Transkript
INTERVIEW
Primäre Ziliendyskinesie – Wann besteht Verdacht auf diese seltene Krankheit?
Interview mit Dr. med. Andreas Jung, Universitäts-Kinderspital Zürich
Die primäre Ziliendyskinesie (primary ciliary dyskinesia; PCD) ist eine seltene Krankheit, deren Diagnose häufig mit grosser Verzögerung gestellt wird. Man vermutet insbesondere unter den erwachsenen Patienten mit Lungenproblemen noch viele unentdeckte Fälle. Wir sprachen mit Dr. med. Andreas Jung anhand eines Fallberichts über neue diagnostische und therapeutische Möglichkeiten für diese genetisch bedingte Erkrankung.
ARS MEDICI: Herr Dr. Jung, unser Fallbericht (s. Kasten) beginnt in den 1950er Jahren und beschreibt einen sehr langen Weg bis zur Diagnose PCD. Wäre das heute anders? Dr. med. Andreas Jung: Ich glaube, man kann auch heute nicht hundertprozentig ausschliessen, dass die korrekte Diagnose so lange auf sich warten lässt. Die Bandbreite der klinischen Verläufe ist extrem heterogen. Die Ausprägung der Krankheit hängt wahrscheinlich auch stark von der Genetik ab. Es gibt über 20 bekannte Mutationen, und je nachdem, welche vorliegt, kann die klinische Ausprägung der Symptome variieren. Leider ist dieser Fall recht typisch für erwachsene PCD-Patienten, bei denen die Krankheit im Kindesalter nicht erkannt wurde. Ich glaube, dass es zumindest im Erwachsenenbereich sehr viele Patienten gibt, die noch nicht diagnostiziert sind, weil sie in der Regel unter COPD laufen. Wenn aber ein Patient die Diagnose COPD hat, fragt kaum ein Arzt nach, was eigentlich dahinter steckt, und das ist das grosse Problem. Das gilt häufig auch für Pneumologen, die Erwachsene behandeln. Etwas besser ist ist die Situation mittlerweile bei den pädiatrischen Pneumologen. Hier hat sich in der letzten Zeit einiges getan, und es gibt viele Initiativen und wissenschaftliche Aktivitäten, wie die Schweizer Taskforce, um die PCDDiagnostik zu verbessern.
ARS MEDICI: Was nützt es, wenn man PCD früh erkennt? Jung: Für mich ist die Gewissheit der Diagnose ein ganz wesentlicher Aspekt. Wenn ich weiss, was ich habe, kann ich mit so einer chronischen Erkrankung im Alltag besser umgehen, als wenn ich ständig von Arzt zu Arzt gehe, und keiner weiss so genau, was das Problem ist. Auch haben wir heutzutage andere diagnostische und therapeutische Möglichkeiten als im beschriebenen Fall. Das hat sich schon drastisch geändert.
ARS MEDICI: Welche Therapien meinen Sie damit? Jung: Es ist zwar schon so, das muss man immer dazu sagen, dass es für die PCD ähnlich wie für viele andere seltene Er-
krankungen keine evidenzbasierten Studien zur Therapie gibt. Wir extrapolieren von anderen Erkrankungen, die vom Phänotyp her ähnlich sind, das ist in erster Linie die Zystische Fibrose. Diese hat ja letztlich einen ähnlichen pulmonalen Phänotyp, denn das Problem ist die mukoziliäre Clearance. Diese ist bei beiden Erkrankungen erheblich eingeschränkt – zwar aufgrund eines anderen Mechanismus, aber die resultierende Symptomatik ist sehr ähnlich. Darum funktionieren Therapien für Zystische Fibrose häufig auch bei PCD. Diese Therapien haben mit Sicherheit dazu geführt, dass sich die Lebensqualität für viele Patienten deutlich verbessert hat. Auch wenn die Langzeiterfahrung noch fehlt, dürfen wir davon ausgehen, dass sich die Progredienz der mit der PCD verbundenen Lungenerkrankung heute deutlich aufhalten lässt. Es geht dabei im Wesentlichen um drei Bausteine: Der erste ist die professionelle Physiotherapie, das heisst eine spezifische Atemphysiotherapie, welche insbesondere auch die sogenannte autogene Drainage einschliesst. Es geht darum, Techniken zu vermitteln, die den Patienten selbst befähigen, durch spezielle Atem- und Hustentechniken und zusätzliche Hilfsmittel das Sekret zu mobilisieren. Der zweite Baustein ist eine spezifische Inhalationstherapie, um das Sekret etwas flüssiger, lockerer zu machen, damit es besser expektoriert werden kann. Hier verwenden wir heute spezielle, sekretlösende Substanzen, wie zum Beispiel hochprozentige Kochsalzlösung oder rhDNAse. Der dritte Baustein ist eine frühzeitige und recht aggressive Antibiotikatherapie, insbesondere wenn Problemkeime gefunden werden, wie zum Beispiel Pseudomonas. Dafür haben wir heutzutage nicht nur spezifische systemische, sondern auch inhalative Antibiotika. Durch diese drei Säulen der Therapie lässt sich die Lungenerkrankung bei PCD wahrscheinlich deutlich aufhalten, und das verbessert auch die Lebensqualität. Es gibt also spezifische Therapien, auch wenn sie wissenschaftlich noch nicht belegt sind. Zurzeit beginnen erste kontrollierte Studien im Rahmen eines europaweiten Projekts, das von der EU gefördert wird.
ARS MEDICI: Nun ist die PCD auch mit anderen Komplikationen verbunden. Wie sehen die therapeutischen Optionen hierzu aus? Jung: Leider sind wir bei den PCD-Komplikationen Nasenpolypen, Mittelohrentzündung und Hörstörungen weniger erfolgreich. Diese sind viel schwieriger zu behandeln, weil es keine spezifische präventive Therapie gibt.
ARS MEDICI: Woran könnte man merken, dass die Diagnose COPD nicht stimmt und es PCD sein könnte?
586
ARS MEDICI 11 ■ 2013
INTERVIEW
Zur Person
Dr. med. Andreas Jung ist Oberarzt an der Pneumologie am Universitäts-Kinderspital in Zürich.
wir sind im Moment dabei, sie über wissenschaftliche Arbeiten und die Vorstellung an Kongressen zu verbreiten.
ARS MEDICI: Wohin sollte ich Patienten zur PCD-Abklärung in der Schweiz schicken? Jung: Für die Diagnostik der PCD gibt es zwei Zentren in der Schweiz, die dann auch eine weiterführende Diagnostik durchführen können: das Kinderspital Zürich und das Kinderspital am Inselspital Bern. Ein drittes Zentrum wird gerade in Genf etabliert. Die nasale NO-Messung können auch andere machen, aber ich denke, dass es für die niedergelassenen Ärzte sinnvoll ist, sich bei einem konkreten Verdacht direkt an eines der genannten Zentren zu wenden – nicht zuletzt auch, weil man dann einen Patienten nach dem Screening nicht wieder an ein anderes Zentrum verweisen muss.
Jung: Die COPD und auch die PCD charakterisieren sich letztlich im fortgeschrittenen Alter durch Bronchiektasen und durch entsprechende Keimbesiedelung mit pulmonalen Exazerbationen. Insofern ist es klinisch nicht immer einfach, zu differenzieren. Aber: Stimmt die Diagnose COPD, wenn ich einen Patienten vor mir habe, der nie geraucht hat? Steckt vielleicht etwas anderes dahinter? Die PCD ist hier eine wichtige Differenzialdiagnose. Die zweite wichtige Frage ist: Gibt es Leitsymptome, die typisch sind für PCD und völlig untypisch für COPD, wie Hörstörung, Mittelohrentzündung oder Nasenbeteiligung? So etwas zeigt ein COPD-Patient in aller Regel nicht. Spätestens hier hätte man im beschriebenen Fall zwingend an eine PCD denken müssen.
ARS MEDICI: Haben im geschilderten Fall also die Pneumologen geschlafen? Jung: Nun, die Schwierigkeiten fangen natürlich bei den Hausärzten an, die diese Erkrankung häufig gar nicht kennen. Sie ist ja auch sehr selten, und ein Hausarzt sieht vielleicht einmal in seinem Berufsleben einen solchen Patienten, vielleicht auch nie. Deshalb brauchen wir gute Algorithmen für die Symptomerkennung und die diagnostische Abklärung, wie sie gerade publiziert wurden (s. Steckbrief PCD auf Seite 589). Aber auch bei den Pneumologen ist das Bewusstsein für die PCD aus meiner Erfahrung erst langsam am Wachsen. Das ist manchmal auch eine Einstellungssache. Es gibt Kollegen, die sagen: «Es ist mir egal, was mein Patient hat, ich behandle die Symptome.»
ARS MEDICI: Die PCD-Diagnose ist schon teuer und aufwendig, sodass man sich schon überlegen muss, bei wem man das macht und bei wem nicht, oder? Jung: «Teuer und aufwendig» stimmt eigentlich so nicht mehr. In den letzten Jahren haben sich viele neue Methoden und Techniken etabliert. Es handelt sich dabei um Methoden, die relativ günstig, teilweise relativ einfach durchführbar und vor allem nicht invasiv sind. Die erste Massnahme heutzutage ist als Screening eine Stickstoffmonoxidmessung in der Nase. Das kann sehr einfach gemacht werden, auch von nicht spezialisierten Zentren. Wir streben an, dass alle Pneumologen, Kinderpneumologen und vielleicht sogar HNO-Ärzte in Zukunft eine solche Screeninguntersuchung durchführen können. Die nasale NO-Messung ist bereits auf dem Markt, und
ARS MEDICI: Wie sieht die weiterführende Diagnostik aus? Jung: Die einzige Diagnostik war früher eine elektronenmikroskopische Analyse aus einem Schleimhautbiopsat mittels Brochoskopie. Heute können wir die Probe weniger invasiv aus einer nasalen Bürstung gewinnen. Die Elektronenmikroskopie hat den Status als Goldstandard jedoch verloren, weil wir mittlerweile wissen, dass eine nicht unerhebliche Anzahl von Patienten damit nicht diagnostiziert werden kann. Diese haben keine elektronenmikroskopisch erkennbaren strukturellen Auffälligkeiten, aber trotzdem funktionelle Einschränkungen der Zilienmotilität. Als zentrales neues Tool hat sich die Hochfrequenzvideomikroskopie etabliert. Aus der nasalen Bürstung werden Schleimhautzellen entnommen und dann im Nativpräparat mit einem speziellen Mikroskop und einer speziellen Software untersucht. So kann man die Zilienmotilität, die Schlagfrequenz und die Morphologie der Schlagbewegungen beurteilen und in den allermeisten Fällen eine PCD diagnostizieren oder ausschliessen. Es gibt natürlich immer Fälle, die schwierig zu beurteilen sind. Deshalb wird in dem Diagnosealgorithmus gefordert, dass es einen zweiten unabhängigen Test braucht. Das kann beispielsweise die Elektronenmikroskopie sein oder die Immunfluoreszenzmethode, eine spezielle Färbemethode, die derzeit nur an der Universität Münster durchgeführt wird. Letztlich haben wir auch die Möglichkeit einer genetischen Analyse, wenn wir zusätzliche Informationen brauchen.
ARS MEDICI: Wie viele PCD-Fälle gibt es in der Schweiz? Jung: In der ganzen Schweiz sind vielleicht zwischen 70 und 100 Fälle bekannt. Das betrifft aber primär die Kinder- und Jugendkliniken, die Spezialambulanzen. Darüber hinaus gibt es Patienten, die bei niedergelassenen Ärzten behandelt werden und den Zentren gar nicht bekannt sind. Und dann gibt es natürlich eine grosse Dunkelziffer an Patienten, die keine oder eine falsche Diagnose haben. Es ist unbekannt, wie viele Erwachsene mit PCD es gibt. Aufgrund der mehr oder weniger erfolgreichen Versuche, hier härtere Daten zu erheben, darf man aber schon sagen, dass die Prävalenz höher sein dürfte, als das, was in den älteren Lehrbüchern steht. Früher hat man gedacht, sie liege bei 1/60 000, vielleicht ein wenig höher. Heute haben wir aber doch den Eindruck, dass sie mit genetisch bedingten, regionalen Variationen eher um die 1/10000 liegt. Genaue Prävalenzdaten hierzu fehlen jedoch noch.
ARS MEDICI 11 ■ 2013
587
INTERVIEW
Jahrzehnte bis zur Diagnose
Fallbericht eines Patienten mit primärer Ziliendyskinesie (PCD)
Schon als Kleinkind hat der 1951 geborene Peter M. Nasen- und Atemprobleme. Als er 5 Jahre als ist, erfolgt die erste Bronchoskopie, bei der sich Bronchiektasen zeigen. Im Alter von etwa 17 Jahren überweist ihn die Schulärztin an einen Pneumologen zur Abklärung. Der Pneumologe diagnostiziert COPD. Man beginnt mit regelmässigem Abklopfen und Inhalationen, um das Abhusten des Schleims zu erleichtern; das Sputum ist immer purulent-grünlich. Peter M. leidet unter einer weitgehenden bis vollständigen Anosmie. Auch hören kann er nicht optimal, was man auf die rezidivierenden Otitiden in der Kindheit zurückführt. Die Schwerhörigkeit wird im Lauf des Lebens zunehmen, sodass Peter M. Anfang 50 beidseits Hörgeräte tragen wird. Als junger Mann erkrankt Peter M. an Tuberkulose, die lange nicht erkannt wird. Nach einer weiteren Bronchoskopie entfernt man den mittleren Lungenlappen rechts wegen Atelektase und Bronchiektasen. Peter M. besucht regelmässig die Pneumologie an einem Universitätsspital. Dort erfolgt für einige Zeit auch die Drainagetherapie (Abklopfen) dreimal die Woche, später dann täglich zu Hause durch die Ehefrau. Das Sputum ist immer infektiös und enthält unter anderem Haemophilus influenzae und Pseudomonas. Als die Ehe kinderlos bleibt, lässt sich Peter M. im Alter von 27 Jahren untersuchen. Der Befund: deutlich reduzierte Spermienzahl und -motilität und Varikozele. Die Operation der Varikozele bringt keine Besserung. Danach geschieht ausser dem Ausschluss eines Alpha-Antitrypsinmangels in den folgenden 15 Jahren diagnostisch nichts Neues. Peter M. geht jedes Jahr zur Kontrolle zum Pneumologen. Nach 15 Jahren, Peter M. ist inzwischen 43 Jahre alt, rät ein Allgemeinarzt zu einer vierwöchigen pulmonalen Rehabilitation in Davos, um die Beschwerden beim Bergaufgehen zu mindern. Peter M. fühlt sich danach tatsächlich besser und treibt seitdem regelmässig Sport. Die Kontrollen beim Pneumolgen werden fortgeführt. Das tägliche, regelmässige Abklopfen wird ersetzt durch den Flutter (ein Hilfsmittel zur Sekretlockerung). Im Alter von 49 Jahren gibt Peter M. seine selbstständige Tätigkeit auf. Er hustet mehrmals täglich ab. Beim Bergaufgehen und beim Trainieren nimmt er stets den Flutter mit, da sich durch die Anstrengung Schleim löst. Im Alter von 52 Jahren erfolgt die erste Echokardiografie durch einen Kardiologen, der ein beginnendes Cor pulmonale diagnostiziert. Zwei Jahre danach folgen eine zweite Echokardiografie und eine Herzkatheteruntersuchung. Gleichzeitig wird Peter M. auch dem an diesem Spital tätigen Pneumologen vorgestellt. Obwohl der zuweisende Pneumologe die Verdachtsdiagnose «Syndrom immotiler Zilien» mitteilt, geht der Spitalpneumologe nicht darauf ein. Peter M. wird im Glauben gelassen, dass die
Klärung dieser Diagnose nicht möglich beziehungsweise irrelevant sei. Zunehmend kommt es zu Folgeschäden durch die Lungenkrankheit. So wird Peter M. wegen Inguinalhernien beidseits operiert, die vermutlich durch das regelmässige Husten verursacht wurden. Im Alter von 56 Jahren versucht Peter M., den Schleim mittels längerer Inhalation von NaCl 0,9% morgens, mittags und abends besser zu lösen. Allein die Inhalation dauert jeweils 45 Minuten. Trotzdem hat Peter M. immer das Gefühl, es könne nicht aller Schleim abgehustet werden. Sein Pneumologe empfiehlt einen Versuch mit 3%igem NaCl. Dies führt zu einem massiv grünen Schleim und nach und nach zu einer deutlichen Änderung des Sputums; es ist jetzt heller, dicker und zäher, und es fliesst nicht mehr einfach beim Vornüberbeugen heraus. Sein Pneumologe verordnet O2-Flaschen für unterwegs, später auch einen O2-Konzentrator für zu Hause. Mit O2 ist beim Bergaufwandern und beim Velofahren wieder eine stärkere Belastung möglich. Im Alter von 58 Jahren kauft Peter M. auf eigene Kosten ein spezielles Inhalationsgerät für die NaCl-Lösung, was die Symptomatik verbessert. Mit 58 Jahren wird Peter M. zu 40 Prozent arbeitsunfähig geschrieben und bekommt ein Jahr später eine IV-Viertelrente zugesprochen. Mit 59 Jahren erfolgt eine CT-Untersuchung von Lunge und Nasennebenhöhlen. Der Befund: variköse Bronchiektasen; narbige Residuen im linken oberen Lungenlappen; Zeichen eines zentrilobulären Emphysems, betont in den Unterlappen beidseits mit bullösen Veränderungen beidseits basal bis zu einer Grösse von 9,2 × 5,9 cm; Zeichen einer Pansinusitis mit zusätzlicher Mastoiditis im Sinne eines chronischen Prozesses; generalisiertes Zilienproblem. Mit dem Stichwort «generalisiertes Zilienproblem» recherchiert Peter M. in der Literatur und landet bei der Verdachtsdiagnose PCD. Diese Diagnose wird durch eine Untersuchung im nächsten Jahr an der Universität Münster bestätigt. Die Therapie wird intensiviert und umgestellt. Peter M. verbringt heute pro Tag durchschnittlich 4 bis 5 Stunden mit therapeutischen Massnahmen. Seine Arbeitsfähigkeit ist aufgrund der dauerhaft notwendigen therapeutischen Bemühungen auf maximal 15 Prozent gesunken. Nach mehreren Fieberschüben und Hospitalisation zeichnet sich ab, dass künftig eine ständige Antibiotikagabe mit wechselnden Medikamenten (oral, inhalativ, i.v.) nötig sein wird. Die Sauerstoffflasche benötigt er mittlerweile nicht nur bei körperlicher Aktivität, sondern praktisch den ganzen Tag über und durchgehend nachts. Trotzdem geht Peter M. noch auf Reisen - mit der mobilen Sauerstoffflasche und einem O2-Konzentrator im Gepäck.
588
ARS MEDICI 11 ■ 2013
INTERVIEW
Steckbrief PCD
Name:
Primäre Ziliendyskinesie Synonyme: primäre ziliäre Dyskinesie; mit chronischer Rhinosinusitis, Situs inversus und Bronchiektasen: Kartagener-Syndrom; engl.: primary ciliary dyskinesia
Abkürzung: PCD
Ursache:
Genetisch Bis jetzt sind bereits über 20 Mutationen bekannt, die zu verschiedenen Fehlfunktionen der beweglichen Zilien im Organismus führen.
Prävalenz:
1/10 000 (Schätzung)
Leitsymptome:
Heterogenes Erscheinungsbild (abhängig u.a. von Mutation); typisch sind häufige, schwer verlaufende Atemwegsinfekte, chronischer Husten, häufige Mittelohrinfektionen und Nasennebenhöhleninfektionen, Verstopfen von Nase und Bronchien durch zähen Schleim; Infertilität bei Männern häufig.
Diagnose:
Screeningtest: erniedrigte nasale NO-Konzentration Weitere Abklärungen erfolgen anhand zilientragender Zellen aus nasalen Bürstenbiopsien mittels Hochfrequenzvideomikroskopie (HVMA), Immunfluoreszenzmikroskopie (IF) und/oder Transmissionselektronenmikroskopie (TEM). Eine Mutationsanalyse ist ergänzend möglich.
Therapie:
Spezifische Atemphysiotherapietechniken zur Erleichterung der Sekretmobilisation; frühzeitige und aggressive Antibiotikatherapie; Inhalation hochprozentiger Kochsalzlösung und ggf. rhDNAse zur Sekretolyse; Hilfsmittel zum Abhusten (z.B. Flutter, Acapella, Cornet); weitere Behandlungen und Hilfsmittel je nach Ausprägung der Erkrankung.
Sonstiges:
Aktueller Algorithmus: Nüßlein T et al.; Diagnostik der Primären Ciliären Dyskinesie. Monatsschr Kinderheilkd 2013; 161: 406–416. Die Website der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. med. Heymut Omran an der Universtität Münster bietet eine guten Überblick: http://pcd.uni-muenster.de/ Ebenfalls empfehlenswert: www.kartagener-syndrom.org.
Kontaktadressen Schweiz
Task Force PCD Schweiz, Prof. Dr. Claudia Kuehni Universität Bern, Institut für Sozial- und Präventivmedizin E-Mail: kuehni@ispm.unibe.ch
Universitäts-Kinderspital Zürich, Dr. med. Andreas Jung E-Mail: andreas.jung@kispi.uzh.ch
Universitätsklinik für Kinderheilkunde Bern, Dr. med. Carmen Casaulta E-Mail: carmen.casaulta@insel.ch
Hopital Universitaire de Geneve, Dr. med. Sylvain Blanchon E-Mail: Sylvain.Blanchon@hcuge.ch
Patientenorganisation: Kartagener Syndrom und Primäre Ciliäre Dyskinesie e.V. c/o Dr. med. Bernhard Rindlisbacher, Traubenweg 67, 3612 Steffisburg Internet: www.kartagener-syndrom.org, E-Mail: info@kartagener-syndrom.de
Kontaktperson der Regionalgruppe Schweiz: Susanne Grieder Botros E-Mail: grieder.susanne@sunrise.ch
ARS MEDICI: Welcher Kostenträger ist für Patienten mit PCD zuständig, IV oder Krankenkasse? Jung: Bis zum 20. Lebensjahr ist die IV zuständig. Wir haben im Moment die Situation in der Schweiz, dass die IV die Diagnose PCD nur akzeptiert, wenn sie mittels Elektronenmikroskopie gesichert ist, obwohl wir wie vorhin schon gesagt wissen, dass diese Methode heutzutage nicht mehr Goldstandard ist. Ab dem 20. Lebensjahr ist dann die Krankenkasse zuständig.
ARS MEDICI: Wie ist die Prognose für PCD-Patienten? Jung: Die Prognose hängt von zwei Dingen ab, zum einen von Phänotyp und damit zusammenhängend sehr wahrscheinlich vom Genotyp, zum anderen aber sicherlich von der frühzeitigen Behandlung der Lungenerkrankung. Das ist bisher natürlich auch nicht wirklich evidenzbasiert nachweisbar, weil wir keine Daten dazu haben. Aber wir dürfen dies aus den Erfahrungen mit anderen Erkrankungen, die ähnlich verlaufen, erwarten. Deswegen soll man die Diagnose so früh wie möglich stellen. Bereits für Neugeborene möchten wir ein Screening etablieren und planen zurzeit entsprechende Studienprojekte.
ARS MEDICI: Zum Schluss bitte noch einmal in Kürze für den
Haus- oder Kinderarzt: Wann besteht Verdacht auf PCD?
Jung: Diese Erkrankung zeigt primär eine Symptoma-
tik, die unspezifisch ist, das heisst, wir haben Sym-
ptome, die auch sehr gut banaler Natur sein können
und auch zu anderen Erkrankungen passen. So kann
eine neo-natale Rhinitis zum Beispiel unspezifisch sein
oder auch ein Hinweis auf PCD. Auch ein Atemnot-
syndrom bei reifen Neugeborenen kommt zuweilen
vor, kann aber auch ein Hinweis auf PCD sein. Und so
geht es immer weiter mit Phänomenen wie rezidivie-
renden Mittelohrentzündungen, Nasenpolypen oder
chronischem Husten. All das sind Symptome, die viele
Patienten haben können, ohne an PCD erkrankt zu
sein. Ein Tipp ist, dass man aufmerksam werden sollte,
wenn nicht nur eines dieser Symptome vorliegt, son-
dern mehrere, zwei oder drei. Es ist sehr schwierig, den
Verdacht auf PCD zu begründen. Darum verfolgen wir
letztlich das Ziel eines flächendeckenden Screenings
mittels nasaler NO-Messung, um relativ unabhängig
von der Frage nach klaren Symptomen potenzielle
PCD-Patienten identifizieren zu können. Aber das ist
noch Zukunftsmusik. Zurzeit lautet mein Rat: Wenn
ein Patient mehrere Symptome hat, die für eine PCD
sprechen könnten, sollte man ihn an ein Zentrum zur
nasalen NO-Messung und gegebenenfalls weiterfüh-
renden Diagnostik überweisen.
❖
ARS MEDICI: Herr Dr. Jung, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Renate Bonifer.
Wir danken Frau Dr. Saskia Karg, wissenschaftliche Koordination radiz, Universitäts-Kinderspital Zürich, für die Vermittlung des Gesprächs. «radiz» steht für «Rare Disease Initiative Zürich», klinischer Forschungsschwerpunkt für seltene Krankheiten Universität Zürich.
ARS MEDICI 11 ■ 2013
589