Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Oberflächen verinnerlichen
W
arum wettern Leute über «Oberflächlichkeit»? Nerzmanteleignerinnen und Besitzer chinesischer antiker Lackmöbel wer-
den mir beistimmen, dass man sich für Oberflächen
durchaus begeistern kann. Ein ansprechendes Äusse-
res führt oft dazu, dass man aufmerksam wird und sich
für das Darunterliegende interessiert, wie dies schöne
Menschen und Schaufensterdekorateure wissen. Muss
denn alles immer Tiefgang haben? Warum fordern wir
das? Vor allem den Amerikanern wird stets Oberfläch-
lichkeit vorgeworfen, weil sie schnell Kontakt finden,
Meister des Small Talks und des Komplimente-Ma-
chens sind. Doch graben sie mal so richtig tief, wie es
ihr Geheimdienst in unserer elektronischen Korrespon-
denz augenscheinlich tut, dann ist es auch wieder nicht
recht … Ich finde die amerikanische Offenheit und Ex-
travertiertheit herrlich. Mit fremden Menschen kommt
man in den USA schnell ins Gespräch, anstatt kostbare
Lebenszeit mit Fremdeln und Misstrauen zu vergeu-
den, tauscht sich aus, hat Spass miteinander und erfährt
Informatives. Und wer hätte es nicht gerne, wenn ihm
immer wieder gesagt wird: «You’re looking great
today!» Ich habe nicht das Bedürfnis, mit jedermann
über Kants kategorischen Imperativ tiefsinnige Ge-
spräche zu führen, ihm mein Innerstes zu offenbaren
oder die nächsten zwanzig Jahre mit ihm zu korres-
pondieren. Sondern mit den meisten Zeitgenossen
will ich ein paar freundliche Worte wechseln. Nehme
gerne Tipps entgegen, wo schöne Badestrände und
gute Pizzerias sind.
In den USA weiss man, wie wichtig das Äussere und
der erste Eindruck ist, daher wird auch mit ärztlicher
Hilfe viel dafür getan. Vermutlich inzwischen schon zu
viel, denn wenn Alter per se als hässlich gilt, wenn jede
Vierzehnjährige für einen «nose job» spart und es
keine nicht silikonverstärkten Brüste mehr gibt, ist das
bedenklich.
Aber alle Akne- und Ekzempatienten, alle Dunkelhäuti-
gen können ein Lied davon singen, wie vom Äusseren
auf das Innere geschlossen wird und welche Konsequenzen das für ihr Leben hat. Oberflächen haben nicht nur repräsentative Funktionen, erregen nicht nur Interesse, Abkehr oder Ehrfurcht. Sondern sie grenzen auch das Innere zur Aussenwelt ab. Die Sonnenbrände meiner Patienten zeigen ihnen, dass man für seine Oberfläche Sorge tragen sollte. Und auch die inneren Oberflächen verdienen Respekt, wie es die Tropenrückkehrer lernen mussten, die sich nicht an «cook it, peel it oder forget it» hielten, und nun mit grosser antibiotischer Artillerie Darmbakterien und -parasiten bekämpfen. In den Anatomievorlesungen war ich stets beeindruckt, wenn die Dozenten vortrugen, wie viele Kilometer Hautnerven und wie viele Millionen Rezeptoren wir in unserer Haut haben. Dass die Lungenoberfläche und die Oberfläche des Darmlumens die Grösse eines Fussballfeldes haben. Genüsslich stellte ich mir vor, wie mein Konfibrot von einer solchen riesigen Verdauungsfläche eingesogen wurde. Später verstand ich, dass Raucher nach zwei Lungenzügen sich schon glücklich fühlen. Alles eine Frage der Oberfläche. Die Natur gibt sich grosse Mühe damit. Speziell unsere Haut ist ein sensationelles Konstrukt. Mal von der Barrierefunktion abgesehen, hat sie ein quasi eingebautes Kühlsystem und ist ein sehr wichtiges Sensibilitäts- und Lustorgan. Wenn die Natur, der Schöpfer oder wer auch immer beim Erschaffen von Oberflächen mal Fehler gemacht hat, ist es nicht gut, wie Patienten wissen, deren Villi genetisch in die falsche Richtung schlagen, sodass ihre inneren Organe ihre Säuberungsfunktion nicht erfüllen, worauf lebensbedrohliche Infektionen auftreten. Deshalb gilt es, Respekt vor den Oberflächen zu haben. Das predige ich täglich meinen Patienten. BMW-Fahrern, denen Lackkratzer einen Stich in die Seele geben, nötige ich Sonnencreme auf, damit sie mal die eigene Körper-Karosserie wertschätzen.
ARSENICUM
792
ARS MEDICI 15/16 I 2013