Transkript
FORTBILDUNG
Begleitdepressionen frühzeitig erkennen
Wann ist die Behandlung in der Hausarztpraxis möglich, wann überweisen?
Dem Allgemeinarzt kommt eine ganz besonders hohe Verantwortung bezüglich depressiver Erkrankungen zu, da ihn die Mehrzahl der Patienten aufgrund körperlicher Symptome zuerst kontaktiert. Das gilt sowohl für depressive Patienten als auch für Patienten mit Kombinationen zwischen körperlichen Erkrankungen und Depressionen.
HERWIG SCHOLZ
Wenn Sie bei einem Patienten im Verlauf der Diagnostik und Therapie einer körperlichen Erkrankung den Eindruck gewinnen, dass zusätzlich eine depressive Störung vorliegt, ergeben sich einige Konsequenzen: O Zum einen muss geklärt werden, auf welche Weise die kör-
perliche und die psychische Störung zusammenhängen. O Zum anderen muss das Ausmass der depressiven Erkran-
kung erfasst werden.
Erst auf dieser Grundlage kann entschieden werden, ob die Therapie vom Hausarzt selbst durchgeführt werden kann oder eine stationäre beziehungsweise fachpsychiatrische Betreuung erforderlich ist.
Nicht nur «reaktive Depression» Bis vor kurzem bestand in der Medizin die Tendenz, psychische und somatische Erkrankungen streng zu trennen und
Merksätze
O Begleitdepressionen werden von Patienten oft nicht spontan geäussert.
O Typische Merkmale sind massive Antriebsstörung, Interessenverlust, Denkhemmung, Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen sowie Verlust von Appetit, Gewicht und Libido.
O Bei der Therapie mit Antidepressiva sind vor allem mögliche Nebenwirkungen sowie die zwei- bis dreiwöchige Wirklatenz zu beachten.
O Bei Anzeichen für Suizidalität ist sofort eine psychiatrische Abklärung und gegebenenfalls die stationäre Einweisung notwendig.
das gleichzeitige Auftreten depressiver Störungen bei körperlichen Erkrankungen zu negieren. Dementsprechend wurden traurige Verstimmung, Antriebsstörungen, Schlafstörungen und andere depressive Syndromanteile überwiegend als Erschöpfungsreaktion durch körperliche Erkrankung und deren Folgen aufgefasst. Später fand man dann dafür den Begriff «reaktive Depression». Heute weiss man, dass es wesentlich vielfältigere Wechselbeziehungen zwischen Depressionen und somatischen Erkrankungen gibt. Zusätzlich zu der bereits erwähnten «reaktiven Depression» sind eine Reihe weiterer Konstellationen beschrieben.
Chronische Erkrankungen So findet man häufig Begleitdepressionen bei chronischen somatischen Erkrankungen wie beispielsweise Diabetes mellitus, Schmerzerkrankungen, speziell aus dem Bereich der Wirbelsäule, Asthma bronchiale, chronischen gastrointestinalen Erkrankungen, Hepatopathien, Niereninsuffizienz oder rheumatischen Erkrankungen. Oft ist es schwierig, solche Begleitdepressionen von protrahierten psychosomatischen Erkrankungen abzugrenzen. Schon seit langem bekannt sind Depressionen bei schweren Anämieformen und Schilddrüsenerkrankungen. Die jeweiligen pathogenetischen Zusammenhänge sind meist ungeklärt und wahrscheinlich auch unterschiedlich.
Zentralnervöse Erkrankungen Besser verständlich sind die Zusammenhänge zwischen bestimmten zentralnervösen Erkrankungen, wie den zerebrovaskulären Durchblutungsstörungen, dem Morbus Parkinson, dem Morbus Alzheimer und Depressionen aufgrund ihrer gemeinsamen neuropathologischen Schädigung des limbischen Systems.
Medikamente Eine zusätzliche Ursache für Begleitdepressionen ergibt sich aus der Möglichkeit einer direkten depressionsfördernden Wirkkomponente von Medikamenten, die eigentlich gegen somatische Erkrankungen eingesetzt werden. Die Liste derartiger Pharmaka ist sehr lang. Sie reicht von Antibiotika über Antihypertonika, Kortisonpräparate bis zu Vasodilatatoren und Zytostatika. Es empfiehlt sich deshalb, im Nebenwirkungsprofil gezielt nach derartigen Aspekten zu suchen. Obwohl es sich nur in wenigen Fällen um direkte und dosisabhängige depressiogene Effekte handelt, wie etwa bei Reserpin oder hohen Kortisondosen, sollte dennoch vor allem
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Tabelle:
Schlüsselfragen an möglicherweise depressiv verstimmte Patienten
O Können Sie sich noch freuen? O Haben sich Interessen und Initiativen gegen früher verändert? O Haben Sie Schwierigkeiten, rasche Entscheidungen zu treffen? O Grübeln Sie viel? O Fühlen Sie sich erschöpft, unruhig, unmotiviert, angespannt? O Haben Sie Schlafstörungen?
Zum anderen kann auch eine heftige Antriebssteigerung (Agitiertheit) vorliegen. In diesem Fall wirkt der Patient unruhig, kann vielfach nicht ruhig sitzen, läuft herum, zeigt eine übermässig lebhafte Unruhe und Verzweiflung ausdrückende Mimik. Weitere zentrale Symptome der depressiven Begleitstörung sind ein mehr oder weniger deutlich wahrnehmbarer Interessenverlust, erhöhte Ermüdbarkeit und Energieverlust, reduzierte Konzentrationsfähigkeit, Denkhemmung, vielfach unbegründete oder übertriebene Schuldgefühle, Schlafstörungen, Verlust von Appetit, Gewicht und Libido. Ein ganz erhebliches Problem vieler Patienten ist eine ungewohnte Entscheidungsschwäche (Ambivalenz), die sie auch in ganz unerheblichen Fragen des Alltags vor erhebliche Probleme stellen kann.
bei Hinweisen auf eine begleitende depressive Komponente jeweils eine Nutzen-Risiko-Abwägung der gewählten Medikation vorgenommen werden.
Psychosomatische Erkrankungen Schliesslich gibt es komplexe Störungen im Sinne von Kombinationen zwischen Depressionen und somatischen Störungen aufgrund gemeinsamer Hintergründe und Vulnerabilitätsfaktoren. Beispiele dafür sind selbstentwertende Kognitionen und Verhaltensmuster, die letztlich zur neurohumoralen Erschöpfung mit einer Überlastung des Immunsystems führen und somit sowohl körperliche als auch emotionale Störungen bewirken können. In diesen Bereich sind die zahlreichen Varianten psychosomatischer Erkrankungen einzuordnen, bei denen neben körperlichen Beschwerden und Krankheitsbildern auch erhebliche therapierelevante depressive Symptome vorliegen. Schliesslich soll nicht unerwähnt bleiben, dass bei niedrigem Selbstwertgefühl eine körperliche Erkrankung ausreichen kann, um eine unterschwellige depressive Symptomatik in eine manifeste Depression eskalieren zu lassen.
Konkret nachfragen! Begleitdepressionen lassen sich oft schwer erfassen. Denn viele Patienten fokussieren bei der Schilderung ihrer Beschwerden auf ihre körperlichen Symptome, da sie sich ihrer psychischen «Schwäche» schämen. Dementsprechend bedarf es in vielen Fällen einer gezielten Nachfrage nach den Kardinalsymptomen depressiver Störungen. Die emotionalen Symptome verfügen über eine grosse Bandbreite, die von einer leichtgradig dysthymen Verstimmung über deutliche Niedergeschlagenheit, tiefe Traurigkeit bis zu absoluter Auslöschung aller emotionalen Gefühlsreaktionen reichen können.
Merkmale einer Depression Der aufmerksame Beobachter kann vielfach auch Veränderung der Psychomotorik sowie begleitende Antriebsstörungen wahrnehmen. Diese können sich zum einen als massive Antriebshemmung äussern: Der Patient spricht nicht viel, wirkt stark gehemmt, wie «blockiert», die Mimik wirkt verarmt und leblos, die Körperhaltung meist schlaff und gebeugt.
Auf Suizidalität achten! Besondere Aufmerksamkeit sollte man bei jedem Hinweis auf eine begleitende depressive Störung auch auf selbstaggressive suizidale Tendenzen richten. Diese werden von den Patienten vielfach nicht angesprochen, daher muss man gezielt nachfragen. Sollte sich dabei herausstellen, dass der Patient tatsächlich an der Sinnhaftigkeit seiner weiteren Existenz zweifelt, müsste in jedem Fall eine kompetente psychiatrische Diagnostik und schützende stationäre Therapie eingeleitet werden. Hilfreich für die Erfassung und Verlaufskontrolle depressiver Begleitstörungen können auch Depressionsskalen, zum Beispiel von Hamilton sein. Allerdings sollten die Patienten die Fragebögen nicht allein, sondern von einer erfahrenen Assistentin oder Therapeutin begleitet ausfüllen, um Missverständnisse oder Fehlinterpretationen zu vermeiden. Alternativ dazu kann man auch während der Konsultation einige Schlüsselfragen stellen (vgl. Tabelle). Mit diesen Fragen werden sowohl die Emotionalität, der Antrieb, die Ambivalenz als auch die gestörte vegetative und chronobiologische Steuerung erfasst. Naturgemäss wirkt sich die negativistisch-verunsicherte Haltung der Patienten auch auf die Patienten-Arzt-Beziehung aus. Beispielsweise sollte man bei diesen Patienten auch über die Mitteilung positiver Prognosen keine erkennbare Begeisterung erwarten.
Wann überweisen? Patienten mit massiver oder zunehmend eskalierender depressiver Symptomatik sollten unbedingt und ohne Verzögerung in fachärztliche Betreuung weiterverwiesen werden. Dasselbe gilt bei zusätzlich bestehender manifester Abhängigkeit von Alkohol, Hypnotika oder anderen Suchtmitteln sowie bei einer besonders ungünstigen psychosozialen Lebenssituation, die eine ambulante Stabilisierung vereitelt. Ergeben sich Hinweise auf zunehmende Selbstaggression, Zweifel am Sinn des Lebens oder gar Tendenzen im Sinne eines erweiterten Suizides, zum Beispiel: «Ich kann dieses Leben meinen Kindern nicht zumuten», dann hilft nur eine sofortige Einweisung in eine psychiatrische Klinik.
Medikamentöse Therapie durch den Hausarzt bei leichteren Fällen Handelt es sich um leichtere depressive Begleitstörungen, kann aufgrund der heute gegebenen Fortschritte der Psycho-
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pharmakologie eine antidepressive Medikation, speziell mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern, aber auch mit noradrenergen, serotonergen beziehungsweise dopaminergen Kombinationspräparaten in der hausärztlichen Praxis durchgeführt werden. Wie in anderen Bereichen mit einem nahezu unüberschaubaren Angebot an unterschiedlichen Präparaten macht es für den Allgemeinarzt am ehesten Sinn, sich von jeder Gruppe mit einigen wenigen gut verträglichen Antidepressiva vertraut zu machen. Besonders zu empfehlen ist hier der direkte Informationsaustausch mit einem regional tätigen psychiatrischen Kollegen. Dennoch sollen hier einige Grundsätze der begleitenden Depressionsbehandlung bei körperlichen Erkrankungen angesprochen werden: O Besonders wichtig ist die ausreichende Information des
Patienten über mögliche Nebenwirkungen wie etwa Gewichtszunahme, Mundtrockenheit, Libidominderung und andere mehr, die bei einzelnen Präparaten vorkommen. O Zur Vermeidung von Frustration und verminderter Compliance sollte der Patient auch unbedingt auf die zwei- bis dreiwöchige Wirklatenz der antidepressiven Medikamente hingewiesen werden. In dieser Phase kann gegebenenfalls eine Überbrückung durch moderne atypische Neuroleptika, Hypnotika beziehungsweise auch Tranquilizer zur Verminderung von Spannungen und Schlafstörungen erreicht werden. Dabei ist zu beachten, dass eine Medikation mit Tranquilizern beziehungsweise Hypnotika strenger ärztlicher Kontrolle bedarf, nie länger als zwei bis drei Wochen erfolgen sollte und bei Hinweisen auf Suchtgefährdung, zum Beispiel Alkoholismus, grundsätzlich fehlindiziert ist.
Ganz besonders ist aber auch auf mögliche Interaktionen antidepressiver Medikamente mit der übrigen, gegen die körperliche Erkrankung gerichteten Medikation zu achten. Ihre Identifizierung wird durch zahlreiche inzwischen recht gut entwickelte Interaktionskataloge wesentlich erleichtert.
Gesprächstherapie ebenfalls nötig
Ohne sehr ins Detail gehen zu können, soll hier auch ganz
deutlich angesprochen werden, dass alle depressiven Patien-
ten, speziell aber Menschen mit begleitenden körperlichen
Erkrankungen, auch einer begleitenden stützenden und auf-
wertenden Gesprächstherapie bedürfen.
Diese erfordert sicherlich ein entsprechendes Interesse sowie
Fingerspitzengefühl für ein gezieltes Eingehen auf die indivi-
duellen Hintergrundstörungen und Folgereaktionen des de-
pressiven Erkrankungsbildes. Dabei soll ganz besonders auf
die bei vielen depressiven Patienten gegebenen Gefühle der
Wertlosigkeit beziehungsweise auch ihre Scheu vor dem
Etikett einer psychischen Erkrankung geachtet werden.
In jedem Fall einer persistierenden depressiven Begleitstö-
rung empfiehlt sich aufgrund der gegebenen Komplexität
eine enge Zusammenarbeit mit psychiatrisch beziehungs-
weise psychotherapeutisch kompetenten Instanzen.
O
Prof. Dr. med. Herwig Scholz Diakonie de la Tour Alkoholberatung Spittal Egarter Platz 1, A-9800 Spittal E-Mail: alkoholberatung.spittal@diakonie-delatour.at
Interessenkonflikte: keine
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 5/2013. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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