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FORTBILDUNG
Was hilft gegen Pruritus?
Ursachen und Behandlungsoptionen bei juckender Haut mit oder ohne Dermatose
Viele Hautkrankheiten gehen mit Pruritus einher, doch kann das störende Jucken auch ohne begleitende Dermatose auftreten. Es gibt eine ganze Reihe therapeutischer Optionen.
MARGUERITE KRASOVEC RAHMANN
Pruritus wird definiert als ein störendes Gefühl, das auf der Haut auftritt und die Betroffenen dazu veranlasst, sich zu kratzen, zu scheuern oder zu drücken. Die zurzeit geschätzte Prävalenz des chronischen, definitionsgemäss über 6 Wochen dauernden Pruritus liegt in der Allgemeinbevölkerung bei 16 bis 23 Prozent. Chronischer Pruritus geht mit einer erhöhten psychiatrischen Komorbidität, mit Schlafstörungen und mit Beeinträchtigungen der Lebensqualität einher. Der Begriff Juckreiz ist im klinischen Alltag gebräuchlich, aber nicht präzis. Es wird deshalb empfohlen, diesen Begriff im wissenschaftlichen Kontext zu vermeiden und ihn durch Jucken oder Juckempfindung zu ersetzen.
Neurophysiologie des Pruritus Anatomisch werden Pruritus und Schmerz durch gleichartige, langsam leitende, nicht myelinisierte, sensorische C-Nervenfasern vermittelt. Die Nervenendigungen für die Juckreizfasern befinden sich in der Epidermis, für die Schmerzfasern an der dermo-epidermalen Grenzzone. Laut der «Schichthypothese» regt ein schwacher Stimulus die oberflächlichen Nervenfasern an und löst Pruritus aus. Ein starker Stimulus regt tiefere Fasern an, was zu einer Schmerzempfindung führt. Neue Untersuchungen haben durch Beobachtung des Gehirns mittels MRI und CT gezeigt, dass spezifische Gehirnzonen auf die Juckempfindung reagieren.
Merksätze
O Pruritus tritt mit oder ohne Hautveränderungen auf.
O Auch die Psoriasis ist häufig mit Pruritus verbunden.
O Bei Alterspruritus müssen zunächst organische Ursachen und beginnende Dermatosen ausgeschlossen werden.
O Wohltemperierte Bäder mit bestimmten Wirkstoffen sind zu Unrecht etwas in Vergessenheit geraten.
Auslöser von Pruritus sind Neuropeptide, Neurotransmittoren, Enzyme, Zytokine oder Entzündungsmediatoren (Histamin, Serotonin, Dopamin, Tryptase, Papain, Kallikrein, Substanz P, Bradykinin, Morphin, Cannabinoide, Leukotriene, Prostaglandine usw.). Diese bewirken einen Reiz an den vermittelnden Nervenendigungen. Die Systemtherapien wirken auf dieser Ebene, indem sie die entsprechenden Mediatoren blockieren.
Pruritus bei Dermatosen Pruritus tritt mit oder ohne Hautveränderungen auf. Viele Hautkrankheiten wie atopische Dermatitis, Ekzeme, Urtikaria, Lichen planus, Mastozytose, Prurigo oder bullöses Pemphigoid können von Juckempfindungen begleitet sein. Eine klassische Dermatose, welche Pruritus verursacht, ist die Dermatitis atopica (Abbildung 1). Mechanische oder schmerzhafte Reize (z.B. durch Wollfasern, Schwitzen oder beim Prick-Test) werden als Pruritus empfunden. Es wurden anatomische Veränderungen peripherer sensorischer C-Fasern festgestellt. Antihistaminika sind bei Dermatitis atopica nur wenig wirksam. Allgemein besteht die Ansicht, dass Psoriasis (Abbildung 2) nicht juckt. Dennoch zeigen jüngere Studien, dass 30 bis 80 Prozent der Befragten an Pruritus leiden und dass dieser als zweitlästigstes Symptom genannt wird. Diese Thematik wird seitens der Ärzte oft unterschätzt, möglicherweise weil die Intensität und die Prävalenz geringer als bei den anderen, klassischen juckenden Dermatosen sind. Frauen sind häufiger als Männer betroffen. Juckreiz plagt sogar zwei Drittel der Kinder mit Psoriasis. Besonders stark jucken die Kopfhaut und die von genitaler Psoriasis betroffenen Regionen. Psoriatiker mit Pruritus neigen eher zu Depression sowie emotionalem und sozialem Rückzug. Die Linderung des Pruritus sollte somit in die Therapie der Psoriasis einbezogen werden. Interessanterweise wird die UV-Phototherapie von der Mehrzahl der Patienten als nicht antipruritogen empfunden. Die Urticaria pigmentosa (Abbildung 3) ist eine kleinfleckige, disseminierte, kutane Mastozytose. Die bräunlich-rötlichen Papeln und Flecken sind am Rumpf und an den proximalen Extremitäten am stärksten ausgeprägt. Als Beschwerdesymptomatik wird lediglich Jucken angegeben, das beim Reiben oder Kratzen stärker wird. Das Darier-Zeichen (lokale Schwellung der Haut nach Reiben) ist charakteristisch und kommt zum Teil auch in nicht befallenen Arealen vor. Zur Therapie leichter Fälle eignen sich Antihistaminika (H1- und H2-Antagonisten), Mastzelldegranulationshemmer und Phototherapie.
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Abbildung 1: Die Dermatitis atopica ist das klassische Beispiel einer Dermatose, die Pruritus verursacht.
Abbildung 3: Die Urticaria pigmentosa ist eine kleinfleckige, disseminierte, kutane Mastozytose mit Pruritus, der beim Reiben oder Kratzen stärker wird.
Abbildung 2: Auch die Psoriasis juckt häufig, besonders an der Kopfhaut und in der Genitalregion.
Alterspruritus Ein häufiges Thema im Alter ist der Pruritus senilis (Alterspruritus). In erster Linie muss eine organische Ursache und eine sogenannte «unsichtbare Dermatose» ausgeschlossen werden. Gewisse Hautkrankheiten können sich initial ohne Hautläsionen nur mit Pruritus manifestieren, wie das bullöse Pemphigoid (Abbildung 4), das Initialstadium einer kutanen Mastozytose, die Dermatitis herpetiformis Duhring, Porphyrien oder Parasitosen. Die Alteration des Stratum corneum, Anomalien der Keratinisierung und die reduzierte Talg- und Schweissdrüsensekretion führen zur Xerosis cutis. Es wurden degenerative Veränderungen der peripheren Nervenfasern beobachtet, was zu Juckempfindungen beitragen könnte. Der senile Pruritus prädominiert an den Armen und an den Vorderseiten der Unterschenkel. Häufig besteht ein Kontrast zwischen den Beschwerden der Patienten und dem (blanden) Hautstatus. Bei Jucken ohne Hautläsionen sind Abklärungen nötig, weil metabolische, infektiöse, tumorale und neuropsychiatrische Erkrankungen dahinterstecken können (Tabelle). Die Ursache von Pruritus bleibt dennoch in 5 bis 15 Prozent der Fälle unklar.
Abbildung 4: Das bullöse Pemphigoid kann sich initial nur mit Pruritus manifestieren.
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Tabelle:
Mögliche Ursachen von Pruritus mit interner Genese
O endokrine Erkrankungen (Hyperthyreose, Hypothyreose, Hyperparathyreoidismus, Diabetes mellitus)
O chronische Niereninsuffizienz
O Cholestase (z. B. primäre biliäre Zirrhose, primär sklerosierende Cholangitis, Hepatitis C, medikamentöse Cholestase, extrahepatische Cholestase, Schwangerschaftscholestase)
O Infekte (HIV-Infektion, Parasitosen, Hepatitis C)
O hämatologische und lymphoproliferative Erkrankungen (Eisenmangel, essenzielle Thrombozytose, Hämochromatose, M. Hodgkin, Non-Hodgkin-Lymphome)
O solide Tumoren
O neurologische Erkrankungen (Notalgia paraesthetica, postzosterische Neuralgie, Neuropathien, Multiple Sklerose, Tumore, Abzesse)
O psychosomatische und psychiatrische Erkrankungen (somatoformer Pruritus, Depression)
O Medikamente
Topisch appliziert bindet das Vanilloidalkaloid Capsaicin an den Hitze-Ionenkanal TRPV1, der auf sensorischen Nervenfasern und Keratinozyten exprimiert wird (Capsaicincrème 0,025% gemäss Magistralrezeptur Kantonsapotheke Zürich). In den ersten Tagen der Therapie entsteht dabei ein brennendes Wärmegefühl, welches bei weiterer Applikation verschwindet. Obschon diese initiale Nebenwirkung nur vorübergehend auftritt, führt sie erfahrungsgemäss zum Therapieabbruch. Durch seinen direkten Angriffspunkt an den sensorischen Nervenfasern ist Capsaicin auch bei Pruritus wirksam, der nicht durch Histamin induziert ist. Rezeptpflichtige Substanzen, die direkt auf das Immunsystem einwirken, sind topische Kortikosteroide.
Wohltemperierte Bäder sind hilfreich Bäder mit Wirkstoffen sind als Therapiemöglichkeiten in der Dermatologie etwas in Vergessenheit geraten. Jedes Bad mit der richtigen Temperatur (34–36 °C) hat einen juckreizstillenden Effekt und stimmt das vegetative Nervensystem um. Ölbäder bekämpfen die Xerosis cutis, Schwefel hilft bei chronischem Ekzem und Psoriasis, ist aber bei akuten Dermatitiden nicht geeeignet. Eichenrinde enthält adstringierende Gerbstoffe und hilft bei Ekzemen, Hämorrhoiden und Ulzera. Kamillenblüten (alpha-Bisabolol) wirken entzündungshemmend und werden bei Wunden, Analfissuren und Ekzemen verschrieben. Weizenkleie hat antiphlogistische und juckreizstillende Eigenschaften.
Topische Pruritustherapien Grundsätzlich sollte immer nach der Ursache des Pruritus gesucht und entsprechend behandelt werden. Initial können folgende symptomatische Prozeduren empfohlen werden: O Eine kurze Körperwäsche mit pH-neutralen Produkten auf
Ölbasis, wenig schäumend und mit lauwarmem Wasser ist hilfreich. O Die Luftfeuchtigkeit sollte 40 Prozent überschreiten, die Raumtemperatur etwa 20 Grad betragen. O Mechanische Reize (z.B. durch Gürtel, enge Socken) und ungünstige Textilien (z.B. Wolle, raue Stoffe) sollten vermieden werden.
Zur Wiederherstellung der Hautbarriere bei trockener Haut empfiehlt sich eine Basistherapie mit Lotionen, deren Inhaltsstoffe zur Rückfettung geeignet sind (z.B. Mandelöl, Avocadoöl), und mit Präparaten, die das Wasserbindungsvermögen verbessern und die Hautfeuchtigkeit erhöhen (z.B. Milchsäure, Harnstoff). Zur Juckreizstillung werden Präparate mit dem Lokalanästhetikum Polidocanol verwendet (z. B. Balmed Hermal® Plus, Pruri-med®). Eine kühlende Wirkung hat Menthol (als Lotion oder Schüttelmixtur anwendbar). Über Cannabinoidrezeptoren auf Keratinozyten, Entzündungszellen, Mastzellen und sensorische Nervenfasern beeinflussen Endocannabinoide die epidermale Differenzierung und vermitteln antiinflammatorische und antinozizeptive Effekte. Bei topischer Anwendung des Cannabinoidrezeptoragonisten N-Palmitoylethanolamin (Physiogel® A.I.) wurde eine Antiprurituswirkung festgestellt.
Systemische Pruritustherapien
Antihistaminika sind kompetitive Antagonisten des Hista-
mins an den H1-Rezeptoren. H1-Rezeptoren finden sich
im Gehirn und in der Peripherie, H2-Rezeptoren im Magen
und im Herz, H3-Rezeptoren im Gehirn. Die Antihistami-
nika der dritten Generation haben eine starke Affinität zu
den H1-Rezeptoren in der Peripherie.
Bei therapieresistentem Pruritus kommen andere Medi-
kamente wie Opiatrezeptorantagonisten, selektive Serotonin-
wiederaufnahme-Hemmer, Serotininrezeptorantagonisten,
trizyklische und tetrazyklische Antidepressiva, Gabapentin
oder Substanz-P-Rezeptorantagonisten zum Einsatz.
Eine Klassifikation der Prurituserkrankungen und eine 2012
neu bearbeitete S2k-Leitlinie für chronischen Pruritus sind zu
finden auf der Website www.awmf.org.
O
Korrespondenzadresse: Dr. Marguerite Krasovec Rahmann FMH Dermatologie und Venerologie Uitikonerstrasse 9 8952 Schlieren E-Mail: dr-krasovec@bluewin.ch
Interessenkonflikte: keine
Dieser Beitrag entstand auf der Basis eines Vortrags der Autorin an der pharmActuelFortbildung vom 4. April 2013 in Zürich; Erstpublikation in medicos 3/2013; der Artikel wurde leicht überarbeitet.
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