauptnebenwirkung von Strontium ist Übelkeit – ein
häufiges nicht motorisches Symptom bei Parkinson. Intra-
venöse Bisphosphonate oder subkutanes Denosumab könn-
ten bei Patienten mit neurologisch bedingter Dysphagie, oder
falls orale Bisphosphonate nicht vertragen werden, geeignete
Alternativen sein.
O
Petra Stölting
Dobson R et al.: Bone health in chronic neurological diseases: a focus on multiple sclerosis and parkinsonian syndromes. Pract Neurol 2013; 13: 70–79.
Interessenkonflikte: Die Autoren haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten.
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