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STUDIE REFERIERT
Frühe und kurzzeitige antiretrovirale Therapie bei primärer HIV-Infektion
Der optimale Zeitpunkt für den Beginn einer antiretroviralen Therapie wird kontrovers diskutiert. Zwei neue Studien weisen darauf hin, dass sich der frühzeitige Beginn einer antiretroviralen Therapie günstig auf die Wiederherstellung der CD4+-T-Zell-Zahlen auswirkt.
NEW ENGLAND JOURNAL OF MEDICINE
Die antiretrovirale Therapie (ART) hat den Krankheitsverlauf nach einer Infektion mit dem humanen Immundefizienzvirus (HIV) verändert. In ressourcenreichen Ländern sind derzeit mehr als zwei Dutzend HIV-Medikamente mit immer besserer Wirksamkeit bei immer geringerer Toxizität verfügbar. Patienten, die derartige Medikamente erhalten, haben eine fast normale Lebenserwartung und Lebensqualität (1). Angesichts der langfristigen negativen Auswirkungen der persistenten Virämie und des Nutzens der ART wird zu einem immer frühzeitigeren Behand-
Merksätze
❖ Innerhalb von 4 Monaten nach einer HIV-Infektion kommt es zu einer spontanen vorübergehenden Erholung der CD4+-Zell-Zahl.
• Anschliessend nimmt die CD4+-Zell-Zahl kontinuierlich ab.
• Der Beginn einer langfristigen ART innerhalb des restaurativen Zeitfensters begünstigt die Erholung der CD4+-Zellen.
• Eine befristete ART über 48 Wochen im Zeitraum der Primärinfektion verzögert die Progression des CD4+-Zell-Verlusts nicht signifikant.
lungsbeginn geraten. Die Richtlinien ressourcenreicher Länder empfehlen eine ART für nahezu alle HIV-infizierten Personen. Für Länder mit begrenzteren Ressourcen wird in den Richtlinien der World Health Organisation (WHO) eine ART für alle HIV-Patienten mit weniger als 350 CD4-positiven T-Zellen/mm³ Blut empfohlen (1). Jetzt präsentierten zwei Arbeitsgruppen ihre Studienergebnisse im Hinblick auf den Nutzen des Timings einer frühen ART im Zusammenhang mit dem vermuteten Ansteckungszeitpunkt. Beide Studienteams orientieren sich zur Beurteilung der Krankheitsprogression hauptsächlich am Surrogatparameter der CD4+-T-Zell-Zahl und nur sehr begrenzt am klinischen Ergebnis (1).
Ausgeprägtere CD4+-T-Zell-Erholung bei früherem ART-Beginn Tuan Le vom Veterans Affairs Research Center for AIDS and HIV-1 Infection (San Antonio, USA) und sein Team untersuchten den Zusammenhang zwischen dem Beginn einer ART nach dem geschätzten Infektionszeitpunkt und der Erholung der CD4-positiven T-Zellen (2). Die HIV-1-Infektion ist durch einen raschen und vollständigen Verlust der peripheren CD4-positiven T-Zellen gekennzeichnet. Anschliessend folgt eine vorübergehende Zeitspanne, in der sich die Zellzahlen spontan erholen. Danach nimmt die Anzahl der CD4+-T-Zellen kontinuierlich ab. Aus der Beobachtung dieses dreiphasigen Verlaufs ergibt sich die Fragestellung, ob kurz nach der Infektion ein restauratives Zeitfenster existiert, in dem das Immunsystem mit Hilfe einer ART strategisch auf «Erholung» positioniert werden kann, sodass sich die Wahrscheinlichkeit und das Ausmass der Wiederherstellung der CD4-positiven T-Zellen erhöhen (2). Um diese Hypothese zu prüfen, evaluierten die Autoren eine grosse, gut
charakterisierte Kohorte HIV-infizierter Personen, die entweder bereits im Rahmen der akuten Infektion oder etwas später, in einem frühen Infektionsstadium, eine ART erhalten hatten. Etwa 98 Prozent der Studienteilnehmer waren mit HIV-1 vom Subtyp B infiziert. Die Wissenschaftler untersuchten, ob ein früher ART-Beginn (innerhalb des restaurativen Zeitfensters) im Vergleich zum späteren Beginn (nach Verstreichen des restaurativen Zeitraums) die Wiederherstellung der CD4Zell-Zahlen bis zu normalen Werten begünstigt. Ergänzend ermittelten sie die Veränderung der CD4-Zell-Zahlen bei Personen, die mit der ART bei mehr als 500 CD4+-T-Zellen/mm³ begannen, und bei Patienten, die eine ART erhielten, nachdem die Werte auf weniger als 500 CD4+-T-Zellen/mm³ abgesunken waren (2). In ihrer prospektiven Observationsstudie ermittelte die Arbeitsgruppe über einen Zeitraum von 48 Monaten die Wahrscheinlichkeit und das Ausmass der Wiederherstellung auf 900 oder mehr CD4+-T-Zellen/mm³ in zwei sich teilweise überlappenden Studiensets. Zu Set 1 gehörten 384 Teilnehmer, die vor Studienbeginn keine ART erhalten hatten und auch einige Zeit nach Einschluss in die Studie nicht antiretroviral behandelt wurden; 136 Teilnehmer des Studiensets 1 erhielten über den gesamten Beobachtungszeitraum von 48 Monaten keine ART. Aus dem Set 1 wurden 176 Patienten nach median 5,2 Monaten (Interquartilbereich: 3,1– 12,5) in das Studienset 2 übernommen und antiretroviral behandelt. Das Studienset 2 setzte sich somit zum einen aus 37 Patienten, die sofort nach Einschluss in die Studie eine ART erhielten, und zum anderen aus den 176 Patienten aus Studienset 1 zusammen, die einige Zeit später mit der ART begannen. Die insgesamt 213 Teilnehmer des Studiensets 2 begannen durchschnittlich 4,9 Monate (Interquartilbereich: 2,9–10,6) nach dem geschätzten Infektionsdatum mit der ART. Bei den Teilnehmern des Sets 1 nahmen die CD4+-T-Zell-Zahlen kurz nach der HIV-Infektion im Vergleich zum Ausgangswert (median 495 Zellen/mm³, Interquartilbereich: 383–622) zunächst spontan zu und erreichten innerhalb von 4 Monaten nach dem vermuteten Ansteckungsdatum einen Spitzenwert
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von median 763 Zellen/mm³ (Interquartilbereich: 573–987). Anschliessend nahmen die CD4+-T-Zell-Zahlen innerhalb von 12 bis 14 Monaten wieder auf die Ausgangswerte und später noch weiter ab. Im Studienset 2 wurde bei etwa 64 Prozent der Teilnehmer, die in einem Zeitraum von bis zu 4 Monaten nach dem vermuteten Ansteckungsdatum eine ART erhalten hatten, eine Wiederherstellung der CD4+-T-ZellZahlen auf 900 oder mehr Zellen/mm³ beobachtet. Diese Werte erzielten dagegen nur 34 Prozent der Teilnehmer, die später als 4 Monate nach dem geschätzten Ansteckungszeitpunkt mit der ART begannen (p < 0,001). Bei 65 Prozent der Patienten, die bei weniger als 500 CD4+-T-Zellen/mm³ mit der ART begannen, war die Wahrscheinlichkeit, dass Werte von 900 CD4+-T-Zellen/mm³ oder mehr erreicht wurden, geringer als bei den Vergleichspatienten, mit deren Behandlung früher, bei mehr als 500 CD4+-TZellen/mm³, begonnen worden war. Zudem verlief bei 56 Prozent von ihnen die Wiederherstellung der Zellzahlen langsamer als in der Vergleichsgruppe (2). Tuan Le und sein Team schlossen aus ihren Ergebnissen, dass es innerhalb von 4 Monaten nach einer Infektion mit HIV zu einer spontanen vorübergehenden Wiederherstellung der CD4+T-Zell-Zahlen kommt und der Beginn einer ART in diesem Zeitraum mit einer höheren Wahrscheinlichkeit der Erholung der CD4+-T-Zell-Zahlen verbunden ist (2). Befristete frühe ART verzögert Progression nicht signifikant In der SPARTAC (Short Pulse Antiretroviral-Therapy at Seroconversion)Studie wurde untersucht, ob mit einer befristeten ART im Zeitraum der Primärinfektion die Zeitspanne verlängert werden kann, bis die CD4-Zell-Zahl auf unter 350 Zellen/mm³ absinkt (3). Dazu wurden 366 Patienten randomisiert einer ART über 48 Wochen (n = 123), einer ART über 12 Wochen (n = 120) oder dem Standardvorgehen von keiner Behandlung (n = 123) zugeordnet. Primärer Endpunkt war eine CD4+-T-Zell-Zahl von weniger als 350 Zellen/mm3 oder der Beginn einer langfristigen ART (3). Der durchschnittliche Beobachtungszeitraum erstreckte sich über 4,2 Jahre. Den primären Endpunkt erreichten 50 Prozent der Patienten, die 48 Wochen lang behandelt wurden, sowie jeweils 61 Prozent der für 12 Wochen und der nicht behandelten Patienten. Die durchschnittliche Hazard-Ratio (HR) betrug 0,63 (96%-Konfidenzintervall [KI]: 0,45–0,90; p = 0,01) für die 48-wöchige Behandlung im Vergleich zur Standardversorgung und 0,93 (0,67–1,29; p = 0,67) für die 12-wöchige ART im Vergleich zu keiner Behandlung. Der Anteil der Patienten mit CD4+-Zell-Zahlen von weniger als 350 Zellen/mm³ lag in der 48-WochenGruppe bei 28 Prozent sowie bei jeweils 40 Prozent in der 12-WochenGruppe und in der Standardgruppe. Die durchschnittliche Zeit bis zum Erreichen des primären Endpunkts betrug in der Gruppe der 48-wöchigen ART 222 Wochen (95%-KI: 189–270) und bei Standardversorgung 157 Wochen (95%-KI: 114–213). Die Differenz zwischen beiden Optionen betrug somit nur 65 Wochen – ein nicht signifikant längerer Zeitraum als die Behandlungsdauer von 48 Wochen. In einer Post-hoc-Analyse zeigte sich ein Trend zu einem längeren Intervall zwischen dem ART-Beginn und dem primären Endpunkt, je eher mit der ART nach dem geschätzten Infektionszeitpunkt begonnen wurde (p = 0,09). Im Hinblick auf klinische Endpunkte wie der Inzidenz von AIDS («acquired immunodeficiency syndrome»), dem Tod oder schwerer unerwünschter Ereignisse wurden keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen beobachtet. Die Autoren kamen zum Schluss, dass eine frühzeitige befristete ART über 48 Wochen die Krankheitsprogression zwar verzögert, dass es sich dabei aber nicht um einen signifikanten Zeitraum handelt (3). Diskussion Bruce Walker vom Ragon Institute of MGH, MIT, and Harvard und Martin Hirsch von der Harvard School of Public Health diskutieren die Ergebnisse im Editorial derselben Ausgabe des «NEJM». Aus beiden Studien geht hervor, dass ein frühzeitigerer Beginn mit ART mit einer ausgeprägteren Erholung der CD4+-Zellen verbunden ist. Somit stützen beide Studien zwar die Richtlinienempfehlungen für ressour- cenreiche Länder, bei nahezu allen HIV-Infizierten so früh wie möglich mit der ART zu beginnen, gerade für res- sourcenarme Länder müsste nach An- sicht der Autoren jedoch auch der kli- nische Nutzen fundierter nachgewiesen werden. Bis dahin sollte bei mangeln- den Ressourcen der Schwerpunkt bei- behalten werden, eine maximale An- zahl von Leben durch die Behandlung einer möglichst grossen Anzahl von Patienten in einem späteren Erkran- kungsstadium zu retten (1). Die Ergebnisse weisen nach Meinung der Experten darauf hin, dass eine noch frühzeitigere Behandlung mit einem weiteren Nutzen verbunden sein könnte – etwa durch eine Begrenzung der Schädigung des Immunsystems und eine Reduzierung der Virusreservoirs. Patienten, die kurz nach der Infektion eine Diagnose erhalten, könnten eine bessere Chance haben, auf eine «kura- tive» Behandlung anzusprechen. Dieser potenzielle Nutzen muss jedoch in wei- teren Studien untersucht werden (1). Eine frühe ART könnte auch das An- steckungsrisiko für weitere Personen senken, das bei akut HIV-Infizierten um einiges höher ist als bei chronisch Infizierten, vermutlich aufgrund der höheren Virenlast im Zeitraum der Primärinfektion. Nach Meinung der Autoren ist es daher von grosser Bedeutung, HIV-Tests auf Personen, deren Symptome auf eine akute Pri- märinfektion hinweisen, und auch auf asymptomatische Personen mit hohem Ansteckungsrisiko auszuweiten. Dazu sollten die neuesten Techniken zur Früherkennung wie die Bestimmung der HIV-RNA im Plasma und Antikör- per-Assays der vierten Generation an- gewendet werden (1). ❖ Petra Stölting Quellen: 1. Walker Bruce D, Hirsch Martin S: Antiretroviral therapy in early HIV infection. NEJM 2013; 368(3): 279–281. 2. Le Tuan et al.: Enhanced CD4+t-cell recovery with earlier HIV-1 antiretroviral therapy. NEJM 2013; 368(3): 218–230. 3. Fidler S et al.: Short-course antiretroviral therapy in primary HIV infection. NEJM 2013; 368(3): 207–217. Interessenkonflikte: 1. Keine Information dazu vorhanden. 2. Die Studie wurde vom Veterans Affairs (VA) Center for AIDS and HIV Infection und weiteren Organisationen finanziert. 3. Die Autoren haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten. 742 ARS MEDICI 14 ■ 2013