Transkript
FORTBILDUNG
Serie: Kompressionstherapie
Kompression – wichtigste therapeutische Massnahme beim Lymphödem
Das Lymphödem ist eine chronisch progrediente Erkrankung, vorläufig ohne kurative Möglichkeit. Wichtigste therapeutische Massnahme ist eine konsequente Kompressionstherapie ergänzt mit manueller Lymphdrainage. Der benötigte medizinische Kompressionsstrumpf richtet sich nach dem klinischen Bild. Der Kompressionsstrumpf sollte der Wirkung einer kurzzugigen Kompressionsbandage nahekommen.
STEPHAN WAGNER
Wenn auf Kapillarebene die Filtration grösser ist als der kolloidosmotische Druck und der Lymphabfluss zusammen, dann entwickelt sich ein Ödem. Ursache kann eine erhöhte Filtration sein (entzündliche Prozesse oder venöse Hypertonie), ein reduzierter kolloidosmotischer Druck (Hypalbuminämie) oder eine funktionelle oder anatomische Lymphabflussstörung. Bei Letzterem spricht man vom Lymphödem. Das Lymphgefässsystem hat die resorptive Aufgabe, inter-
Merksätze
❖ Das Lymphödem ist eine chronisch und häufig progrediente Erkrankung, die lebenslanger Behandlung bedarf.
❖ An das Krankheitsbild denken ist die halbe Diagnostik.
❖ Mittels intensiver komplexer physikalischer Entstauungstherapie, d.h. der Kombination von täglicher manueller Lymphdrainage und Kurzzugkompressionsbandage, wird eine Entödematisierung angestrebt, die in der Erhaltungsphase durch konsequentes Tragen eines angepassten Kompressionsstrumpfes langfristig unter Kontrolle gehalten werden kann.
❖ Ein anhaltendes Resultat wird nur bei guter Compliance des Patienten erreicht. Diese wiederum beruht auf der Kenntnis seines Krankheitsbildes und einer guten fachärztlichen und therapeutischen Betreuung.
❖ Zur intensiven Entstauung bedarf es gelegentlich eines stationären Aufenthalts an einem spezialisierten Zentrum.
stitielle Proteine, Flüssigkeit, Zelltrümmer, Bakterien usw. aufzunehmen und abzuführen. Damit wird der interstitielle kolloidosmotische Druck reduziert, der dem intravasalen, die Flüssigkeit rückresorbierenden kolloidosmotischen Druck entgegenwirkt. Die Lymphe ist immer proteinreich. Somit ist ein Lymphödem charakterisiert durch ein proteinreiches interstitielles Ödem. Das Lymphödem ist eine chronische und im Normalfall progrediente Erkrankung, bisher ohne kurative Therapie.
Abbildung 1: Primäres Lymphödem
Primäres Lymphödem Das primäre Lymphödem tritt in der Regel sporadisch auf, selten hereditär oder Syndrom-assoziiert. Ursache ist eine Hypo- oder Hyperplasie der Lymphgefässe oder eine Lymphknotenfibrose. Es ist meist an den unteren Extremitäten lokalisiert und in der Regel einseitig. Erste klinische Zeichen zeigen sich meist um die Pubertät, es kann sich aber auch bereits kurz nach der Geburt oder zu einem späteren Zeitpunkt erstmanifestieren. Die Prävalenz ist schlecht untersucht und wird in einer Studie mit 1,15:100 000 angegeben. Insgesamt ist dieses Krankheitsbild eher selten. Frauen sind ca. 5 × häufiger betroffen.
Sekundäres Lymphödem Ursache des sekundären Lymphödems ist eine Unterbrechung der Lymphbahnen. Man unterscheidet dabei benigne (Trauma, Infekte) oder maligne (krebsassoziierte) Ursachen. Die häufigste Ursache in der westlichen Welt ist sicher tumorassoziiert, als Folge eines operativen Lymphknotenstagings mit Radiotherapie, vereinzelt auch durch Zytostatika bedingt. Bei notwendiger axillärer Lymphknotendissektion liegt die Inzidenz eines Armlymphödems noch immer bei 16 bis 20 Prozent und bei Lymphadenektomie paraaortal, iliakal oder
Abbildung 2: Sekundäres Lymphödem
762
ARS MEDICI 14 ■ 2013
SERIE KOMPRESSIONSTHERAPIE
inguinal bei etwa 15 Prozent. Jedes chronische Ödem (sei es bei chronisch venöser Insuffizienz, Herzinsuffizienz, aber auch bei Adipositas) führt irgendwann zu einer meist volumenbedingten Überlastungsinsuffizienz der lymphatischen Transportkapazität mit konsekutivem sekundärem Lymphödem.
Diagnostik und Klinik
Wichtigster Punkt bei der Diagnostik eines
Lymphödems ist, in den differenzialdiagnosti-
schen Überlegungen überhaupt daran zu den-
ken. Selbstverständlich gilt es bei einer einseitig
geschwollenen Extremität alle anderen Ursa-
chen auszuschliessen, wie zum Beispiel eine
Thrombose oder einen Primär- /Rezidivtumor.
Abbildung 3: Stemmer-Zeichen
Neben der Anamnese einer persistierenden Schwellung findet sich als klinisches Zeichen
häufig ein positives Stemmer-Zeichen (Abbil-
dung 3). Dabei kann die Haut über der ent-
spannten Zehe nicht mehr gefasst und angeho-
ben werden. Die Zehen sind kantig, die Zehen-
falten rarifiziert bei gleichzeitiger Ausbildung
gröberer Zehengrundfalten.
Über die Jahre kann sich zunehmend eine ausge-
Abbildung 4: Papillomatosis cutis lymphostatica
dehnte subkutane Fibrosierung und Sklerosierung ausbilden, wie auch eine Papillomatosis cutis lymphostatica der Haut (Abbildung 4).
Während die klinischen Zeichen beim primären
Lymphödem von distal nach proximal abnehmen, besteht
beim sekundären Lymphödem ab Unterbruchstelle eine sich
nach distal ausbreitende Schwellneigung. Die analogen klini-
schen Zeichen finden sich alle auch an der oberen Extremität.
Klinische Stadieneinteilung Die Stadieneinteilung erfolgt nach der International Society of Lymphology (ISL) oder Földi (Kasten 1). Dabei spricht man vom Stadium I, wenn sich das Lymphödem über Nacht noch spontan erholt, vom Stadium II, wenn keine spontane Erholung mehr beobachtet wird (weil bereits eine zunehmende Fibrosierung besteht), und vom Stadium III, der Elephantiasis. In diesem können neben einer gigantischen Extremität auch ausgedehnte lymphatisch bedingte sekundäre Veränderungen beobachtet werden wie ausgedehnte Fibrose, Papillomatose, Lymphzysten oder Ulzerationen.
Therapieoptionen Die therapeutischen Möglichkeiten sind limitiert. Für einzelne Patienten wird es in naher Zukunft voraussichtlich auch operative Optionen geben. Gute Ergebnisse scheinen die autologe Lymphknotentransplantation bei sekundärem Lymphödem zu zeigen. Auch die mikrochirurgische Anlage von lymphvenösen Shunts, wie bereits an vereinzelten Zentren weltweit durchgeführt, zeigen in ersten Studien gute Ergebnisse. Am Einsatz von lymphatischen Wachstumsfaktoren (VEGF) wird intensiv geforscht.
Kompression und manuelle Lymphdrainage oder komplexe physikalische Entstauungstherapie Etabliert und auch in nächster Zukunft für die meisten Patientinnen und Patienten die Therapie der Wahl ist die komplexe physikalische Entstauungstherapie (s. Schema).
Filtration > KOD + Lymphabfluss
(Diuretika Albumin)
P intravasal > P extravasal
Kompression:
Bandage/-Strumpf P extravasal
Lymphfluss anregen
Filtrationsmenge/ P
Unterst ützung • Lymphbildung • lymphvenöser Rückfluss
Ödem
Manuelle Lymphdrainage
Schema: Therapieansatz beim Lymphödem
Über die manuelle Lymphdrainage werden die Lymphgefässe zu maximaler Tätigkeit stimuliert, diese beginnt immer im Mündungsbereich clavikulär und arbeitet sich nach peripher vor. Die wichtigste Massnahme aber ist die absolut konsequente Kompressionstherapie. Flüssigkeit lässt sich nicht komprimieren, aber sie lässt sich verschieben. Durch die Kompression wird der interstitielle Druck angehoben, womit
Kasten 1:
Klinische Stadieneinteilung des Lymphödems*
❖ 0: Latenzstadium, keine Klinik, positive apparative Tests ❖ I: spontan reversibel, spontane Rückbildung über Nacht, Ödem
weich, Stemmer +/❖ II: spontan irreversibel, keine vollständige Rückbildung über Nacht
(Fibrosierung), Stemmer meist positiv ❖ III: Elephantiasis, subkutane Fibrose und Sklerose, Hautverände-
rungen (Pachydermie, Hyperkeratose, Papillomatose) *nach Földi/ISL
Abbildung 5: Fortgeschrittenes primäres Lymphödemm (li.: zu Beginn, re.: nach 18 Tagen): Hier ist eine stationäre komplexe physikalische Entstauungstherapie erforderlich.
ARS MEDICI 14 ■ 2013
763
SERIE KOMPRESSIONSTHERAPIE
Kasten 2:
Patienten-Evidenz: Je höher die Kompression, desto besser die Entstauung
Maschenweite ermöglicht. Durch das Zusammennähen sind diese Kompressionsstrümpfe deutlich aufwendiger in Produktion und Preis. Sie sind jedoch die Therapie der Wahl bei allen Formen des fortgeschrittenen Lymphödems.
❖ Kompressionsleggingshose plus
❖ Kompressionscaprihose plus
❖ A-G Kompressionsstrumpf plus
❖ A-D Kompressionsstrumpf plus
❖ Kompressionszehenkappen
Klasse IV Klasse III Klasse IV Klasse IV Klasse II
kombinierter Kompressionsdruck etwas oberhalb des Knöchels rechnerisch ca. 140 mmHg
die Filtrationsmenge abnimmt und damit auch das ödempflichtige interstitielle Flüssigkeitsvolumen. Die Kompression verschiebt die interstitielle Flüssigkeit aber auch in die terminalen, resorptionsfähigen Lymphkapillaren und unterstützt zusätzlich den Lymphabfluss. In einer ersten intensiven Phase, in der das Ziel einer Entödematisierung besteht, wird die manuelle Lymphdrainage täglich eingesetzt, verbunden mit einer fachgerecht angelegten Kurzzug-Kompressionsbandage. Zusätzlich setzen die Therapeuten fibroselockernde oder den Druck verstärkende Schaumstoffelemente ein. In der Erhaltungsphase wird die manuelle Lymphdrainage klinikangepasst, wöchentlich oder intermittierend angewendet. Immer aber muss eine konsequente Kompressionstherapie durchgeführt werden. In dieser Phase wird der Kompressionsstrumpf eingesetzt.
Welcher Druck? Welche Kompressionsklasse?
Die wenigen, aktuell vorliegenden Studien zur Bestimmung
des optimalen Kompressionsdruckes ergeben, dass ein mode-
rater Druck (das heisst unter 30 mmHg am Arm) einem höhe-
ren Druck überlegen zu sein scheint. Auch am Bein scheinen
Druckwerte um 40 mmHg ideal, Druckwerte über 70 mmHg
möglicherweise deutlich weniger effektiv.
Viele meiner Patienten würden dies aber nie bestätigen, denn
sie tragen, teils bis zur Toleranzgrenze, mehrere Kompres-
sionsstrümpfe übereinander (Druckwerte addieren sich) und
haben damit ihr Lymphödem gut unter Kontrolle. Im Alltag
gilt es den für den individuellen Patienten optimalen Strumpf
oder die optimale Strumpfkombination nach und nach heraus-
zuarbeiten (siehe auch Kasten 2).
Ein «erfahrener» Lymphpatient kann sehr schnell sagen, wo
Korrekturen, Ergänzungen oder eine Steigerung des Druckes
notwendig sind.
❖
Dr. med. Stephan Wagner Leitender Arzt und Facharzt FMH Angiologie RehaClinic Bad Zurzach E-Mail: angiologie@rehaclinic.ch
Interessenskonflikte: keine
Alle Fotos/Abbildungen: Wagner/RehaClinic
Literatur beim Verfasser
Kompressionsstrumpf Die Aufgabe des Kompressionsstrumpfes ist es, eine möglichst kontinuierliche und permanente Kompression auszuüben, um der im Tagesverlauf bedingten Einstauung entgegenwirken zu können. Ein idealer Kompressionsstrumpf wäre infolge dessen sehr einfach und sehr elastisch anzulegen, danach aber starr und unelastisch in der Tragephase. Aufgrund dieser diskrepanten Anforderungen kann ein Kompressionsstrumpf nie eine gute Kurzzugkompressionsbandage ersetzen, aber er kann sich dieser annähern. Gefordert ist ein Kompressionsstrumpf mit möglichst hohem Arbeitsdruck. Diese Voraussetzungen erfüllen am besten dicke und fest/dicht rundgestrickte Kompressionsstrümpfe sowie alle flachgestrickten Kompressionsstrümpfe. Die in einem Zylinder nahtlos rundgestrickten Kompressionsstrümpfe weisen auf allen Höhen die gleiche Maschenzahl auf, und es wird mit der Vordehnung und der Maschenweite gearbeitet. Rundgestrickte Kompressionsstrümpfe mit einem kurzzugigen Verhalten dürfen bei leichten Formen des Lymphödems durchaus eingesetzt werden. Bei fortgeschrittenen Formen des Lymphödems, insbesondere bei unförmigen Extremitäten, sollte jedoch zwingend ein sogenannter Flachstrickstrumpf zur Anwendung kommen. Diese werden zweidimensional gestrickt, was die Variation der Maschenzahl bei gleicher
Im Rahmen dieser Serie, die auf Anregung der Firma Sigvaris entstand, kommen verschiedene Experten zu Wort. Deren Angaben basieren auf der aktuellen Studienlage und Erfahrungswerten aus der Praxis.
764
ARS MEDICI 14 ■ 2013