Transkript
FORTBILDUNG
Streit um GLP-1-Mimetika und Gliptine
Wie relevant sind potenzielle Risiken für Pankreas und Schilddrüse?
Heftige Debatten löste vor rund zwei Jahren die Nachricht aus, dass GLP-1-basierte Therapien möglicherweise das Risiko für Pankreatitis, Pankreaskarzinom und Schilddrüsentumoren erhöhen könnten. Die Diskussion hält bis heute an und nimmt an Schärfe zu, nicht zuletzt wegen der möglichen wirtschaftlichen und juristischen Konsequenzen. In der Zeitschrift «Diabetes Care» erläuterte man kürzlich die unterschiedlichen wissenschaftlichen Standpunkte.
stimuliert die Insulinfreisetzung und senkt gleichzeitig die Produktion von Glukagon. Beides führt zu einer Senkung des Blutzuckers. GLP-1 verzögert darüber hinaus die MagenDarm-Passage, und es fördert das Sättigungsgefühl. Der Mechanismus der heiss diskutierten GLP-1-basierten Diabetestherapien beruht auf zwei verschiedenen Wegen, die beide zu einer Verstärkung des GLP-1-Effekts führen: GLP1-Mimetika (Exenatid, Liraglutid) binden an den Rezeptor des Glucacon-like peptide 1 (GLP-1). Gliptine (Saxagliptin, Sitagliptin, Linagliptin, Vildagliptin u.a.) bremsen den Abbau von GLP-1, indem sie das GLP-1-abbauende Enzym, die Dipeptidylpeptidase (DPP-4), hemmen.
DIABETES CARE
Wie unterschiedlich man die Dinge in Bezug auf die GLP-1basierten Antidiabetika sehen kann, zeigt sich in den Beiträgen von Peter Butler (1) und Michael Nauck (2). Mitunter führen die Resultate der gleichen Studie Nauck und Butler zu ganz unterschiedlichen Konklusionen. Nauck argumentiert vor allem mit dem Nutzen der GLP-1-basierten Medikamente und hinterfragt kritisch die klinische Relevanz von Befunden aus Tierexperimenten und Metaanalysen der vorhandenen Patientendaten. Butler und seine Koautoren wiederum stellen all diese Befunde in einen Zusammenhang, der ihre Bedenken vor allem in Hinsicht auf langfristige potenzielle Risiken begründet.
Wie wirken GLP-1-basierte Antidiabetika? Physiologisch wird GLP-1 von neuroendokrinen Zellen des Darms bei Nahrungsaufnahme ins Blut sezerniert und innert Minuten von DPP-4 (Dipeptidylpeptidase) abgebaut. GLP-1
Merksätze
❖ Es gibt Hinweise, die für ein potenziell erhöhtes Risiko für Pankreatitis, Pankreaskarzinom und Schilddrüsenkarzinom unter GLP-1-basierten Medikamenten sprechen.
❖ Die klinische Relevanz dieser Hinweise wird kontrovers diskutiert.
❖ Die US-amerikanische und die europäische Diabetesfachgesellschaft (ADA) und (EASD) sehen derzeit keinen Grund, die aktuellen Therapieempfehlungen zu ändern.
Überwiegt der Nutzen potenzielle Risiken? Die Abwägung zwischen Risiko und Nutzen spricht für Michael Nauck klar zugunsten der Medikamente: «Der Nutzen überwiegt die potenziellen Risiken bei Weitem», schreibt er im Untertitel seines Artikels. An erster Stelle der Vorteile nennt er die den Insulinen und Sulfonylharnstoffen ebenbürtige blutzuckersenkende Wirkung, ohne dass diese mit einem Hypoglykämierisiko einhergeht. Als weiteres wichtiges Argument für die GLP-1-basierte Therapie führt Nauck an, dass diese nicht, wie andere Antidiabetika, das Risiko einer Gewichtszunahme mit sich bringt. Vielmehr ist mit GLP-1Mimetika bei den meisten Patienten ein Rückgang um zwei bis vier Kilogramm zu beobachten, und bei den Gliptinen bleibt das Gewicht zumindest unverändert, oder es ist sogar ein kleiner Rückgang zu verzeichnen. Zu den Nachteilen der GLP-1-basierten Therapie zählt Nauck die bekannten Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö und andere unerwünschte gastrointestinale Symptome, die bei 3 bis 8 Prozent der Patienten zum Absetzen der Medikation führten. Allerdings gingen diese Beschwerden nach längerem Gebrauch der Medikamente oft zurück. Pankreatitis, Pankreaskarzinom, Schilddrüsentumoren sowie eine erhöhte Pulsrate unter GLP-1-basierten Therapien seien hingegen seltene Ereignisse mit unklarer klinischer Bedeutung. Es gebe zwar gewisse bedenkliche Befunde, doch würden diese in vielerlei Hinsicht kontrovers diskutiert und nur teilweise durch entsprechende Daten gestützt. Auf der Grundlage des heutigen Wissens seien GLP-1-basierte Medikamente als wirksam und sicher zu beurteilen. Selbstverständlich müsse man offenen Fragen nachgehen, aber die Sicherheitsbedenken bezüglich des exokrinen Pankreas und der Schilddrüse seien bis anhin nicht ausreichend bewiesen und sollten den Therapieentscheid zurzeit nicht beeinflussen, schreibt Nauck.
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Bedenken aufgrund von Wirkmechanismen GLP-1-Rezeptoren finden sich in zahlreichen Geweben, sodass ihre Aktivierung auch Stoffwechselwege in Gang setzen kann, die vorderhand nichts mit der Regelung der Blutglukose zu tun haben. So wurden GLP-1-Rezeptoren nicht nur in den Betazellen des Pankreas, sondern auch im exokrinen Pankreas, in Schilddrüsengewebe, Meningen, renalen Tubuli und Knochen nachgewiesen. Darum müsse man besonders wachsam bezüglich unerwünschter Nebenwirkungen sein, argumentieren Peter Butler und seine Koautoren. Sie geben darüber hinaus zu bedenken, dass GLP-1 normalerweise eine sehr kurze Halbwertszeit hat und darum nur kurz an seinen Rezeptor bindet, während es durch die Anwendung von GLP-1-Mimetika oder Gliptinen zu einer länger andauernden Aktivierung des Rezeptors kommt. Gliptine blockieren auch den Abbau eines anderen Inkretins, des GIP (gastric inhibitory polypeptide). Die langfristige Bedeutung dieser Hemmung sei bis jetzt noch unbekannt, so Butler. Michael Nauck weist in seinem Beitrag zusätzlich darauf hin, dass DPP-4 unter der Bezeichnung CD26 als Marker aktivierter T-Zellen bekannt sei, es bis anhin jedoch keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Hemmung von DPP-4/CD26 die Immunfunktion beeinträchtige.
Bedenken aufgrund von Tierversuchen Im Tierversuch fördern GLP-1-basierte Therapien das Zellwachstum im exokrinen Pankreas, was zu einer Zunahme des Pankreasgewichts führt. Auch menschliche Drüsenzellen des Pankreas reagieren auf GLP-1 mit vermehrtem Wachstum. Mit Sitagliptin kam es bei HIP-Ratten (einem Modell für Typ-2-Diabetes) bei 1 von 8 Tieren zu einer hämorrhagischen Pankreatitis sowie bei einigen anderen der Versuchstiere zu prämalignen Veränderungen im exokrinen Pankreas. Bei den Tieren unter Plazebo traten keine Veränderungen im Pankreas auf. Die Resultate zweier Kurzzeitstudien mit Exenatid und Liraglutid mit einem anderen Tiermodell (ZDF-Ratten) wurden hingegen insgesamt als positiv für die GLP-1-Therapie gewertet. Allerdings stiegen in beiden Studien die Pankreasenzyme an, 1 der 12 Ratten mit Exenatid starb an einer massiven Pankreasnekrose, und bei anderen mit GLP-1Mimetika behandelten Tieren traten Metaplasien in Acinusund Gangzellen des Pankreas sowie Herde duktaler Hyperplasie auf, berichtet Butler. Er argumentiert, dass die Tierversuche insgesamt betrachtet eine plausible Erklärung für die Pathogenese einer akuten Pankreatitis bei Diabetespatienten unter GLP-1-basierter Therapie sind. Dem widerspricht Michael Nauck und weist darauf hin, dass es sowohl positive als auch negative Tierversuche gebe. So seien zwar histologische Veränderungen im exokrinen Pankreas mit Exenatid und Sitagliptin nachgewiesen, aber eine Studie mit Liraglutid bestätige das nicht. Die gleiche Liraglutidstudie ist für die von Butler und seine Koautoren hingegen kein Beweis der Unbedenklichkeit: Sie kritisieren, dass man die Liraglutidgabe zwei Wochen vor Studienende gestoppt und das Pankreasgewicht der Versuchstiere nicht publiziert habe (war es erhöht oder nicht?). Bemängelt wird auch, dass Langzeitresultate für Exenatid bei nicht diabetischen Affen bis heute nicht publiziert worden seien. Ausserdem habe man bei der histologischen Untersuchung nicht genau genug hingeschaut: Während in den Arbeiten, auf die sich die Beden-
ken gründen, jeweils das gesamte Pankreas mit zahlreichen histologischen Schnitten untersucht worden sei, habe man in dieser Studie, welche die Bedenken nicht bestätigte, nur eine routinemässige Histologie mit wenigen Schnittpräparaten pro Pankreas durchgeführt.
Wie sieht es beim Menschen aus? Es ist bekannt, dass Pankreatitis bei Diabetespatienten ohnehin häufiger ist als bei Gesunden. Die Frage, ob eine GLP-1basierte Therapie das Pankreatitisrisiko zusätzlich erhöht, wird von den Autoren entsprechender Analysen widersprüchlich beantwortet. So kommen die einen zu dem Schluss, dass akute Pankreatitis mit Exenatid nicht häufiger sei, als es ohnehin bei Diabetikern zu erwarten ist, während die anderen ein deutlich erhöhtes Risiko postulieren. Prospektive Studien gibt es nicht, sodass man bis anhin nur auf Beobachtungen und retrospektive Auswertungen von Krankenakten zurückgreifen kann (Fallkontrollstudien, s. unten).
Die Nebenwirkungsdatenbank der FDA Für eine pankreatitisfördernde Wirkung der GLP-1-basierten Medikamente spreche die stetig wachsende Anzahl entsprechender Meldungen in der Nebenwirkungsdatenbank der FDA, so Butler. Mehr akute Pankreatitisfälle als üblich zeigten sich dort bereits ein Jahr nach der Markteinführung von Exenatid. Eine Auswertung im Jahr 2011 ergab, dass die Anzahl gemeldeter Fälle von akuter Pankreatitis bei Diabetikern unter Exenatid deutlich höher ist als bei Diabetikern ohne GLP-1-basierte Therapien. Nun ist das Adverse Events Reporting System der FDA keine streng kontrollierte Datenbank, sondern jeder Arzt, der vermeintliche oder echte Nebenwirkungen findet, kann diese dort eintragen oder auch nicht. Statistische Aussagen aufgrund dieser Datenbasis sind darum nur mit Vorsicht zu interpretieren. Butler räumt ein, dass diese FDA-Datenbank nur als ein Frühwarnsystem für potenzielle Gefahren gedacht ist und ihre Daten keine Beweise für eine Ursache-WirkungsBeziehung liefern. Bis anhin sei ihm und seinen Koautoren jedoch kein einziger Fall bekannt, in dem sich ein starkes Alarmsignal in der FDA-Datenbank später als irrelevant herausgestellt habe. Seit 2011 ist die Anzahl der Meldungen akuter Pankreatitisfälle in den USA für Exenatid von 971 auf 2327 gestiegen und für Sitagliptin von 131 auf 718. Kein Wunder, meint Nauck, da erfahrungsgemäss eine Diskussion automatisch die Melderate dieser Nebenwirkung steigere. Selbstverständlich sei dies so, gibt Butler zu. Ein Signal bezüglich Exenatid habe sich jedoch bereits lange vor der ersten entsprechenden FDABenachrichtigung an die Ärzte gezeigt. Darüber hinaus gibt es nun auch 888 gemeldete Fälle bei Patienten mit Liraglutid, 125 für Saxagliptin und 43 für Linagliptin. Im Gegensatz zu anderen Diabetesmedikamenten generiere somit jedes GLP1-basierte Medikament mit einem genügend grossen Marktanteil ein Pankreatitissignal, schreiben Butler und seine Koautoren.
Die Fallkontrollstudien Wie bereits erwähnt, kommen die Autoren unterschiedlicher Studien zu unterschiedlichen Konklusionen, ob GLP-1-
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basierte Therapien ein erhöhtes Risiko für Pankreatitis mit sich bringen oder nicht. Auch hier zieht man mitunter unterschiedliche Konklusionen aus den gleichen Daten. So kamen die Autoren eines Vergleichs der Daten von 25 700 Diabetikern mit Exenatid mit 234 500 Diabetikern mit anderen Medikamenten zu dem Schluss, dass akute Pankreatitis bei Diabetikern zwar generell mehr vorkomme, mit Exenatid aber nicht mehr als ohnehin zu erwarten sei. Anders interpretieren Butler und seine Koautoren die gleichen Daten: Insgesamt seien es sehr wohl mehr Pankreatitisfälle bei den Diabetikern gewesen, die aktuell oder in der Vergangenheit Exenatid benutzten, nämlich 15 von 10 000 gegenüber 10 von 10 000. Überdies habe man in dieser Studie der Tatsache zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet, dass die Pankreatitisrate bei ehemaligen Exenatidanwendern um fast das Dreifache erhöht war. Die Studienautoren begründeten das damit, dass die Pankreatitis zu einem Zeitpunkt aufgetreten sei, an dem die Patienten gar kein Exenatid mehr nahmen. Butler und seine Koautoren geben hingegen zu bedenken, dass genau diese Patienten möglicherweise das Exenatid aufgrund früher Symptome einer Pankreatitis abgesetzt haben könnten. Auf der anderen Seite stehen auch Studien, die als Argument für die Bedenken angeführt werden, unter Kritik. So ermittelte man anhand der Hospitalisierungsraten wegen akuter Pankreatitis ein doppelt so hohes Risiko für Diabetiker mit GLP-1-basierten Medikamenten. Michael Nauck überzeugt das nicht: Möglicherweise sei die Diagnose «akute Pankreatitis» nicht immer zutreffend, denn man könne nicht ausschliessen, dass eine Kombination aus Magenkrämpfen (einer bekannten Nebenwirkung von GLP-1-basierten Medikamenten) und spontan erhöhter Serumlipase als akute Pankreatitis fehlgedeutet worden sei. Angesichts der kleinen Fallzahlen hätte man zudem die GLP-1-basierten Medikamente Exenatid und Sitagliptin zusammen betrachten müssen, da bei alleiniger Betrachtung der einzelnen Medikamente keine statistische Signifikanz erreicht worden wäre. An diesen beiden Beispielen wird ein grundsätzliches Problem in der Diskussion deutlich. Die fraglichen klinischen Befunde sind per se selten und die Medikamente noch nicht allzu lange auf dem Markt: Die publizierten Fallzahlen sind darum klein und erlauben bis anhin keine definitive Aussage zur klinischen Relevanz.
Das Pankreaskarzinomrisiko Brisanter als die Frage nach dem Pankreatitisrisiko ist diejenige nach dem Pankreaskarzinom. Pankreatitis gilt als Risikofaktor für das Pankreaskarzinom. Könnten GLP-1basierte Therapien also letztlich zu mehr Pankreaskarzinomen führen? In der FDA-Datenbank finden sich mehr Fälle von Pankreaskarzinom bei Diabetikern mit GLP-1-basierter Therapie als ohne. Die Relevanz dieses Unterschieds ist jedoch umstritten, weil Diabetiker generell ein höheres Pankreaskarzinomrisiko haben. Es dürfte auch in der Zukunft schwierig sein, die Hypothese eines erhöhten Pankreaskarzinomrisikos unter GLP-1-basierter Therapie definitiv zu beweisen oder zu widerlegen. Eine prospektive Studie würde unrealistisch hohe Patientenzahlen erfordern. Pankreaskarzinome sind sehr selten. Bei Nichtdiabetikern ist mit weniger als 0,1 Fäl-
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len pro 1000 Patientenjahre zu rechnen, und für Diabetiker schwanken die Angaben in der Literatur von weniger als 1 bis zu 5 Fällen pro 1000 Patientenjahre*. Peter Butler und seine Koautoren betonen, dass GLP-1basierte Therapien per se nicht kanzerogen seien, aber die Entwicklung eines Pankreaskarzinoms auf dem Boden einer Pankreatitis möglicherweise fördern könnten. In diesem Zusammenhang kritisieren Butler und seine Koautoren auch die bereits oben genannten Tierversuche mit gesunden, nicht diabetischen Tieren, die als Beleg für die Sicherheit der Substanzen gelten. Diese Studien seien wenig aussagekräftig, was die Verhältnisse bei Diabetes angehe, weil diese Tiere in der Regel eben keine prämalignen Zellveränderungen im Pankreas aufwiesen. Sie befürchten ausserdem, dass die akute Pankreatitis sozusagen nur die Spitze eines Eisbergs sei, weil diese Substanzen sowohl die Häufigkeit subklinischer Pankreatitiden steigern als auch eine subklinische, prämaligne Proliferation im Pankreas fördern könnten. Man müsse in diesem Zusammenhang bedenken, dass eine leichte chronische Pankreatitis bei Personen im mittleren Alter nicht selten sei und gerade Diabetiker dieser Altersgruppe zur typischen Zielgruppe für eine GLP-1-basierte Therapie gehörten, so Butler und seine Koautoren. Michael Nauck hingegen argumentiert mit der aktuellen klinischen Situation. Er weist darauf hin, dass es bis anhin keinen einzigen Fallbericht gebe, in welchem ein Patient mit einem zuvor morphologisch tumorfreien Pankreas nach der Gabe von GLP-1-basierten Medikamenten ein Pankreaskarzinom entwickelt habe. Gleichzeitig räumt er ein, dass man – wenn es denn ein langfristiges Risiko gebe – einen solchen Fall angesichts der relativ kurzen Zeit seit Markteinführung der GLP-1-basierten Therapien wahrscheinlich noch nicht sehen würde.
Die Autopsiestudie Intraepitheliale Läsionen im Pankreas, sogenannte PanIN, sind prämaligne Veränderungen, aus denen sich ein Pankreaskarzinom entwickeln kann – aber keineswegs zwingend entwickeln muss. PanIN kommen nämlich bei bis zu 50 Prozent der Bevölkerung im mittleren Alter vor, aber nur aus sehr wenigen entwickelt sich tatsächlich ein Karzinom. Erst nach vielen Zellteilungen kann durch Akkumulation somatischer Mutationen aus PanIN ein Pankreaskarzinom werden. Somit wäre jede Substanz, die das Auftreten und die Zellteilung der PanIN erhöht, potenziell krebsfördernd. Sowohl PanIN als auch Pankreaskarzinomzellen des Menschen tragen GLP-1Rezeptoren. Kürzlich wurde die erste Autopsiestudie mit menschlichen Pankreata publiziert. Verglichen wurden die Pankreata von 8 diabetischen Organspendern, die entweder mit Sitagliptin (7 Fälle) oder Exenatid (1 Fall) behandelt worden waren, mit den Pankreata von 12 verstorbenen Diabetikern, die keine GLP-1-basierte Therapie erhalten hatten, sowie mit Pankreata von 14 verstorbenen Nichtdiabetikern: Mit
*Für die Schweiz wären es demnach weniger als 750 Fälle pro Jahr unter Nichtdiabetikern und knapp 500 bis 2500 Fälle pro Jahr unter den Diabetikern. Das tatsächliche Risiko in der Schweiz scheint eher am unteren Ende der Schätzungen zu liegen: Nach Angaben der Schweizer Krebsliga erkranken pro Jahr rund 1100 Personen in der Schweiz an einem Pankreaskarzinom.
GLP-1-basierter Therapie war das Pankreas um 40 Prozent grösser, die Proliferation im exokrinen Pankreas war erhöht, und es fanden sich mehr PanIN-Läsionen sowie eine deutliche Alphazellhyperplasie und Mikroadenome in 3 der 8 Pankreata sowie in einem Fall ein neuroendokriner Tumor. Während Butler sich durch diese Befunde in seiner Hypothese bestätigt sieht, bezweifeln Kritiker wie Nauck die Vergleichbarkeit der Patientenkollektive in dieser Autopsiestudie und warnen vor allzu weitreichenden Schlussfolgerungen. Vielmehr müssten diese Befunde zunächst in weiteren Studien mit einer repräsentativeren Auswahl an Pankreata bestätigt werden, da eine lang dauernde chronische Erkrankung per se der Grund für einige der proliferativen Befunde gewesen sein könnte.
Und die Schilddrüse? Ein allfälliges Risiko für die menschliche Schilddrüse wurde lange verneint, weil man annahm, dass die menschliche Schilddrüse – anders als bei Nagern – keine Rezeptoren für GLP-1 aufweist. Mittlerweile weiss man, dass es auf einer Subpopulation der C-Zellen der Schilddrüse GLP-1-Rezeptoren gibt. Bei C-Zell-Hyperplasie, einer potenziell prämalignen Vorstufe der medullären Schilddrüsentumoren, wird der GLP-1-Rezeptor stärker exprimiert. Nauck stellt die klinische Relevanz dieses Befunds infrage und führt unter anderem eine Studie ins Feld, wonach das Serumcalcitonin (ein Marker für proliferierende C-Zellen und medulläres Schilddrüsenkarzinom) bei 5000 Diabetikern und adipösen Nichtdiabetikern nicht erhöht gewesen ist. Butler wiederum weist darauf hin, dass der GLP-1-Rezeptor auch auf 20 Prozent der papillären Schilddrüsentumoren zu finden sei, für die Serumcalcitonin kein Marker ist. Überdies sei zu bedenken, dass okkulte, ruhende Mikrofoci papillärer Schilddrüsentumoren in der Bevölkerung nicht so selten seien (ca. 7% der Bevölkerung). Man müsse sich fragen, warum relativ kurze negative Studien mit Affen unter GLP-1-basierter Therapie als ausreichender Sicherheitsnachweis erachtet würden, so Butler. Wie beim Pankreas könne die proliferative Wirkung des GLP-1 nicht nur auf gesundes Gewebe, sondern auch auf prämaligne Läsionen treffen und dort möglicherweise eine beschleunigte Progression in Richtung Tumor bewirken. Auch in diesem Punkt der Diskussion ist die Beweisführung in die eine wie die andere Richtung wegen der Seltenheit der zur Frage stehenden Endpunkte schwierig.
Wie geht es weiter? Am 10. Juni 2013 forderte die American Diabetes Association (ADA) die Hersteller von GLP-1-basierten Medikamenten dazu auf, alle Daten offenzulegen (3). Die ADA verlangt von den Herstellern, alle Daten detailliert auf Patientenniveau zur Verfügung zu stellen, sodass diese von unabhängigen Wissenschaftlern ausgewertet werden könnten. Vorangegangen war dieser Forderung ein umfangreicher Bericht im «British Medical Journal» (BMJ) zu Pankreatitis, Pankreaskrebs und Schilddrüsenkarzinom unter GLP-1basierter Therapie, in welchem detailliert geschildert wird, wie ungünstige Sicherheitsdaten von Firmen zurückgehalten, unterdrückt oder manipuliert wurden (4). Der BMJ-Bericht
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beruht auf den vorliegenden Publikationen sowie Recherchen und Analysen auch unpublizierter Daten, wobei die Einsicht in nicht öffentlich zugängliche Unterlagen zum Teil gerichtlich erzwungen werden musste. Am 13. Juni 2013 schlossen sich die Teilnehmer einer Konferenz am National Institute of Diabetes, Digestive and Kidney Diseases (NIDDK) in Bethesda mehrheitlich der Argumentation von Michael Nauck an. An der Konferenz waren Endokrinologen, Pathologen, Diabetologen, Onkologen und Epidemiologen sowie Herstellerfirmen und FDA vertreten. Man war sich mehrheitlich einig, dass die Daten bis anhin keinen Beweis für ein erhöhtes Risiko für Pankreaskarzinom unter GLP-1-basierter Therapie lieferten und es längere und grössere Studien benötige, um das abzuklären. Es sei klar, dass Krebs sich nur langsam entwickle und man darum heute nicht wisse, ob und gegebenenfalls welchen Effekt GLP-1basierte Therapien in dieser Hinsicht in 10 bis 20 Jahren bewirkten. Weiterhin war man sich einig, dass Pankreatitis eine komplexe Diagnose mit vielen Fragezeichen sei und exakte Diagnosekriterien fehlten. Die von Peter Butler präsentierten Daten wurden vor allem methodisch kritisiert, berichtet Prof. Helmut Schatz, Mediensprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (5).
Am 27. Juni 2013 erklärten ADA und EASD (European
Association for the Study of Diabetes) in einem gemeinsamen
Statement, dass es zurzeit keinen Grund gebe, die aktuellen
Therapieempfehlungen zu ändern. Die Patienten sollten über
Nutzen und Risiken umfassend informiert werden, und der
behandelnde Arzt müsse bei der Entscheidung für oder gegen
eine Therapie die Nutzen und Risiken für jeden einzelnen
Patienten individuell abwägen (6).
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Renate Bonifer
1. Butler PC et al.: A critical analysis of the clinical use of incretin-based therapies: Are the GLP-1 therapies safe? Diabetes Care 2013; DOI: 10.2337/dc12-2713, published online May 21, 2013.
2. Nauck M: A critical analysis of the clinical use of incretin-based therapies: The benefits far outweigh the potential risks. Diabetes Care 2013; DOI: 10.2337/dc12-2504, published online May 21, 2013.
3. ADA wants firms to disclose incretin data. www.medpagetoday.com, 13 june 2013. 4. Cohen D: Has pancreatic damage from glucagon suppressing diabetes drugs been
underplayed? BMJ 2013;346:f3680 doi: 10.1136/bmj.f3680, published 10 June 2013. 5. http://blog.endokrinologie.net/inkretine-pankreaskrebs-928/. 6. Pressemitteilung von ADA und EASD vom 27. Juni 2013.
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Pressemitteilung des SZB vom 24. Juni 2013
Quelle: Pressetext der Freiberuflichen Medizinischen GrundversorgerInnen der Schweiz, FMGS
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