Transkript
FORTBILDUNG
Jedem Patienten sein Betreuungspaket inklusive Allgemeinmassnahmen
Neue EULAR-Empfehlungen zum nicht pharmakologischen Management bei Hüft- und Kniearthrose
Eine internationale Expertengruppe hat im Auftrag der European League Against Rheumatism (EULAR) Empfehlungen zum Grundmanagement bei Hüftoder Kniearthrose erarbeitet, die elf praxisbezogene Punkte umfassen.
ANNALS OF THE RHEUMATIC DISEASES
Da Arthrosen altersabhängig auftreten, hat ihre Prävalenz laufend zugenommen, und angesichts der demografischen Entwicklungen ist mit einer steigenden Zahl von Individuen zu rechnen, die über lange Zeiträume an schweren Arthrosen leiden werden. Internationale Empfehlungen unterscheiden nicht pharmakologische, pharmakologische und chirurgische Massnahmen. Die vorliegenden EULAR-Empfehlungen beschäftigen sich nur mit dem nicht pharmakologischen Management, das den Kern jeder Arthrosebehandlung bilden soll, und richten sich an alle, die mit Forschung, Gesundheitsplanung und Betreuung von Hüft- oder Kniearthrosepatienten zu tun haben.
Entwicklung der Empfehlungen Die multidisziplinäre Expertengruppe aus verschiedenen europäischen Ländern ging bei der Sichtung der Evidenz nach inzwischen etabliertem Prozedere vor. Für die einzelnen Empfehlungen wurden Evidenzgrade formuliert, und zusätzlich wurde das Ausmass an Übereinstimmung der Experten festgehalten. Diese Übereinstimmung war bei den schliesslich ausformulierten Empfehlungen recht uniform und lag im Mittel zwischen 8,0 und 9,1 (wobei 0 völliger Dissens und 10 völliger Konsens bedeutet). Die Expertengruppe einigte sich auf elf Empfehlungen, welche in einer logischen Reihenfolge hinsichtlich Vorgehen und zeitlicher Abfolge und nicht in einer Abstufung nach Wichtigkeit stehen (Kasten).
Individualisierte Therapie Unter den Fachleuten bestand Einstimmigkeit, dass die Behandlung von Patienten mit Hüft- oder Kniearthrose grundsätzlich individualisiert erfolgen muss, was auch in Übereinstimmung mit früheren Guidelines steht. Das bedeutet aber nicht, dass jede Therapie individuell erfolgen muss, sondern dass sie persönlich und angepasst sein soll. Randomisierte, kontrollierte Studien zu diesem Punkt sind allerdings spärlich. Die vorhandenen Studien ergaben kombiniert eine bessere Beeinflussung von Schmerz und physischer Funktion
unter individualisierter Therapie im Vergleich zu «usual care», aber nicht im Vergleich zu gruppenbasierten Interventionen oder allgemeinen Informationen zum Lebensstil. Da die Datenlage zu massgeschneiderten Therapien beschränkt ist, stützen sich die Empfehlungen zur Individualisierung vor allem auf prognostische Erfahrungen. So ist ein wichtiger modifizierbarer Risikofaktor bei Kniearthrose das Körpergewicht, woraus man schliessen darf, dass eine Gewichtsreduktion bei übergewichtigen und adipösen Arthrosepatientinnen und -patienten ein sinnvolles individuelles Ziel sein soll.
Umfassendes Betreuungspaket Leitgedanke dieser Empfehlungen ist das Angebot eines integrierten Pakets von Abklärungs- und Behandlungsmassnahmen anstelle einzelner Therapien allein oder einer Abfolge von Behandlungen. Dabei formuliert die Guideline fünf Kerninterventionen, die bei allen Hüft- oder Kniearthrosepatienten berücksichtigt werden sollen (Kasten, Punkte 1–5). Schon die initiale Abklärung soll umfassend sein und neben den körperlichen Befunden und Beschwerden auch die Alltagsaktivitäten, die Teilhabe an Arbeit und Freizeitaktivitäten und sozialen Rollen, die Stimmungslage und die persönlichen Überzeugungen und Motivationen zu erfassen suchen. Bei der Individualisierung der Behandlung sind Wünsche und Erwartungen des Individuums zu berücksichtigen, aber auch Risikofaktoren für den weiteren Verlauf wie Alter, Geschlecht, Komorbiditäten, Adipositas, Zeichen für entzündliche Arthroseaktivierung, fortgeschrittene strukturelle Schäden bis hin zu den Auswirkungen auf die individuelle Lebensqualität. Zu dem individualisierten Managementplan, dem Betreuungspaket, gehören in jedem Fall Informationen über die nicht pharmakologischen Interventionen bei Hüft- oder Kniearthrosen. Die Patientenschulung soll das Geschehen bei Arthrose erklären, die Dosierung von Aktivitäten ansprechen, zu einem Übungsprogramm ermuntern, den Einfluss des Körpergewichts und einer Gewichtsabnahme erklären, über die Bedeutung geeigneten Schuhwerks informieren und rechtzeitig die Möglichkeiten von Gehhilfen und Hilfstechnologien aufzeigen. Lebensstiländerungen müssen von Beginn weg kurz- und langfristige Ziele haben und auch in regelmässigen Abständen erneut evaluiert und gegebenenfalls angepasst werden. Um effektiv zu sein, müssen Information und Patientenschulung der individuellen Krankheitswahrnehmung und dem Erziehungshintergrund Rechnung tragen. Ausdrücklich
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FORTBILDUNG
Kasten:
EULAR-Empfehlungen zum nicht pharmakologischen Management bei Hüft- und Kniearthrose
1. Die initiale Abklärung soll einer biopsychosozialen Sichtweise folgen.
2. Die Therapie soll den Wünschen und Erwartungen des Individuums, der Lokalisation der Arthrose, den Risikofaktoren, den Entzündungszeichen, dem Schweregrad der strukturellen Schädigungen, der Schmerzintensität und den Beeinträchtigungen bei Alltagsaktivitäten, sozialer Teilnahme und der Lebensqualität individuell angepasst werden.
3. Alle Patientinnen und Patienten mit Hüft- oder Kniearthrose sollen einen individuellen Managementplan (ein Pflegepaket) erhalten, das auch nicht pharmakologische Massnahmen umfasst.
4. Wenn Änderungen des Lebensstils empfohlen werden, soll das in Form eines individuell zugeschnittenen Programms erfolgen, das kurz- und langfristige Ziele aufzeigt, geplante Interventionen aufführt, einer regelmässigen Evaluation und Überwachung unterliegt, und Änderungen im Vorgehen ermöglicht.
5. Um effektiv zu sein, sollen die Information und die Patientenschulung den individuellen Grundvoraussetzungen und Wahrnehmungen des Patienten angepasst und in geeigneter Form (z.B. mündlich, schriftlich, Webseite, Gruppentreffen) angeboten und bei weiteren Gelegenheiten erneuert und verstärkt werden.
6. Die Art der Vermittlung von Anleitungen zu Übungen (Einzelphysiotherapie, Patientengruppen etc.) soll der Präferenz der Betroffenen und der lokalen Verfügbarkeit angepasst werden (immer nach dem Motto «geringe Mengen, aber oft»; eingebettet in die üblichen Alltagsaktivitäten; einfacher Beginn mit langsamer Intensitätssteigerung).
7. Patienten mit Hüft- oder Kniearthrose sollen ein individuelles (tägliches) Trainingsprogramm erlernen, mit gezielter Stärkung der Muskelkraft, aerober Aktivität sowie Förderung des Bewegungsumfangs und Stretching .
8. Die Schulung zum Körpergewicht soll individualisierte Strategien umfassen (regelmässige Selbstmessung des Gewichts, vermehrte körperliche Aktivität, «vernünftige» Ernährung zwecks Gewichtskontrolle, regelmässige Unterstützung in Gruppe oder einzeln).
9. Adäquate und bequeme Schuhe werden empfohlen, die Experten haben aber die Empfehlung für seitliche keilförmige Schuheinlagen zur Symptomreduktion bei medialem Knieschmerz zurückgewiesen.
10. Gehhilfen wie Gehstock oder Rollator sollten in Betracht gezogen werden, ebenso wie individuelle Anpassungen in der Wohn- und Fahrumgebung.
11. Patienten mit Hüft- oder Kniearthrose, die neu eine Arbeit aufnehmen oder zur Arbeit zurückkehren wollen, sollten raschen Zugang zu einer beruflichen Rehabilitation erhalten, in der die Beratung über modifizierbare arbeitsbezogene Faktoren und die Unterstützung von Arbeitgeber, Arbeitskollegen und Angehörigen vorkommen sollen.
anzusprechen ist die Natur des Geschehens bei Arthrose, also die Entstehung durch Reparaturprozesse nach vielen kleinen Verletzungen im Gelenkbereich. Das Wissen soll bei späteren Gelegenheiten aufgefrischt und vertieft werden. Sinnvoll ist die Unterstützung durch Patientenblätter oder DVD, Webseiten oder Gruppensitzungen, je nach Wunsch der Betroffenen. Gegebenenfalls sollen auch Partner oder Pflegepersonen in die Wissensvermittlung einbezogen werden.
Prinzipien der Lebensstiländerungen Verhaltensänderungen sind schwierig zu erreichen und durchzuziehen, die Effekte der Beratung sind oft enttäuschend. Im Hinblick auf Hüft- und Kniearthrosen wurden vor allem die beiden wichtigsten berücksichtigt, körperliches Training und Gewichtsabnahme. Die Empfehlung stützt sich auf Studien, in denen Verhaltensänderungen durch Zielvorgaben für körperliche Aktivität und Gewichtsveränderungen und durch Aktionspläne unterstützt und über mindestens ein Jahr Follow-up reevaluiert wurden. Ein systematischer Review bei einem gemischten Krankengut mit Arthrosen und/ oder rheumatoider Arthritis fand nach Lebensstilinterventionen für Schmerz eine Effektstärke von 0,21 (95%-Konfidenzintervall [KI] 0,08–0,34) und für gesteigerte körperliche Aktivität eine Effektstärke von 0,69 (95%-KI 0,49–0,88). Bei Patienten mit Kniearthrose oder Knieschmerz ergaben sich Verbesserungen bei Schmerz, Funktion und Gewichts-
abnahme durch diätetische Interventionen. Besonders bei adipösen Patientinnen und Patienten sind präzise Zielvorgaben für den Gewichtsverlust erfolgreicher.
Prinzipien der Information und der Schulung Angemessene Information und Schulung sind für das Selbstmanagement chronischer Erkrankungen anerkanntermassen entscheidend. In entsprechenden Studien bei Hüft- oder Kniearthrose ergaben sich durch Schulungsinterventionen oder Anleitungen zum Selbstmanagement kleine, aber statistisch signifikante Effektstärken bei Schmerz und körperlicher Funktion (beide 0,06, 95%-KI 0,02–0,10).
Prinzipien der Anleitung zu Übungen Bei Kniearthrose gibt es überzeugende Evidenz für eine gesamthafte Effektivität von Übungen auf Schmerz (Effektstärke 0,40; 95%-KI 0,30–0,50) und Funktion (0,37; 95%KI 0,25–0,49). Bei Hüftarthrose ist das etwas weniger ausgeprägt (0,38; 95%-KI 0,08–0,68 für Schmerz). Zur Dosierung des körperlichen Trainings hinsichtlich Häufigkeit, Intensität, Dauer und Einfluss auf die Progression der Arthrose gibt es nur wenige direkte Vergleichsstudien mit widersprüchlichen Ergebnissen. Diese Frage bleibt daher ungeklärt. Bei Patienten mit Kniearthrose waren alle verschiedenen Arten der Vermittlung zur Schmerzreduktion effektiv (Effekt-
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stärke für Einzeltraining 0,55; 95%-KI 0,20–0,81; für Gruppentraining 0,37; 95%-KI 0,24–0,51; für Heimübungen 0,28; 95%-KI 0,16–0,39). Das traf auch auf die Funktionsverbesserung zu (Effektstärke für Einzeltraining 0,52; 95%-KI 0,19–86; Gruppentraining 0,35; 95%-KI 0,19–0,50; für Heimübungen 0,28; 95%-KI 0,17–0,38). Als Vergleichsinterventionen dienten reine Schulung, Telefonanrufe, Warteliste, Entspannungstherapie, Ultraschall und warme Packungen oder keine Therapie. Bei Patienten mit Hüft- und/oder Kniearthrose bewirkten Übungen im Wasser im Vergleich zu verschiedenen anderen Interventionen signifikant weniger Schmerzen und bessere Funktion bei geringen Effektstärken. Da verschiedene Arten der Vermittlung von Anleitungen zu körperlicher Aktivität vergleichbare Ergebnisse erzielen, sollte sich die Verschreibung nach den lokalen Verfügbarkeiten richten. Die Expertengruppe empfiehlt aufgrund der Literatur eine langsame Steigerung der Trainingsintensität. Für Patienten, welche das empfohlene Aktivitätsniveau nicht erreichen, empfiehlt sie körperlich so aktiv zu sein, wie es Fähigkeiten und Kondition erlauben. Im Gegensatz zur Hüftarthrose, bei der zwar über Schmerzreduktion durch körperliches Training berichtete wurde, insgesamt aber ausreichende Evidenz fehlt, gibt es für die Kniearthrose Forschungsresultate hoher Qualität, die zeigen, dass Training sowohl auf die Schmerzen wie auf die körperliche Funktion günstig wirkt. Die Resultate zu Training und Lebensqualität sind hingegen inkonsistent. Die Expertengruppe erzielte einen Konsens, dass gemischte Trainingsprogramme, die Komponenten zu Muskelkräftigung, aerober Kapazitätssteigerung und Förderung der Flexibilität umfassen, zu empfehlen sind. Allerdings muss für alle Komponenten ein minimales Niveau erreicht werden, sonst sind die gemischten den fokussierten Trainingsprogrammen unterlegen. Zunächst ist eine Unterweisung des Patienten notwendig, dann sollen die Übungen in den Alltagsablauf integriert werden. Sowohl für Schmerz wie für Funktion haben sich zwölf oder mehr Trainingssitzungen unter direkter Supervision einer geringeren Anzahl als signifikant überlegen erwiesen.
Gewichtsverlust Die Empfehlung zur Gewichtsabnahme (Kasten, Punkt 8) stützt sich vor allem auf Literaturangaben bei Kniearthrose, da es keine Evidenz für einen Effekt der Gewichtsabnahme bei Hüftarthrose gibt. Allerdings ist aus epidemiologischer Sicht Übergewicht oder Adipositas mit Hüftarthrose assoziiert (Odds Ratio 1,11; 95%-KI 1,07–1,16). Für eine Reihe gängiger diätetischer Interventionen ergaben sich bei Patienten mit Kniearthrose in Studien kleine, aber signifikante Effekte auf Körpergewicht, Schmerz und Funktion. Insgesamt fehlt aber Evidenz aus randomisierten, kontrollierten Studien, dass Patienten mit Hüft- oder Kniearthrose ihren nach Interventionen erzielten Gewichtsverlust auch dauerhaft halten können.
Hüft- oder Kniearthrose angemessenes Schuhwerk (keine erhöhten Absätze, dicke, stossdämpfende Sohlen, unterstützendes Fussbett und für die Zehen ausreichende Schuhgrösse) zu empfehlen. Bei Hüftarthrose gibt es keine Evidenz für überlegene Effekte spezifischer Schuhtypen. Bei Kniearthrose waren stossabsorbierende Einlagen in einer Studie günstig. Bei medialer Kniearthrose lässt sich für seitliche keilförmige Schuheinlagen gemäss Literatur kein signifikanter Effekt auf Schmerz oder Funktion nachweisen, hingegen wurde auch über unerwünschte Wirkungen wie Fusssohlen-, Kreuz- und Kniebeugenschmerz berichtet. Daher hat die Expertengruppe eine entsprechende Empfehlung verworfen.
Hilfstechnologien und Anpassungen zu Hause und am Arbeitsplatz Gehhilfen, Hilfstechnologien und Umgebungsanpassungen werden bei Hüft- und Kniearthrose häufig eingesetzt und finden eine hohe Akzeptanz. Das weist darauf hin, dass sie wichtig und nützlich sind. Ausser für den Gebrauch eines Gehstocks bei Kniearthrose gibt es jedoch keine klinischen Studien, die diese Feststellung untermauern können. Die letzte Empfehlung gilt der Effektivität arbeitsbezogener Interventionen, da viele Arthrosepatienten arbeitsunfähig werden. Zu den Effekten einer beruflichen Rehabilitation auf Schmerz, Funktion und Lebensqualität spezifisch bei Hüft- oder Kniearthrosepatienten gibt es keine Studien. Die Empfehlung steht damit auf schwachen Füssen (Evidenzgrad III aus deskriptiven Studien).
«Mehr Forschung ist notwendig»
Neben den praktischen Empfehlungen für das nicht pharma-
kologische Management bei Hüft- und Kniearthrose hat die
Expertengruppe im Auftrag der EULAR auch Empfehlungen
zur Forschung auf diesem Gebiet formuliert. Diese betreffen
Definition und Nomenklatur beim nicht pharmakologischen
und nicht chirurgischen Management und den Nachweis
der Effektivität solcher Massnahmen. Zudem hält die
Arbeitsgruppe fest, dass ein spezifischer Bedarf nach mehr
Forschung in etlichen Gebieten besteht. Dazu gehören die
Optimierung einer massgeschneiderten Therapie, die Lang-
zeiteffekte von Interventionen zur Lebensstiländerung, die
berufliche Rehabilitation und die Wahl von Schuhen für
Patienten mit Hüft- oder Kniearthrose.
O
Halid Bas
Linda Fernandes et al.: EULAR recommendations for the non-pharmacological core management of hip and knee osteoarthritis. Ann Rheum Dis 2013; 72: 1125–1135.
Interessenlage: Die Interessenbindungen der zahlreichen Autoren dieser Empfehlungen sind in der Originalpublikation ausführlich deklariert.
Schuhe Obwohl dafür nur spärliche Forschungsergebnisse vorliegen, war sich die Expertengruppe einstimmig einig, Patienten mit
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