Transkript
FORTBILDUNG
Obstipation
Osmotische Laxanzien für ältere Menschen
In einem Review stützten randomisierte Studien die Anwendung osmotischer Laxanzien als wirksame Optionen zur Behandlung der Obstipation bei älteren Menschen. Im Hinblick auf andere Behandlungsmöglichkeiten war die Evidenz aus der Literatur weniger überzeugend.
CANADIAN MEDICAL ASSOCIATION JOURNAL
Die Prävalenz der Obstipation nimmt mit dem Alter erheblich zu. Bei den über 80-Jährigen beträgt sie laut Schätzungen 50 Prozent, wobei etwa 40 Prozent der eigenständig lebenden Senioren und 60 Prozent der Heimbewohner betroffen sind. Vor allem bei gebrechlicheren alten Menschen kann die Obstipation mit ernsten Konsequenzen verbunden sein. So kann starkes Pressen zu synkopalen Episoden sowie zu koronaren oder zerebralen Ischämien führen, und eine Obstipation mit Koteinklemmung kann mit Anorexie, Übelkeit, Schmerzen und funktionalem Abbau einhergehen. Angesichts der zunehmenden Anzahl älterer Menschen ist ein effektives Management der Obstipation dringend erforderlich. In einem Review werteten kanadische Wissenschaftler randomisierte Studien zur Behandlung der Obstipation bei älteren Menschen aus. Zur Beurteilung der Wirksamkeit von Flüssigkeitszufuhr und körperlicher Aktivität auf die Obstipation zogen sie Beobachtungsstudien heran, da zu diesen Massnahmen keine randomisierten Untersuchungen identifiziert werden konnten. Die Ursachen einer primären Obstipation sind bis anhin nicht bekannt. Häufig wurden eingeschränkte Mobilität, die unzureichende Aufnahme von Ballaststoffen und eine zu geringe Flüssigkeitsaufnahme als ursächliche Faktoren vermutet.
Merksätze
❖ Etwa die Hälfte aller über 80-Jährigen leidet unter Obstipation.
❖ Randomisierte kontrollierte Studien stützen die Anwendung von Polyethylenglykol und Laktulose zur Behandlung der Obstipation bei Senioren.
❖ Die Evidenz zur Wirksamkeit von Quellstoffen, Stuhlweichmachern, Stimulanzien und Prokinetika ist limitiert oder inkonsistent.
Kasten 1:
Medikamente, die mit Obstipation verbunden sein können
Nicht verschreibungspflichtige Medikamente ❖ kalzium- oder aluminiumhaltige Antazida ❖ nicht steroidale antientzündliche Medikamente (NSAID) ❖ orale Eisensupplemente ❖ Antihistaminika
Verschreibungspflichtige Medikamente ❖ Opioide ❖ Kalziumkanalblocker ❖ Anticholinergika ❖ Diuretika ❖ Antipsychotika ❖ trizyklische Antidepressiva
Kasten 2:
Erkrankungen, die mit Obstipation verbunden sein können
Stoffwechselerkrankungen
❖ Diabetes
❖ Hyperkalzämie
❖ Schilddrüsenunterfunktion ❖ Hypokaliämie
Gastrointestinale Erkrankungen ❖ Kolorektalkarzinom ❖ Divertikulose ❖ Darmstriktur
❖ Hämorrhoiden ❖ Rektumprolaps
Neurologische Erkrankungen ❖ Schlaganfall ❖ Morbus Parkinson ❖ Demenz
❖ Multiple Sklerose ❖ autonome Neuropathie
Psychische Erkrankungen ❖ Depressionen ❖ Ängste
❖ Somatisierung
Bindegewebeerkrankungen ❖ systemische Sklerose
❖ Amyloidose
Diese Annahmen werden jedoch nur durch eine geringe Evidenz aus der Literatur verifiziert. Die Ursachen einer sekundären Obstipation sind leichter zu identifizieren. Dazu gehören vor allem Medikamente, Stoffwechselstörungen und
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Tabelle 1:
Optionen zur Behandlung chronischer Obstipation bei älteren Menschen
Kategorie
Osmotische Agenzien erhöhen den Wassergehalt im Kolon zur Aufrechterhaltung der Isotonizität mit dem Plasma
Behandlungsoption
Dosierung
Polyethylenglykol
17–34 g/Tag
Macrogol: Dulcolax Macrogol®, Isocolan®,
Molaxole®, Movicol®, Pegicol®, Transipeg®
Laktulose (Duphalac®, Gatinar®, Rudilac®) 15–30 ml, 1- bis 2-mal täglich
Sorbitol (nur Kombinationspräparate)
15–30 ml, 1- bis 2-mal täglich
Magnesiumhydroxid (Magnesia S Pellegrin®) 15–30 ml, 1- bis 2-mal täglich
Natriumphosphat (nicht im AK der Schweiz) 15–25 ml mit 350 ml Wasser
Quellstoffe
wie Nahrungsfasern halten Wasser zurück, was zur Erhöhung der Stuhlmenge führt und die Peristaltik anregt
Psyllium (Flohsamenschalen)
Methylzellulose (nicht im AK der Schweiz) Polycarbophil (nicht im AK der Schweiz)
bis zu 20 g/Tag
bis zu 20 g/Tag bis zu 20 g/Tag
Unerwünschte Wirkungen
Blähungen, Flatulenz, abdominelle Schmerzen, Diarrhö
Blähungen, Flatulenz, abdominelle Schmerzen, Diarrhö Blähungen, Flatulenz, abdominelle Schmerzen, Diarrhö Hypermagnesiämie, Blähungen, Flatulenz, abdominelle Schmerzen, Diarrhö Hyperphosphatämie, Hypokalzämie, Blähungen, Flatulenz, abdominelle Schmerzen, Diarrhö
Blähungen, Flatulenz, selten mechanische Obstruktion oder allergische Reaktionen Blähungen, Flatulenz Blähungen, Flatulenz
Stimulanzien erhöhen die intestinale Motilität
Sennoside (Pursennid®)
Amavita Bisacodyl®, Dulcolax Bisacodyl®, Muxol®, Prontolax®, Softala-x®, Tavolax®
bis zu 68,8 g/Tag in mehreren Dosen Bauchkrämpfe, Hypokaliämie, Pseudomelanosis coli 5–10 mg/täglich, oral oder rektal Bauchkrämpfe, Hypokaliämie, Pseudomelanosis coli
Stuhlweichmacher
vermindern die Stuhloberflächenspannung, was zum Wassereintritt ins Kolon führt
Docusat-Natrium (Norgalax® Miniklistier) Docusat-Kalzium (nicht im AK der Schweiz)
100 mg, 2-mal täglich 240 mg, 2-mal täglich
Prokinetika
stimulieren die 5HT4-Rezeptoren und regen die Peristaltik an
Prucaloprid (nicht im AK der Schweiz)
2 mg/Tag
Bauchkrämpfe, Diarrhö Bauchkrämpfe, Diarrhö
Übelkeit, Erbrechen, Flatulenz, Kopfschmerzen
Einläufe oder Suppositorien
erweitern das Rektum, lösen den Defäkationsreflex aus und weichen den Stuhl auf
phosphatbasierte Einläufe Leitungswassereinläufe Glyzerinsuppositorien
120 ml/Tag 500 ml/Tag 1-mal täglich
Hyperphosphatämie und andere Elektrolytstörungen
Erkrankungen (Kasten 1 und 2). Bei älteren Menschen sind oft mehrere dieser verursachenden Faktoren vorhanden. Sekundäre Ursachen sollten vor einer Behandlung der Obstipation evaluiert und, wenn möglich, modifiziert werden. Die Evidenz aus den ausgewerteten randomisierten Studien stützt die Anwendung osmotischer Substanzen als wirksame Option zur Behandlung der chronischen Obstipation bei älteren Menschen. Die Evidenz zur Effizienz von Quellstoffen, Stuhlweichmachern, Stimulanzien oder prokinetischen Substanzen war dagegen inkonsistent oder fehlte. Die Wirksamkeit von Lebensstilmodifikationen auf die Obstipation wurde bis anhin nicht in randomisierten Studien untersucht. Die Obstipation kann meist ohne aufwendige Untersuchungen behandelt werden, und die meisten Therapieoptionen sind nur mit einem geringen Risiko für unerwünschte Wirkungen verbunden (Tabelle 1). Ärzte sollten ihre Patienten
über das breite Spektrum der als normal geltenden Stuhlgewohnheiten informieren und auf den potenziellen Nutzen einer Ernährungsumstellung zur Linderung der Obstipation hinweisen. Zu Verhaltensmassnahmen, die den Behandlungserfolg unterstützen, gehören die Sicherstellung von ausreichend Zeit auf der Toilette, eine Positionierung der Knie auf Höhe der Hüfte zur mechanischen Unterstützung des Stuhlgangs und die Nutzung des gastrokolischen Reflexes. Im Rahmen ihres Reviews haben die Autoren einen schrittweisen Vorgehensplan, basierend auf ihrer Literaturrecherche und der klinischen Erfahrung, zusammengestellt (Tabelle 2).
Osmotische Substanzen Osmotische Laxanzien veranlassen die Sekretion von Wasser ins Kolonlumen, bis eine Isotonizität zum Plasma erreicht ist. Am häufigsten werden Laktulose und Polyethylenglykol an-
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Tabelle 2:
Stufenweises Vorgehen zum Management der Obstipation bei älteren Menschen
1. Identifizierung des vorherrschenden Symptoms
❖ zu geringe Stuhlfrequenz, Notwendigkeit starken Pressens, unvollständige Entleerung
2. Identifizierung sekundärer Ursachen
❖ Medikamente (z.B. Opioide, Kalziumkanalblocker, Eisensupplemente, Anti-Diarrhö-Medikamente) ❖ Erkrankungen (z.B. Kolonkarzinom, Schlaganfall, M. Parkinson) ❖ Behandlung der sekundären Obstipation erfolgt wie bei primärer Obstipation ❖ Bei Alarmzeichen sollten lokale oder nationale Richtlinien zum Kolonkarzinom befolgt werden.
3. Koteinklemmung ausschliessen
❖ Bei bettlägerigen oder ausgeprägt dementen Personen kann eine Röntgenaufnahme oder eine manuelle rektale Untersuchung durchgeführt werden, um eine Koteinklemmung festzustellen.
❖ Um die Koteinklemmung zu beseitigen, ist oft eine manuelle Entleerung erforderlich.
4. Defäkationsverhalten optimieren
❖ Beim Stuhlgang sollte eine Sitzposition mit den Knien auf Höhe der Hüfte oder darüber eingenommen werden.
❖ Personen mit mittlerer oder schwerer kognitiver Beeinträchtigung benötigen nach dem Frühstück ausreichend Zeit auf der Toilette, damit der gastrokolische Reflex einsetzen kann.
5. Versuch der Ernährungsmodifizierung
❖ schrittweise Erhöhung des Faseranteils in der Nahrung auf 20–30 g/Tag (Früchte, Leguminosen und andere Gemüse) oder über Supplemente wie Psyllium, Methylzellulose oder Kalzium-Polycarbophil
❖ Um Koteinklemmung oder Darmverschluss zu vermeiden, wird bei immobilen oder bettlägerigen Personen davon abgeraten.
6. Versuch mit einem früher bevorzugten Laxans (2–4 Wochen)
❖ Manchmal bevorzugen Patienten ein bestimmtes Präparat, das sie aus der Vergangenheit kennen.
7. Versuch mit einem durch randomisierte
❖ Polyethylenglykol
Studien evidenzbasierten Laxans (2–4 Wochen) ❖ Laktulose
8. Versuch mit einem anderen Laxans oder einer Präparatekombination
❖ Magnesiumhydroxid ❖ Dokusat-Natrium ❖ Bisacodyl ❖ Sennoside ❖ Einläufe oder Suppositorien
9. Überweisung zum Gastroenterologen oder Geriater
gewendet. Als unerwünschte Wirkungen können Blähungen, Flatulenz, abdominelle Schmerzen und Diarrhö auftreten. Nebenwirkungen dieser Art treten vor allem bei der Einnahme von Laktulose auf, da diese von den Darmbakterien zu Karbonsäuren abgebaut wird. Manche Patienten entwickeln auch eine Abneigung gegenüber dem süsslichen Geschmack der Laktulose. Polyethylenglykol ist metabolisch inert und kann anderen Flüssigkeiten beigemengt werden. Bei magnesium- oder phosphatbasierten Laxanzien besteht das Risiko einer exzessiven Absorption, die in einer dosisabhängigen Hypermagnesiämie oder Hyperphosphatämie resultieren kann. Bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion ist Vorsicht geboten.
Quellstoffe Nicht absorbierbare lösliche Nahrungsfasern oder Quellstoffe wirken abführend, indem sie Wasser im Stuhl zurückhalten und so die Stuhlmenge, die Kolondistension und zudem die Entleerungshäufigkeit erhöhen. Zur Behandlung der Obstipation stehen natürliche, semisynthetische und synthetische Quellstoffe zur Verfügung. Die Fermentation quellender Substanzen durch Darmbakterien kann zu Blähungen
und Darmgasbildung führen. Unter ungünstigen Umständen kann es zu einer mechanischen Obstruktion des Darms kommen. Bei wenig mobilen Personen, die nur wenig Flüssigkeit aufnehmen, besteht diesbezüglich ein erhöhtes Risiko. In seltenen Fällen wurden auch allergische Reaktionen auf Psyllium beobachtet.
Stimulanzien Stimulanzien verstärken die intestinale Motilität und die Kolonsekretion. Am häufigsten werden Anthranoide wie Senna oder Cascara und Diphenylmethanderivate wie Bisacodyl angewendet. Zu den unerwünschten Wirkungen bei Einnahme dieser Substanzen gehören Störungen des Elektrolytgleichgewichts und allergische Reaktionen. Die regelmässige Anwendung von Anthranoiden kann zudem Melanosis coli verursachen, eine gutartige und meist vollständig reversible Verfärbung der Mukosa des Dickdarms. Ein eindeutiger Zusammenhang mit einer Schädigung des Plexus myentericus oder einer Karzinogenese wurde bis anhin nicht nachgewiesen. Die längerfristige regelmässige Einnahme von Stimulanzien kann mit der Zeit zu einer verminderten Wirksamkeit führen.
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Stuhlweichmacher Stuhlweichmacher wie Natriumsulfonylsuccinat wirken als anionisch aktives Tensid, das die Interaktion des Stuhls mit Wasser verbessert. Zudem können die intestinale Motilität und die Kolonsekretion erhöht werden. Stuhlweichmacher werden meist gut vertragen.
Prokinetische Substanzen Prokinetika stimulieren die 5-Hydroxytryptamin-4-(5-HT4-) Rezeptoren im Intestinum, was die Peristaltik anregt. Die beiden Prokinetika Cisaprid und Tegaserod wurden aufgrund von Bedenken bezüglich der kardialen Sicherheit vom Markt genommen. In Kanada wurde die neue prokinetische Substanz Prucaloprid im Jahr 2011 zur Behandlung der Obstipation bei Frauen zugelassen. Eine Empfehlung zur Anwendung von Prucaloprid für ältere Menschen kann derzeit jedoch nicht ausgesprochen werden.
Lebensstilmodifikationen
Zu Lebensstilmodifikationen wie mehr Bewegung oder er-
höhte Flüssigkeitsaufnahme lagen keine randomisierten
Studien vor. Eine angemessene körperliche Aktivität sollte im
Hinblick auf andere gesundheitliche Aspekte angeregt wer-
den, eine eindeutige Evidenz zur Wirksamkeit im Hinblick
auf die Obstipation ist jedoch nicht vorhanden.
Die Ergebnisse der in diesem Review ausgewerteten Studien
sind mit denen aus systematischen Reviews mit zusammen-
gefassten Daten zu Erwachsenen ungeachtet des Alters ver-
gleichbar. Das American College of Gastroenterology gibt
eine Grad-A-Empfehlung für die Anwendung von Polyethy-
lenglykol und Laktulose zur Verbesserung der Stuhlhäufig-
keit und der Stuhlkonsistenz. Zur Anwendung von Psyllium
wurde eine Grad-B-Empfehlung zur Verbesserung der Stuhl-
konsistenz gegeben.
❖
Petra Stölting
Quelle: Gandel G et al.: Treatment of constipation in older people. CMAJ 2013; DOI:10.1503/cmaj.120819.
Interessenkonflikte: keine deklariert
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