Transkript
Das multiple Myelom heute
Gute Erfolge mit Dreierkombinationen
FORTBILDUNG
Knochenschmerzen, Anämie, häufige Infektionen und Nierenfunktionsstörungen können auf ein multiples Myelom hindeuten. Eine Heilung ist nicht möglich, doch dank neuer Arzneistoffe lässt sich das Fortschreiten der Krankheit oftmals hinauszögern.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Das multiple Myelom ist die zweithäufigste hämatologische Krebserkrankung. Hauptsächlich ältere Menschen sind betroffen, wobei das mittlere Alter bei der Diagnose 70 Jahre beträgt. Verantwortlich sind genetische Veränderungen, die während der Differenzierung von B-Lymphozyten in Plasmazellen auftreten. Dadurch kommt es im Knochenmark zu einer Ansammlung maligner Plasmazellen, die funktionslose Antikörper, sogenannte Paraproteine, produzieren. Üblicherweise handelt es sich dabei um die Immunglobuline IgA und IgG. Des Weiteren werden häufig Leichtketten (Bence-JonesProteine) gebildet, die in Serum und Urin nachweisbar sind. Insbesondere diese Leichtketten können eine Nierenfunktionsstörung auslösen. In hohen Mengen können sie nämlich tubuläre Obstruktionen und daraus resultierende Entzündungen hervorrufen. Häufig wird bei betroffenen Patienten auch eine Anämie beobachtet, da blutbildende Stammzellen im Knochenmark oftmals von malignen Plasmazellen verdrängt werden. Hinzu kommt, dass Myelomzellen die Aktivität von Osteoklasten fördern und die Differenzierung von Osteoblasten unterdrücken. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht im Knochenstoffwechsel, was zur Auflösung des Knochens vor allem im Bereich des Krankheitsherds führt.
Merksätze
O Dem multiplen Myelom liegt eine Ansammlung entarteter Plasmazellen im Knochenmark zugrunde.
O Typische Begleiterscheinungen sind Hyperkalzämie, Knochenveränderungen, Nierenfunktionsstörungen, Anämie und eine schlechte Immunabwehr.
O Bei jungen und kräftigen Patienten kommt eine hochdosierte Chemotherapie mit autogener Stammzelltransplantation in Frage.
O Ältere Patienten mit Komorbiditäten werden nur mit einer Chemotherapie behandelt.
Gleichzeitig ist aus diesem Grund das Auftreten einer Hyperkalzämie möglich.
Diagnosestellung Eine Vorform ist die monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz (MGUS). Dabei ist das Knochenmark kaum mit malignen Plasmazellen infiltriert, und Paraproteine sind so gut wie nicht nachweisbar. Der Patient weist auch keine typischen Krankheitsanzeichen wie Hyperkalzämie, Nierenfunktionsstörungen, Anämie oder Knochenveränderungen auf. Mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 1 Prozent pro Jahr kann sich allerdings ein Myelom bilden. Ein asymptomatisches Myelom liegt vor, wenn mehr entartete Plasmazellen und Paraproteine auftreten, doch keine Organ- oder Gewebestörungen beobachtet werden. Das Risiko des Übergangs in die symptomatische Form beträgt 10 Prozent pro Jahr. Im Falle eines malignen Myeloms kann es manchmal einige Zeit dauern, bis es richtig diagnostiziert wird. Die zugrunde liegenden Symptome sind meistens nicht spezifisch, weshalb oft in einer anderen Richtung gesucht wird. Ein Beispiel: Laut einer Erhebung warteten 56 Prozent der Patienten mehr als 6 Monate, bevor sie von einem Allgemeinmediziner an einen Hämatologen verwiesen wurden. Ein Drittel der Fälle wird schliesslich erst aufgrund eines medizinischen Notfalls entdeckt, wobei bei diesen Personen eine schlechte Prognose vorliegt.
Behandlungsstrategien Menschen mit MGUS oder einem asymptomatischen Myelom werden beobachtet, doch eine Therapie erfolgt erst im symptomatischen Stadium. Die Eckpfeiler der Behandlung sind dann der Proteasominhibitor Bortezomib (Velcade®) sowie die Immunmodulatoren Thalidomid und Lenalidomid (Revlimid®). Die meisten Patienten sprechen darauf gut an, woraufhin sich die Erkrankung stabilisiert und eine gute Lebensqualität erreicht wird. Verschiedene grosse Phase-IIIStudien befürworten den Einsatz hochdosierter Chemotherapie in Verbindung mit autogener Stammzelltransplantation als Standardmassnahme bei jungen und kräftigen Patienten. Die klassische Kombination aus Vincristin, Doxorubicin und Dexamethason wurde mittlerweile durch neuere Arzneimittelregime ersetzt. Am besten sind Initialbehandlungen mit Bortezomib plus Dexamethason (Fortecortin®) und einer dritten Substanz wie Thalidomid, Doxorubicin (Adriblastin®) oder Cyclophosphamid (Endoxan®) untersucht. Im Vereinigten Königreich wird aufgrund der Myeloma-IX-Studie auch häufig Cyclophosphamid zusammen mit Thalidomid und Dexamethason verwendet.
ARS MEDICI 15/16 I 2013
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FORTBILDUNG
Kasten 1:
Tests zur Diagnosestellung
Screening-Tests in der Allgemeinarztpraxis O grosses Blutbild O Serumkreatinin und -harnstoff O Erythrozytensedimentationsrate oder Plasmaviskosität O Serumkalzium und -albumin O Serumelektrophorese O Bence-Jones-Proteine im Urin O Röntgenuntersuchungen
Weitere Tests beim Hämatologen O Knochenmarkdiagnostik O Immunfixation in Serum und Urin O Nachweis von freien Leichtketten im Serum O Skelettuntersuchungen
Ergänzende Tests zur Bestimmung des Ausmasses und der Prognose O Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung vom Knochenmarkaspirat O Serum-β2-Mikroglobulin-Konzentration O Serumalbuminkonzentration O Quantifizierung monoklonaler Proteine in Serum und Urin
Kasten 2:
Diagnosekriterien gemäss der International Myeloma Working Group
Symptomatisches Myelom Alle 3 Kriterien müssen erfüllt werden: O monoklonale Plasmazellen im Mark ≥10% O monoklonales Protein in Serum oder Urin (ausser bei der
nichtsezernierenden Form: hier sind ≥30% monoklonale Plasmazellen im Knochenmark erforderlich) O Organ- oder Gewebestörungen aufgrund des Myeloms: – Hyperkalzämie (> 10,5 mg/dl bzw. 2,6 mmol/l oder noch
grenzwertig normal) – Nierenfunktionsstörung (Serumkreatinin > 2 mg/dl bzw.
176,8 µmol/l) – Anämie (Hämoglobin < 100g/l oder 20 g unter Normalwert) – lytische Knochenläsionen, Osteoporose oder pathologische
Frakturen
Asymptomatisches Myelom Beide Kriterien müssen erfüllt werden: O monoklonale Proteine ≥30 g/l oder monoklonale Plasma-
zellen im Mark ≥10% O keine Organ- oder Gewebestörungen aufgrund des Myeloms
Ältere Patienten oder Menschen mit schwerwiegenden Komorbiditäten erhalten üblicherweise nur eine Chemotherapie, wenn sie für eine autogene Stammzelltransplantation zu schwach sind. Die Kombination aus Melphalan (Alkeran®) und Prednisolon wird seit den 1960er-Jahren bei älteren Leuten eingesetzt. Seit der Veröffentlichung neuerer Studienergebnisse werden allerdings nun Melphalan und Prednisolon plus Thalidomid oder Bortezomib standardmässig bei diesem Personenkreis empfohlen. Nach einem Rückfall wird das gleiche Behandlungsschema nur dann nochmals angewendet, wenn damit eine lange progressionsfreie Zeit von mindestens 12 Monaten erzielt wurde. Generell ist eine zweite Chemotherapie mit den gleichen oder anderen Wirkstoffen bei mindestens der Hälfte der Patienten erfolgreich. Weitere Rückfälle sind allerdings zunehmend schwerer therapierbar. Die Aussichten von Personen, die auf Immunmodulatoren und Bortezomib nicht ansprechen, sind schlecht – das mittlere Gesamtüberleben beträgt 9 Monate.
Begleiterscheinungen Bei einer Nierenfunktionsstörung ist es wichtig, die Konzentration freier Leichtketten im Serum zu senken. Dies kann mittels Plasmapherese oder Hämodialyse erfolgen. Eine Plasmapherese kann ebenfalls erforderlich werden, wenn durch hohe Paraproteinkonzentrationen (IgA >40g/l, IgG >60g/l) eine Hyperviskosität ausgelöst wird. Um venöse Thromboembolien zu verhindern, wird zudem beim Beginn einer immunmodulatorischen Behandlung die Gabe von Aspirin oder niedermolekularem Heparin empfohlen. Daneben kann eine Anämie durch Transfusionen oder Erythropoietin (Eprex® u.a.) behoben werden. Bei Knochenschäden ist die orthopädische Chirurgie in manchen Fällen gefragt. Etwa bei vertebralen Frakturen kann die Vertebroplastie oder die Kyphoplastie helfen, wobei als Zement Polymethylmethacrylat verwendet wird. Knochenschmerzen ohne Frakturen sollten dahingegen vorrangig bestrahlt werden. Generell
MGUS Alle 3 Kriterien müssen erfüllt werden: O monoklonales Protein <30 g/l O monoklonale Plasmazellen im Knochenmark <10% O keine Organ- oder Gewebestörungen aufgrund des Myeloms Anhand der vorhersagekräftigen Parameter Albumin und β2-Mikroglobulin im Serum erfolgt die Stadieneinteilung gemäss dem Internationalen Staging System (ISS): Stadium I Serum-β2-Mikroglobulin <3,5 mg/l und Albumin ≥35 g/l Stadium II Stadium I und III treffen nicht zu Stadium III Serum-β2-Mikroglobulin ≥5,5 mg/l (unabhängig vom Albuminwert) gehört die Gabe von Bisphosphonaten unabhängig von Knochen- läsionen zur üblichen Praxis. Zoledronsäure (Zometa® und Gene- rika) wird am häufigsten eingesetzt, Vorsicht ist jedoch bei Nieren- funktionsstörungen geboten. Letztendlich spielt auch die Schmerzkontrolle eine wichtige Rolle. Hier werden gerne Opiate verschrieben, wohingegen nichtsteroi- dale Antirheumatika im Hinblick auf Nierenkomplikationen zu meiden sind. Bei neuropathischen Schmerzen sind ausserdem Gabapentin (Neurontin® und Generika) oder Serotonin-Noradre- nalin-Wiederaufnahme-Inhibitoren wie Amitriptylin (Saroten®) hilfreich. O Monika Lenzer Quelle: Smith D et al: Multiple myeloma. BMJ 2013; 346: f3863. Interessenkonflikte: Gemäss den Autoren bestehen keine Interessenkonflikte. 808 ARS MEDICI 15/16 I 2013