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Titel
Arsenicum
Untertitel
Experten um mich
Lead
Vielleicht hätte ich es verhindern können. Denn mit einem Ohr hatte ich gehört, wie meine MPA am Telefon sagte: «Nein, deswegen müssen Sie nicht zum Doktor kommen. Sicher nicht.» «Wer war das?», fragte ich beim Vorbeilaufen, als ich den nächsten Patienten ins Sprechzimmer komplimentierte. «Frau A.», meinte meine MPA lächelnd. «Sie hat einen Niednagel.» Natürlich muss man deswegen nicht zum Arzt. Aber wenn Frau A. anruft, sollten unsere inneren Alarmglocken schrillen. Sie ist die Bagatellisiererin des Jahrhunderts und kommt – falls sie überhaupt kommt – kurz vor dem Exitus letalis. So geschehen mit der Perforation ihrer Appendix.
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Rubriken — ARSENICUM
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Experten um mich

V ielleicht hätte ich es verhindern können. Denn mit einem Ohr hatte ich gehört, wie meine MPA am Telefon sagte: «Nein, deswegen müssen Sie nicht zum Doktor kommen. Sicher nicht.» «Wer war das?», fragte ich beim Vorbeilaufen, als ich den nächsten Patienten ins Sprechzimmer komplimentierte. «Frau A.», meinte meine MPA lächelnd. «Sie hat einen Niednagel.» Natürlich muss man deswegen nicht zum Arzt. Aber wenn Frau A. anruft, sollten unsere inneren Alarmglocken schrillen. Sie ist die Bagatellisiererin des Jahrhunderts und kommt – falls sie überhaupt kommt – kurz vor dem Exitus letalis. So geschehen mit der Perforation ihrer Appendix. Sie habe «nur e weneli Ranzepfyffe» gehabt. Ihre Philosophie ist: «Kommt von selbst, geht von selbst.» Diesmal war der «böse Finger» eine Paronychie mit beginnender Osteitis. Frau A. musste zum Glück der Finger nicht amputiert werden, und die Sepsis wurde antibiotisch im Keim erstickt. Leider war der Aufnahmechirurg wieder der, der sie seinerzeit auch mit der Blinddarmentzündung gesehen hatte … Damals hatte sie gesagt: «Die Frau Doggder sagt immer, dass Fencheltee das Beste ist bei Bauchweh. Abwarten und Tee trinken, sagt sie immer.» Zwar sagt meine Frau das oft, aber in diesem Fall hatte und hätte sie es nicht gesagt, denn Frau A. hatte uns gar nicht angerufen, weil sie stets auf ihr Bauchgefühl vertraut. Doch das wusste der cholerische Chirurgenkollege nicht, als er mich anrief und mich zusammenstauchte. Doch was soll ich gegen all die Experten machen, die mich umgeben? Mit all den allwissenden Patienten wie Frau A. oder Frau Z., die weiss, was für sie gut ist. Sie lauscht in ihren Körper hinein, und der ruft augenscheinlich ständig: «Fett! Kohlehydrate!», die er dann bekommt. Spreche ich Frau Z. auf ihren BMI 39 an, berichtet sie mir energisch, dass sie fast nichts ässe, und schildert die neuesten Diäten der angesagtesten Abzocker der Abnehmmafia, denen sie sich gerade unterwerfe. Vermutlich als Zubrot zu ihren Leibspeisen. Frau Z. schaut mich an und betont: «Es sind Fachleute! Ernährungsexperten!» Auch die Ratgebenden in meiner Praxis machen mir das Leben schwer. Meine MPA weiss alles. Egal, ob Kochen, Garten, Kindererziehung oder Medizinisches – sie kommt draus und gibt Tipps. Als ihr der Aichgüetli-Buur sein Leid mit dem ältesten Bub klagt, trällert sie am Tresen: «Ein Klaps hat noch keinem Kind geschadet!» In der offenen Wartezone erschrickt die Kinderpsychologin, die ihre Kleine zum

Impfen bringt. Meinen pubertierenden Jüngsten, der liebesgramgebeugt hereinschlurft, mustert sie voller Mitleid. «Johanniskraut?», sagt meine MPA zu einer schwer depressiven Patientin am Telefon. «Klar dürfen Sie das zusätzlich zu Ihrem Antidepressivum einnehmen. Kein Problem. Ist ja was Natürliches, Pflanzliches.» Sofort reisse ich ihr den Hörer aus der Hand und teile der Anruferin mit, dass sie das auf keinen Fall tun solle und schildere die Interaktionswirkungen. Vermutlich erreiche ich damit aber nur, dass die Patientin noch niedergeschlagener wird, mich als groben, rechthaberischen Klotz ansieht und das Antidepressivum nun nicht mehr nimmt, sondern nur noch das Hypericum allein. Wegen der starken Frauen in meiner Praxis ist meine Autorität gering. Erstaunt sehe ich mir die stark nässende Mykose der alten Dame an. Anklagend sagt sie: «Ihre Creme hat nicht geholfen!» «Welche Creme? Sie zeigen mir den Fuss doch heute zun ersten Mal – ich habe dafür ja noch gar nichts verschrieben!» «Ihre nette Sprechstundenhilfe hat aber gesagt, ich solle die Creme vom letzten Mal versuchen.» Natürlich – die Kortikosteroidsalbe gegen die polymorphe Lichtdermatose im vorletzten Jahr. Jetzt wird mir das «Explodieren» des Fusspilzes klar. «Die Creme war doch gegen Ihre Sonnenbibeli!» «Ihre Sprechstundenhilfe hat aber gesagt, dass die Hautärzte sowieso immer nur Antibiotika, Antipilz- oder Kortisonsalbe verschrieben. Und dass ich bei den heutigen Medikamentenpreisen die Creme aufbrauchen solle, weil Kortison immer helfe. Hat weiss Gott genug gekostet!» Und so komme ich in den Ruf, die Leiden der Menschheit a) telefonisch und b) mit Hausmittelchen oder c) pflanzlich zu behandeln. «Super, dieser Chäslichrut-Sud!», verkündet die Kioskverkäuferin. «Bitte grüssen Sie Ihre Praxisschwester von mir. Hat sehr gut geholfen, ich hab’s genauso gemacht, wie sie es mir am Telefon erklärt hat. Und beste Grüsse auch an die Frau Doktor! Die hat immer recht.» «Merk es dir, und handle danach!», kichert meine Frau, als ich ihr das ausrichte. Dann wendet sie sich wieder dem choddernden CPD-Patienten zu und pflichtet ihm herzhaft bei, dass der tägliche Stumpen wirklich noch niemandem geschadet habe. «Hä! Hören Sie das, Herr Doktor!?», keucht der alte Herr triumphierend durch den Gang. «Da spricht die Fachfrau!»

ARSENICUM

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ARS MEDICI 17 I 2013