Transkript
STUDIE REFERIERT
HIV und Herzinfarktrisiko
Zur antiretroviralen Behandlung wurden in der VACS Proteaseinhibitoren in Kombination mit nukleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NRTI), nicht nukleosidische ReverseTranskriptase-Inhibitoren (NNRTI) in Kombination mit NRTI und andere Regime angewendet. Einige Veteranen erhielten keine ART.
Aus einer gross angelegten Kohortenstudie geht hervor, dass bei HIVPatienten im Vergleich zu nicht infizierten Personen das Risiko für einen akuten Herzinfarkt erhöht ist. Ein höheres Herzinfarktrisiko im Vergleich zu nicht infizierten Personen bleibt auch nach Abgleich für die üblichen kardiovaskulären Risikofaktoren und bei sehr geringer Viruslast bestehen.
JOURNAL OF THE AMERICAN MEDICAL ASSOCIATION INTERNAL MEDICINE
Da HIV-Patienten mittlerweile erfolgreich antiretroviral behandelt werden können, ist ihre Lebenserwartung höher, und somit nimmt auch das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen zu. Matthew S. Freiberg von der University of Pittsburgh School of Medicine (USA) und seine Arbeitsgruppe untersuchten nun in einer Kohortenstudie, ob eine HIV-Erkrankung
Merksätze
❖ Die HIV-Infektion ist nach Abgleich für Framingham-Risikofaktoren, Komorbiditäten und Substanzmissbrauch unabhängig mit dem Herzinfarkt assoziiert.
❖ Die Framingham-Risikofaktoren Hepatitis C, Nierenerkrankungen und Anämie sind ebenfalls jeweils unabhängig mit dem Herzinfarkt assoziiert.
❖ Ein erhöhtes Herzinfarktrisiko im Vergleich zu nicht infizierten Personen besteht auch bei HIV-Patienten mit HIV-1-RNA-Werten von ≥ 500 Kopien/ml.
nach Abgleich für alle Standard-Framingham-Risikofaktoren im Vergleich zu nicht infizierten Personen mit einem erhöhten Risiko für einen akuten Herzinfarkt verbunden ist (1).
Kohortenstudie Für ihre Untersuchung nutzten die Wissenschaftler Daten der Veterans Aging Cohort Study (VACS), einer grossen prospektiven Kohorte HIV-infizierter und nicht infizierter Veteranen mit vergleichbaren klinischen und rassischen/ethnischen Charakteristika sowie ähnlichen Verhaltenscharakteristika beispielsweise im Hinblick auf die Prävalenz an Substanzmissbrauch (Alkohol, Zigaretten, Kokain). Für die Analyse wurden alle Veteranen ausgewählt, die ab dem 1. April 2003 in die Kohorte aufgenommen worden waren. Das Follow-up erstreckte sich von Behandlungsbeginn bis zu einem akuten Herzinfarkt, bis zum Tod oder bis zur letzten Studienerhebung am 31. Dezember 2009. Als primärer Endpunkt wurde der akute Herzinfarkt definiert. Nach Ausschluss von Patienten, die zu Studienbeginn an kardiovaskulären Erkrankungen gelitten hatten, analysierten die Wissenschaftler die Daten der verbleibenden Personen im Hinblick auf folgende Risikofaktoren: ❖ HIV-Status ❖ Alter ❖ Geschlecht ❖ Rasse/Ethnie ❖ Bluthochdruck ❖ Diabetes mellitus ❖ Dyslipidämie ❖ Raucherstatus ❖ Hepatitis-C-Infektion ❖ Body-Mass-Index (BMI) ❖ Nierenerkrankungen ❖ Anämie ❖ Substanzmissbrauch ❖ CD4+-Zell-Zahlen ❖ HIV-1-RNA ❖ antiretrovirale Therapie (ART) ❖ Inzidenz des akuten Herzinfarkts
Ergebnisse Im Rahmen ihrer Untersuchung werteten die Wissenschaftler die Daten von 82 459 Personen (27 350 HIV-infiziert und 55 109 nicht infiziert) aus. Mehr als 97 Prozent der Teilnehmer waren Männer, und das durchschnittliche Alter lag bei 48 (HIV-Patienten) beziehungsweise 49 (nicht infizierte Veteranen) Jahren. Zu Studienbeginn waren in der HIV-infizierten Gruppe nur die Anteile der Raucher, der Personen mit niedrigem HDL-Cholesterin-Spiegel und der Patienten mit erhöhten Triglyzeridwerten höher als bei den nicht infizierten Vergleichspersonen. Das durchschnittliche Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen war in beiden Gruppen mittelgradig ausgeprägt. Während des medianen Follow-ups von 5,9 Jahren kam es zu 871 akuten Herzinfarkten. Über einen Altersbereich von drei Jahrzehnten war die durchschnittliche Anzahl der akuten Herzinfarkte pro 1000 Personenjahre bei den HIVinfizierten Veteranen im Vergleich zu den nicht infizierten konsistent und signifikant höher (p < 0,05). In drei jeweils zehn Jahre umfassenden Altersgruppen wurden folgende Ereigniszahlen/1000 Personenjahre ermittelt: ❖ 40–49 Jahre: 2,0 (95%-Konfidenz- intervall [KI]: 1,6–2,4) bei HIVPatienten vs. 1,5 (95%-KI: 1,3–1,7) bei nicht infizierten Personen ❖ 50–59 Jahre: 3,9 (3,3–4,5) vs. 2,2 (1,9–2,5) ❖ 60–69 Jahre: 5,0 (3,8–6,7) vs. 3,3 (2,6–4,2). Zwar waren die Herzinfarktraten pro 1000 Personenjahre bei HIV-Patienten im Vergleich zu den nicht infizierten Kontrollpersonen signifikant höher, das durchschnittliche Alter zum Zeitpunkt des Ereignisses (56,4 vs. 56,2 Jahre, p = 0,42) und die durchschnittliche Zeit bis zum Ereignis (3,3 vs. 3,4 Jahre, p = 0,28) waren jedoch vergleichbar. ARS MEDICI 14 ■ 2013 745 STUDIE REFERIERT Auch nach Adjustierung für Framingham-Risikofaktoren, Komorbiditäten und Substanzmissbrauch lag bei den HIV-positiven Veteranen ein höheres Risiko für einen akuten Herzinfarkt vor als bei den nicht infizierten Personen (Hazard-Ratio [HR]: 1,48; 95%KI: 1,27–1,72). Die Framingham-Risikofaktoren, Infektion mit Hepatitis C, Nierenerkrankungen und Anämie waren jeweils unabhängig mit einem akuten Herzinfarkt assoziiert. Das Risiko für einen akuten Herzinfarkt war am höchsten bei Personen mit HIV-1-RNA-Werten von mindestens 500 Kopien/ml oder mit CD4+Zell-Zahlen von weniger als 200 Zellen/ml. Die Anwendung von Proteaseinhibitoren war knapp signifikant mit einem akuten Herzinfarkt assoziiert. Ein erhöhtes Herzinfarktrisiko im Vergleich zu nicht infizierten Veteranen blieb auch bei HIV-Patienten mit HIV-1-RNA-Werten von weniger als 500 Kopien/ml bestehen (HR: 1,39; 95%-KI: 1,17–1,66) (1). Fazit und Diskussion Aus den Ergebnissen geht hervor, dass eine HIV-Infektion mit einem um etwa 50 Prozent erhöhten Risiko für einen akuten Herzinfarkt verbunden ist – zusätzlich zu dem Risiko, das durch die traditionellen kardiovaskulären Risikofaktoren erklärt werden kann (1). Die Resultate der Kohortenstudie stimmen mit denen älterer Untersuchungen im Hinblick auf eine potenzielle Verbindung zwischen ART und Herzinfarktrisiko bei HIV-Patienten überein. Die Assoziation zwischen Proteaseinhibitoren und akutem Herzinfarkt erreichte in der vorliegenden Studie zwar nur eine geringe Signifikanz, in Kombination mit dem immer noch erhöhten Risiko bei Personen mit HIV-1RNA-Werten von weniger als 500 Kopien/ml weist dies jedoch darauf hin, dass die ART zum Herzinfarktrisiko beiträgt. Insgesamt legen die Ergebnisse der Kohortenstudie und älterer Untersuchungen nahe, dass sich das erhöhte Herzinfarktrisiko bei HIV-Patienten vermutlich in Abhängigkeit von HIV und ART sowie von den gesundheitlichen Belastungen durch Komorbiditäten – einschliesslich der Framingham-Risikofaktoren – ergibt (1). Der Mechanismus, durch den eine HIV-Infektion das Herzinfarktrisiko erhöht, ist nicht bekannt. Zu möglichen Einflussfaktoren gehören: ❖ Entzündungsreaktionen ❖ erniedrigte CD4+-Zell-Werte ❖ veränderte Koagulation ❖ Dyslipidämie ❖ beeinträchtigte arterielle Elastizität ❖ endotheliale Fehlfunktionen. Die ART ist mit Stoffwechselveränderungen und einer veränderten Fettverteilung assoziiert, die wiederum mit Insulinresistenz, Diabetes und Dyslipidämie in Verbindung stehen (1). Sowohl die HIV-Erkrankung selbst als auch die ART sind mit einem erhöhten Herzinfarktrisiko verbunden. Die Ergebnisse der Strategies for Management of Antiretroviral Therapy Study zeigen jedoch, dass die Virensuppression in einem niedrigeren kardiovaskulären Risiko resultiert als die konventionelle Erhaltungstherapie. Das weist darauf hin, dass das HI-Virus im Hinblick auf das Herzinfarktrisiko eine grössere Rolle spielt (1). Eine Erweiterung des FraminghamRisikofaktor-Modells um die HIVInfektion war mit einer Erhöhung des Risikos für einen akuten Herzinfarkt verbunden. Das weist darauf hin, dass das Herzinfarktrisiko HIV-positiver Personen mit dem nicht erweiterten Framingham-Risiko-Modell unterschätzt werden könnte und eine entsprechende Ergänzung deshalb möglicherweise klinisch sinnvoll wäre. Als weitere Limitierung ihrer Studie betrachten die Wissenschaftler, dass die untersuchte Kohorte fast ausschliesslich aus Männern bestand und die Ergebnisse möglicherweise nicht auf Frauen übertragbar sind (1). Kommentar Patrick G. W. Mallon vom University College in Dublin (Irland) kommentiert Studie und Ergebnisse in einem Kommentar in derselben Ausgabe des JAMA. Bis anhin beruhte die Abschätzung des Herzinfarktrisikos bei HIV vorwiegend auf dem Vergleich der Herzinfarktraten in einzelnen Studien mit HIV-Patienten und nicht infizierten Personen, wobei die Einflüsse unterschiedlicher sozioökonomischer Faktoren und des Lebensstils innerhalb der HIV-infizierten Gruppe auf die Herzinfarktraten meist nicht berücksichtigt werden konnten. In einer älteren Studie wurde jedoch innerhalb einer Kohorte von HIV-Patienten eine signifikant unterschiedliche Mortalität in Abhän- gigkeit von Geschlecht, Bildungsstand und Rasse/Ethnie beobachtet. Freiberg und seine Arbeitsgruppe verringerten diese Verzerrungen, indem sie ihre Kontrollpopulation aus einem Perso- nenkreis mit ähnlichem demografi- schem und geografischem Hintergrund wie die zu untersuchende HIV-Kohorte zusammenstellten (2). Die Auswertung der VACS bringt nach Meinung des Kommentators einige Vor- teile mit sich. Dazu gehören die grosse Personenanzahl und die Möglichkeit, detaillierte Daten sowohl zur HIV-Er- krankung als auch zu Herzinfarkten zu erhalten. Zudem können HIV-Patien- ten und nicht infizierte Personen im Hinblick auf eine Reihe verschiedener Risikofaktoren abgeglichen werden, so- dass der Einfluss der HIV-Erkrankung selbst auf die Herzinfarktraten genauer abgeschätzt werden kann (2). Da das erhöhte Herzinfarktrisiko bei HIV-Patienten nicht vollständig durch die Einflüsse konventioneller Risiko- faktoren erklärt werden kann, ist davon auszugehen, dass Interventionen zur Reduzierung des Herzinfarktrisi- kos in der Allgemeinbevölkerung nicht mit einer ähnlichen Risikoreduzierung bei HIV-Patienten verbunden sind. Das in der Studie von Freiberg et al. um etwa 50 Prozent erhöhte Herzinfarkt- risiko bei HIV-Patienten verdeutlicht nach Patrick Mallons Ansicht die Not- wendigkeit weiterer Untersuchungen bei Frauen, der Erforschung der Me- chanismen, die zu diesem erhöhten Risiko führen, und der Entwicklung spezieller Interventionen zur Reduzie- rung des Herzinfarktrisikos bei HIV- Patienten (2). ❖ Petra Stölting Quellen: 1. Freiberg MS et al.: HIV infection and the risk of acute myocardial infarction. JAMA Intern Med 2013; 173(8): 614–622. 2. Mallon PWG: Getting to the heart of HIV and myocardial infarction. JAMA Intern Med 2013; 173(8): 622–623. Interessenkonflikte: 1. Die Studie wurde vom National Heart, Lung, and Blood Institute und dem National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism an den National Institutes of Health finanziert. Die National Institutes of Health nahmen keinen Einfluss auf die Studie und deren Publikation. 2. Der Autor hat Honorare und andere Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten. 746 ARS MEDICI 14 ■ 2013