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Titel
Arsenicum
Untertitel
Avatar-Arzt
Lead
Während man in der SBB – allerdings nur in neueren Waggons und nur auf gewissen Plätzen – auf dem Boden kriechend eine Steckdose für das Reinigungspersonal finden und für seinen Compi zweckentfremden kann, bietet die Deutsche Bundesbahn in ihren Zügen überall Steckdosen zur Verfügung der Zugpassagiere. Leider auf Augen-/ Ohren-Höhe. «Tschulljung!», brüllte mir kürzlich im ICE ein Jüngling im Nadelstreifenanzug ins Ohr.
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Rubriken — ARSENICUM
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5449
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Avatar-Arzt

W ährend man in der SBB – allerdings nur in neueren Waggons und nur auf gewissen Plätzen – auf dem Boden kriechend eine Steckdose für das Reinigungspersonal finden und für seinen Compi zweckentfremden kann, bietet die Deutsche Bundesbahn in ihren Zügen überall Steckdosen zur Verfügung der Zugpassagiere. Leider auf Augen-/ Ohren-Höhe. «Tschulljung!», brüllte mir kürzlich im ICE ein Jüngling im Nadelstreifenanzug ins Ohr. Ich schrak aus der verträumten Betrachtung der Schwarzwaldhöhen auf, die gemächlich an uns vorbeizogen – beziehungsweise wir an ihnen. Der Genadelstreifte stöpselte neben meinem Ohr in die Steckdose ein, zog mir ein Kabel am Nacken vorbei und liess sich mit einem Seufzer in den Sitz neben mir fallen. Laptop auf und Film an. Einen Film über die Ortenau. «Wir fahren da gerade durch!», schmunzelte ich, «Sie können sie live anschauen. Schauen Sie, in der Ferne sieht man die Achterbahn von Rust.» Mit leerem Blick schaute er mich an. Klar, er war mit Minikopfhörern vertäubt. Etwas genervt ob meiner Gestik und Mimik zog er den linken Stöpsel aus dem Ohr. Ich wiederholte, was ich gesagt hatte. Sein Blick wurde noch leerer. «Ich muss einen Überblick über die Ortenau haben, wenn ich in Offenburg ankomme», antwortete er. «Eben. Wir fahren ja durch!», insistierte ich. Er schüttelte den Kopf, während er mit einem Auge die Grossbildeinstellung eines Tannenzapfen knuspernden Eichhörnchen betrachtete. «Ist besser so», sagte er und klopfte auf seinen Laptop. «Geht schneller, zeigt mehr. Und mein Hotel für heute Abend kann ich auch schon buchen.» Kleinlaut nickte ich. Kam mir furchtbar altmodisch vor, als ich in Rastatt ausstieg und völlig ziellos durch die barocke Altstadt schlenderte. Die Residenz sah so aus, als ob Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden-Baden jeden Moment mit Gefolge aus dem Portal reiten könnte. Irgendwie kam ich an das Ufer der Murg, fand ein gemütliches kleines Lokal mit Garten und genoss ein Glas von der Sonne verwöhnten badischen Weins. Die freundliche Wirtin empfahl mir eine Pension in der Nähe. Sie zählte auf, was ich an Touristischem in der «Revolutionsstadt» nicht verpassen dürfe. Was ich aber sicher doch tat, denn an einem Wochenende – plus Symposium – gibt es zu viele Sehenswürdigkeiten und zu wenig Zeit.

Sonntagabend auf der Rückfahrt hing ich meinen Erinnerungen nach. Um mich herum klickte es. Alle mit Pads, Laptops, Smartphones. Einige arbeiteten – zu erkennen an den Zahlenkolonnen oder den hektisch verfassten Powerpoint-Präsentationen –, doch die meisten schauten Filme. Draussen war ein herrlicher Sonnenuntergang zu sehen, der Isteiner Klotz leuchtete schneeweiss über der Weinberglandschaft mit kleinen, putzigen Dörfern. Doch die reale Welt, dreidimensional, mit Gerüchen, spricht moderne Menschen augenscheinlich weniger an als die virtuelle. Egal, ob Büro, Schulzimmer oder Wohnzimmer: Alle sind in ihrer elektronischen Welt. Während sein Avatar heroische Abenteuer besteht, wird der physische Mensch im Strassenverkehr überfahren, weil er den Blick auf sein Display gerichtet hat und wegen seiner Kopfhörer nicht das Auto hört, welches von einem mit Headgear telefonierenden, durch Autofernseher abgelenkten Fahrer gesteuert wird. Mir tun die Lehrerinnen und Dozenten leid, die liebevoll ihre Stunden für Zuhörer vorbereiten, welche sich dank ihren Elektronikspielzeugen leichter Verdaulichem zuwenden als Algebra oder Neuromodeling. Da gibt es virtuelle Ersatzeltern, die aus dem Fernsehen heraus den Kids im Studio und allen Kindern des Landes Basteltipps geben. Und physisch vorhandene Eltern, die twittern, chatten und surfen, während ihre dicken Kinder – statt im Sandkasten zu bauen oder auf dem Fussballplatz zu toben – neben ihnen auf dem Sofa Jump&Run-Games auf ihrem Kindercomputer spielen. «Virtuell» ist nicht das Gegenteil von «real», sondern von «physisch». Der kleine Unterschied ist nicht unwichtig. Trotz aller Begeisterung für Virtuelles: Beim Reisen, Essen, Trinken und Sex ziehe ich die gute alte materielle Welt vor. Und in der Praxis muss ich zwar gelegentlich meine Patienten bitten, das Handy während der Rektaluntersuchung läuten zu lassen, ohne abzunehmen, aber ihre Bronchitiden, Panaritien und Refluxe sind real genug, dass sie ihre Aufmerksamkeit für ein Weilchen fokussieren können. Auch die meisten Heilmittel sind durchaus stofflich – bis auf das ärztliche Gespräch. Das wird zunehmend durch Gesundheitsberater, Health-Nurses und Telemediziner ersetzt. Hoffentlich ist der Erfolg real … Dann schicke ich mal meinen Avatar morgens in die Praxis und schlafe aus …

ARSENICUM

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ARS MEDICI 11 ■ 2013