Transkript
FORTBILDUNG
Therapie bei Depression
Überlegungen für die Hausarztpraxis
Depressionen können im Rahmen uni- und bipolarer affektiver Störungen auftreten. Unipolar depressive Störungen zählen zu den häufigsten psychischen Störungen und beeinträchtigen durch ihren vielfach chronisch-rezidivierenden Verlauf die Betroffenen in einem hohen Ausmass. Im folgenden Beitrag werden therapeutische Entscheidungswege in der Hausarztpraxis aufgezeigt.
FRANCESCA REGEN UND ISABELLA HEUSER
Etwa 6 Prozent der Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 65 Jahren und etwa 10 Prozent der Patienten, die einen Allgemeinarzt aufsuchen, leiden an einer behandlungsbedürftigen Depression. Da für depressive Störungen im Rahmen einer bipolar affektiven Störung mit depressiven wie auch manischen Episoden eigene Behandlungsrichtlinien gelten, kommt der Unterscheidung von unipolaren und bipolaren Verläufen eine entscheidende Bedeutung zu (1). Im Folgenden soll ein Überblick über die Behandlung der depressiven Erkrankung als einzelne Episode oder im Rahmen einer rezidivierend depressiven Störung mit wiederkehrenden depressiven Episoden gegeben werden.
Merksätze
O Es ist wichtig, zwischen einer unipolaren Depression und einer Depression im Rahmen einer bipolar affektiven Störung zu unterscheiden; Letztere erfordert die Überweisung an einen Spezialisten.
O Die Akuttherapie bei unipolarer Depression dauert bis zu 8 Wochen, die Erhaltungstherapie 6 bis 9 Monate.
O Die Wirksamkeitsunterschiede zwischen verschiedenen Antidepressiva(klassen) sind nur gering.
O Bedeutsame Unterschiede zwischen den Substanzen bestehen im Nebenwirkungsprofil, sodass sich die Auswahl unter anderem an den Komorbiditäten orientiert.
Wann sollte eine Überweisung an einen Facharzt erfolgen? Am Beginn einer antidepressiven Behandlung in der hausärztlichen Praxis stehen eine korrekte Diagnose und eine Einschätzung, ob ein Behandlungsversuch in der primärärztlichen Versorgung Erfolg versprechend erscheint und sinnvoll durchführbar ist. Gründe für eine Überweisung an einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sind in der Tabelle dargestellt (2).
Vermittlung eines Krankheits- und Behandlungskonzepts Stellt man eine depressive Episode fest, ist es von besonderer Bedeutung, Patienten sowie gegebenenfalls auch deren Angehörigen ein verständliches Krankheits- und Behandlungskonzept zu vermitteln. Insbesondere sollten Patienten und Angehörige darüber aufgeklärt werden, dass depressive Störungen häufig vorkommen und gut behandelbar sind. Auch besteht bei der Behandlung mit Antidepressiva nicht etwa – wie oftmals von Patienten befürchtet – das Risiko einer Abhängigkeitsentwicklung oder einer Persönlichkeitsveränderung. Behandlungsstrategien, deren erhoffte Wirkungen und mögliche Nebenwirkungen (auch Psychotherapien haben Nebenwirkungen!) sowie die verschiedenen Behandlungsphasen sollten mit Patienten besprochen und die Therapieplanung mit ihnen abgestimmt werden (3).
Wann Antidepressiva, wann Psychotherapie? Die Behandlung (unipolar) depressiver Störungen umfasst eine Akuttherapie (bis 8 Wochen), eine Erhaltungstherapie (in der Regel 6 bis 9 Monate, bis zu 12 Monate) sowie gegebenenfalls eine Langzeit- beziehungsweise Rezidivprophylaxe (3 Jahre, gegebenenfalls länger, evtl. lebenslang). An eine erfolgreiche Akuttherapie schliesst sich regelhaft eine Erhaltungstherapie an. Eine Rezidivprophylaxe hingegen ist bei bekannter Neigung zu wiederholtem Auftreten depressiver Episoden erforderlich. Therapieziel ist die vollständige Remission und Rückfall- sowie gegebenenfalls Rezidivprophylaxe. Restsymptome erhöhen das Risiko eines Rückfalls deutlich (4, 5). Die Wahl einer geeigneten Behandlungsstrategie sollte unter Berücksichtigung verschiedenster Faktoren für den Einzelfall erfolgen. So kann entsprechend der Motivation des Patienten, der Verfügbarkeit psychotherapeutischer Behandlungsmöglichkeiten und dem Schweregrad der depressiven Episode der Behandlungsschwerpunkt auf eine antidepressive Pharmakotherapie und/oder eine psychotherapeutische Behandlung gelegt werden.
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FORTBILDUNG
Tabelle:
Depression – mögliche Gründe für eine Facharztüberweisung
O unklare psychiatrische Differenzialdiagnostik
O schwere Symptomatik (z.B. akute Selbstgefährdung)
O bisherige Therapieresistenz
O Probleme bei der Pharmakotherapie und/oder Psychotherapie
O Interaktionsprobleme im Rahmen der Kombinationstherapie von Antidepressiva mit anderen Medikamenten
O psychotische Symptome
O Vorliegen einer bipolaren Störung
O Komorbidität mit einer anderen schweren psychischen Störung
O Komorbidität mit schweren körperlichen Erkrankungen
Bei leichten Depressionen können zunächst psychotherapeutische Verfahren allein (kognitive Verhaltenstherapie oder interpersonelle Psychotherapie) indiziert sein, den gleichen Stellenwert zeigt eine alleinige Antidepressivatherapie. Bei schweren Depressionen ist in der Regel ein Antidepressivum unverzichtbar. Hier sowie auch bei depressiven Episoden im Rahmen einer rezidivierend depressiven Störung sollte eine Kombination aus Antidepressivum und Psychotherapie angestrebt werden (3).
Auswahl eines Antidepressivums Soll eine psychopharmakologische Behandlung mit einem Antidepressivum begonnen werden, erfolgt dessen Auswahl unter Berücksichtigung von verschiedenen, individuell abzuwägenden Faktoren wie beispielsweise dem Nebenwirkungsprofil einer Substanz, eventuell vorliegenden Komorbiditäten und Komedikationen, dem Ansprechen in einer früheren Krankheitsepisode, der Patientenpräferenz sowie gegebenenfalls dem vorliegenden Zielsyndrom. Unterschiede in der Wirksamkeit einzelner Antidepressiva oder einzelner Klassen von Antidepressiva sind laut Studienlage nur geringfügig (6) und spielen bei der Auswahl eines Antidepressivums eine untergeordnete Rolle. Bedeutsame Unterschiede zwischen Substanzen ergeben sich hingegen bezüglich des Nebenwirkungsprofils. Besonders wichtig sind hier das Risiko einer Gewichtszunahme, sexuelle Funktionsstörungen, eine (möglicherweise gewünschte) Sedierung sowie kardiale Nebenwirkungen. Prinzipiell sind aufgrund des günstigeren Nebenwirkungsprofils selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (SSRI) und andere neue Antidepressiva den trizyklischen Antidepressiva (TZA) vorzuziehen. Unter den SSRI bieten sich aufgrund eines günstigen Nebenwirkungsprofils und eines geringen Interaktionspotenzials Citalopram (Seropram® und Generika), Escitalopram (Cipralex®) und Sertralin (Zoloft® und Generika) an; unter den neuen Antidepressiva Agomelatin (Valdoxan®), Bupropion (Wellbutrin® XR), Duloxetin (Cymbalta®), Mirtazapin (Remeron® und Generika) und Venlafaxin (Efexor® und Generika).
Mirtazapin Substanzspezifische Besonderheiten müssen dabei zusätzlich beachtet werden. So weist Mirtazapin (noradrenerg/spezifisch serotonerges Antidepressivum mit ␣2-Adrenozeptorantagonistischer Wirkung) einerseits Vorteile im Hinblick auf eine schlafinduzierende Wirkung (insbesondere von Vorteil bei depressiven Syndromen mit Schlafstörungen), eine geringe Rate an sexuellen Funktionsstörungen und eine gute Eignung auch zur Kombination mit anderen Antidepressiva bei unzureichender Wirkung auf, andererseits hat es den Nachteil einer häufigen Appetit- und Gewichtszunahme.
Agomelatin Agomelatin hat als Melatoninrezeptoragonist und selektiver Serotoninrezeptorantagonist ein neuartiges pharmakologisches Profil, eine vergleichbare antidepressive Wirksamkeit wie SSRI/SNRI und ein günstiges Nebenwirkungsprofil. Zu beachten sind hier eine regelmässige Kontrolle der Transaminasen (nach 3, 6, 12 und 24 Wochen), Kontraindikationen (eingeschränkte Leberfunktion) sowie mögliche Interaktionen (keine Kombination mit starken CYP1A2-Inhibitoren wie z.B. Ciprofloxacin).
Bupropion Bupropion hat eine den SSRI und Venlafaxin vergleichbare antidepressive Wirksamkeit bei möglichen Wirksamkeitsvorteilen bei anhedon/gehemmt-depressiven Patienten. Vorteile sind die fehlende Gewichtszunahme sowie das geringe Risiko sexueller Funktionsstörungen. Zu beachten ist insbesondere bei höheren Dosierungen und Risikopatienten ein unter Bupropion dosisabhängig erhöhtes Risiko für Krampfanfälle sowie ein möglicher Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck.
Venlafaxin und Duloxetin Diese Substanzen haben als selektive Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahme-Hemmer (SNRI) aufgrund ihres dualen Wirkansatzes mit direkter Beeinflussung zweier Monoaminsysteme, ebenso wie Mirtazapin, aber auch Escitalopram, insbesondere bei schweren oder therapieresistenten depressiven Episoden möglicherweise eine geringfügig höhere Ansprech- und Remissionsrate bei insgesamt guter Verträglichkeit (7, 8). Bezüglich kardialer Nebenwirkungen haben SSRI und neue Antidepressiva ein günstigeres Nebenwirkungsprofil im Vergleich zu TZA, die bei kardial erkrankten Patienten nicht eingesetzt werden sollten. Dabei wurden allerdings auch unter SSRI und anderen neuen Antidepressiva eine Störung der myokardialen Erregungsrückbildung und eine Verlängerung der QTc-Zeit beschrieben. Das Risiko einer medikamenteninduzierten QT-Intervall-Verlängerung ist insbesondere bei höheren Dosierungen von Citalopram oder Escitalopram und bei Patienten mit erhöhtem Risiko für Herzrhythmusstörungen (z.B. aufgrund einer dekompensierten Herzinsuffizienz, eines kürzlich aufgetretenen Myokardinfarkts, Bradyarrhythmien oder einer Neigung zu Hypokaliämie oder Hypomagnesiämie) zu beachten. Prinzipiell kann unter allen Antidepressiva eine Verlängerung der QTc-Zeit auftreten, sodass unter der Behandlung regelmässige EKG-Kontrollen empfohlen werden. Gegebenenfalls sollte bei kardial erkrankten
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FORTBILDUNG
Patienten eine medikamentöse antidepressive Behandlung in Abstimmung mit dem behandelnden Kardiologen erfolgen (z.B. nach Myokardinfarkt).
Erfolg innert 6 Wochen?
Eine zuverlässige Vorhersage eines individuellen Therapieer-
folgs mit einem bestimmten Antidepressivum ist auch heute
noch nicht möglich. Sollte sich unter einer antidepressiven
Behandlung keine ausreichende Besserung zeigen, sollte nach
spätestens 6 Wochen die Konsultation bei einem Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie erfolgen.
O
Korrespondenzadresse: Dr. med. Francesca Regen Prof. Dr. med. Dipl. Psych. Isabella Heuser Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Charité-Campus Benjamin Franklin Eschenallee 3 D-14050 Berlin E-Mail: francesca.regen@charite.de
Interessenkonflikte: keine
Literatur: 1. Smith DJ et al.: Unrecognised bipolar disorder in primary care patients with depres-
sion. Br J Psychiatry 2011; 199(1): 49–56. 2. DGPPN, BÄK, KBV, AWMF, AkdÄ, BPtK, BApK, DAGSHG, DEGAM, DGPM, DGPs, DGRW
(Hrsg) für die Leitliniengruppe Unipolare Depression: S3-Leitlinie/Nationale Versorgungs-Leitlinie Unipolare Depression, 1. Aufl. 2009. DGPPN, ÄZQ, AWMF – Berlin, Düsseldorf 2009, Internet: www.dgppn.de, www.versorgungsleitlinien.de, www.awmf-Leitlinien.de. 3. Benkert O, Hippius H: Kompendium der psychiatrischen Pharmakotherapie, 8. Aufl. Berlin Heidelberg New York: Springer, 2011. 4. Judd LL et al.: Does incomplete recovery from first lifetime major depressive episode herald a chronic course of illness? Am J Psychiatry 2000; 157: 1501–1504. 5. Paykel ES et al.: Residual symptoms after partial remission: an important outcome in depression. Psychol Med 1995; 25: 1171–1180. 6. Gartlehner G et al.: Comparative benefits and harms of second-generation antidepressants for treating major depressive disorder: an updated meta-analysis. Ann Intern Med 2011; 155 (11): 772–885. 7. Schueler YB, Koesters M, Wieseler B et al.: A systematic review of duloxetine and venlafaxine in major depression, including unpublished data. Acta Psychiatr Scand 2011; 123(4): 247–265. 8. Watanabe N et al.: Mirtazapine versus other antidepressive agents for depression. Cochrane Database Syst Rev 2011; 12:CD006528.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 5/2013. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorinnen. Der Artikel wurde von der Redaktion ARS MEDICI an die Verhältnisse in der Schweiz angepasst (Produktnamen).
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