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FORTBILDUNG
Erkrankungen der Achillessehne
Erkrankungen der Achillessehne kommen häufig bei Freizeit- und Wettkampfsportlern vor, können aber auch bei weniger aktiven Personen auftreten. In einem Review beschreiben amerikanische Wissenschaftler die Anatomie der Achillessehne, erläutern die diagnostische Evaluierung und diskutieren Behandlungsoptionen für Tendopathien und Rupturen.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Die Achillessehne ist die stärkste Sehne des Körpers und bildet die gemeinsame Endsehne des Musculus gastrocnemius und des Musculus soleus. Sie beginnt etwa in der Mitte der Wade und endet am hinteren Fersenbein. Den Verbindungsbereich der Sehne mit dem Knochen bildet ein Mischgewebe aus Knochen und Sehne, der Sehnenansatz. Das Kager-Dreieck, ein Fettpolster zwischen der Achillessehne und dem Kalkaneus, schützt die Blutgefässe in der Achillessehne. Im Gegensatz zu anderen Sehnen ist an der Achillessehne keine richtige Sehnenscheide, sondern ein Paratenon vorhanden, eine Umhüllung mit flexiblem Bindegewebe, das Gleitbewegungen ermöglicht. Paratenon und Achillessehne werden von Nerven der mit ihnen verbundenen Muskeln und der Haut
Merksätze
❖ Die Tendopathie des Mittelteils der Achillessehne kommt häufiger vor als die Insertionstendopathie.
❖ Eine Ruptur tritt am häufigsten bei Männern im vierten und fünften Lebensjahrzehnt auf.
❖ Exzentrische Übungen stellen die wirksamste Behandlung der Achillestendopathie dar.
❖ Eine Überweisung zum Chirurgen kann bei Rupturen in Betracht gezogen werden, oder wenn mit konservativer Behandlung in 6 Monaten kein Erfolg erzielt wird.
durchzogen. Beim Paratenon handelt es sich um eine hoch vaskuläre Struktur, die zusammen mit dem umgebenden Muskelkomplex die Achillessehne mit Blut versorgt. Derzeit geht man davon aus, dass Verletzungen der Achillessehne aus einem kontinuierlichen Prozess resultieren. Zunächst wird durch Überlastung eine reaktive Tendopathie verursacht, eine nicht entzündliche Reaktion, die zu einer Verdickung der Sehne und zu zunehmender Steifheit führt. Hält die Überlastung weiter an, kommt es zu einer mangelhaften zellulären Reparatur und schliesslich zu einer degenerativen Tendopathie. Ob die Degeneration eine Schmerzursache darstellt, ist unklar, da auch bei vielen asymptomatischen Achillessehnen degenerative Veränderungen erkennbar sind. In schmerzhaften Sehnen ist jedoch eine Zunahme an sensorischen und sympathischen Nerven aus dem Paratenon und dem Fettpolster erkennbar, die eine Schmerzursache bei symptomatischer Tendopathie sein könnte. Aus Messungen geht hervor, dass auf die Achillessehne beim Laufen Kräfte bis zum 12,5-Fachen des Körpergewichts einwirken, was vermutlich zur hohen Verletzungsrate beiträgt.
Tendopathie Häufigste Ursache von Erkrankungen der Achillessehne sind Tendopathien im mittleren Teil der Sehne (55–65%) und weniger häufig auch an der Verbindungsstelle mit dem Fersenbein (20–25%). Diese Unterscheidung ist von Bedeutung, da eine unterschiedliche Behandlung erforderlich ist. Erkrankungen der Achillessehne können jeden Menschen treffen, kommen jedoch am häufigsten bei aktiven Personen vor, die Sportarten betreiben, die mit Laufen oder Springen verbunden sind. Alter, männliches Geschlecht und Übergewicht wurden als Risikofaktoren für die Entwicklung von Tendopathien diskutiert, was in Studien jedoch nicht bestätigt werden konnte. In einer Studie mit Militärrekruten waren eine verminderte Kraft zur Plantarflexion und aussergewöhnliche Dorsiflexionen mit Erkrankungen der Achillessehne verbunden. Anormale Bewegungen des Subtalargelenks tragen ebenfalls zur Tendopathie im Mittelteil der Sehne bei. Eine positive Familienanamnese erhöht das Risiko für Tendopathien um fast das Fünffache, was auf eine genetische Verbindung hinweist. Medizinische Faktoren, die mit Erkrankungen der Achillessehne verbunden sein können, sind Bluthochdruck, Hyperlipidämie und Diabetes. Hier kommt es möglicherweise infolge von Glykierung oder systemischen Entzündungsprozessen zu Tendopathien.
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Achillessehnenruptur Die wenigsten Tendopathien gehen auf eine einzige Ursache zurück. Der degenerative Prozess vor der Ruptur resultiert aus zahlreichen unterschiedlichen pathologischen Vorgängen und verursachenden Faktoren. Ab einem Alter von 35 Jahren sind degenerative Prozesse wahrscheinlich und tragen zur zunehmenden Suszeptibilität für eine Sehnenruptur bei. Eine Ruptur der Achillessehne tritt am häufigsten bei Männern im vierten oder fünften Lebensjahrzehnt auf, möglicherweise weil bereits degenerative Prozesse eingesetzt haben, der Aktivitätsgrad der Betroffenen aber immer noch hoch ist. Die Inzidenz der Achillessehnenruptur beträgt in der Allgemeinbevölkerung 7 pro 100 000 Personen und bei Wettkampfsportlern 12 pro 100 000 Personen. Eine zuvor erlittene Ruptur der Achillessehne erhöht das Risiko für eine Verletzung der kontralateralen Achillessehne. Die häufigsten Auslöser einer Ruptur sind Sprinten, Springen oder andere abrupt ausgeführte Bewegungen. Bei weniger aktiven älteren Menschen können auch Medikamente eine Rolle spielen. In einer populationsbasierten Untersuchung wurden 12 Achillessehnenerkrankungen pro 100 000 Behandlungen mit Fluorchinolonantibiotika beobachtet. Auch in einer anderen populationsbasierten Studie zur Medikamentensicherheit kamen Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass Fluorchinolone das Risiko für Erkrankungen der Achillessehne oder eine Ruptur erhöhen. Die gleichzeitige Anwendung von Fluorchinolonen und Kortikosteroiden erhöhte in Studien das Risiko für eine Ruptur sogar signifikant.
Wie werden Erkrankungen der Achillessehne evaluiert? Die ersten Schritte zur Evaluierung bestehen in einer sorgfältigen Anamnese und einer körperlichen Untersuchung. Im Rahmen der Anamnese sollten Beginn und Dauer sowie lindernde und verstärkende Faktoren der Beschwerden und auch der Trainingsstatus, vorherige Verletzungen und Behandlungen erfragt werden. Zudem sollte sich der Arzt nach Risikofaktoren wie vorherigen Verletzungen oder Tendopathien in der Familienanamnese sowie nach der medizinischen Vorgeschichte und der Einnahme von Medikamenten erkundigen.
Schliesslich werden der aktive und passive Bewegungsradius untersucht und ein Test der Stärke der Plantarflexion, der Dorsiflexion, der Eversion und der Inversion durchgeführt, um Bewegungseinschränkungen oder eine Muskelschwäche zu evaluieren, welche die erneute Verletzung begünstigen könnten. Es ist von grosser Bedeutung, die verletzte Gliedmasse mit der nicht verletzten zu vergleichen, um auch geringfügige Unterschiede feststellen zu können. Die Schwere der Tendopathie und das Ansprechen auf die Behandlung können mit validierten Erfassungsinstrumenten wie dem Victorian Institute of Sport Assessment (VISA-A) mit acht Fragen zur Evaluierung von Steifheit, Schmerzen und Funktionsfähigkeit untersucht werden.
Evaluierung von Rupturen Klassischerweise beschreiben Patienten mit vollständiger Ruptur ein Gefühl, als ob ihnen jemand «von hinten ins Bein geschossen» hätte, welches meist im Zusammenhang mit einer abrupten Bewegung beim Laufen oder Springen auftritt sowie mit unmittelbaren Schmerzen und der Unfähigkeit verbunden ist, die Aktivität weiterhin auszuüben. Da die Schwerkraft und die Aktivitäten des Musculus tibialis posterior, des Musculus peroneus und des Grosszehenflexors eine aktive Plantarflexion verursachen können, sollte der Patient in Bauchlage auf eine Ruptur untersucht werden. Ekchymosen weisen auf eine Ruptur hin, und innerhalb der ersten Stunden nach der Ruptur kann auch ein tastbarer Defekt vorhanden sein. Die Ruptur kann durch den Wadendrucktest bestätigt werden: Drückt der Arzt die Wadenmuskeln des Patienten leicht mit der Handfläche, erfolgt bei intakter Sehne eine Plantarflexion. Ist die Sehne gerissen, bleibt der Knöchel bewegungslos. Zum Vergleich sollten beide Beine getestet werden.
Welche Differenzialdiagnosen können bei Schmerzen der oberen Ferse zutreffen? Zu den Differenzialdiagnosen gehören retrokalkaneale Bursitis oder Enthesitis, Verletzungen der plantaren Muskulatur und ein Impingement des Knöchels oder des Nervus suralis.
Evaluierung der Tendopathie Patienten mit einer Tendopathie beschreiben meist Schmerzen oder eine Steifheit der Achillessehne im 2 bis 6 cm über der Insertionsstelle am Fersenbein gelegenen Abschnitt. Morgensteifigkeit kommt häufig vor, und die Beschwerden verschlimmern sich für gewöhnlich bei Aktivität, können aber auch in Ruhephasen andauern. Weniger häufig verspüren Patienten eine punktuelle Berührungsempfindlichkeit über der Insertionsstelle. Eine Begutachtung des Gangbildes des Patienten kann auf Abnormitäten hinweisen. Um schmerzempfindliche Bereiche zu evaluieren, wird der Unterschenkel bei Bauchlage des Patienten abgetastet. Eine Schmerzempfindlichkeit im Sehnenkörper oder an der Insertionsstelle mit oder ohne Gelenkreiben (Krepitus) weist auf eine Tendopathie hin. Eine Schwellung im Bereich der Sehne oder Gelenkreiben bei aktiver Bewegung kann auf eine Entzündung des Paratenons hinweisen. Tendopathie und Paratenonitis können koexistieren. Bei isolierter Paratenonitis findet man eine lokale Verdickung des Paratenons.
Welche Bedeutung haben bildgebende Verfahren? Die meisten Erkrankungen der Achillessehne werden klinisch diagnostiziert. Das MRT ist in einigen Fällen ebenfalls von Nutzen, weil mit diesem Verfahren Abnormitäten in der gesamten lokomotorischen Einheit inklusive der Sehne, des Kalkaneus, der Achillesinsertion, des retrokalkanealen Schleimbeutels, der peritendinösen Gewebe und der MuskelSehnen-Verbindung nachgewiesen werden können. Die Ultraschalluntersuchung ermöglicht zudem eine dynamische Evaluierung der Sehne und ist auch bei geführten perkutanen Eingriffen von Nutzen.
Welche Behandlungsmöglichkeiten stehen zur Verfügung? Bei den meisten Erkrankungen der Achillessehne werden zunächst konservative Behandlungsoptionen angewendet (siehe Abbildung). Die Behandlungsziele bestehen in einer Reduzierung der Belastung und im Schmerzmanagement. Dem Patienten wird geraten, die auslösende Aktivität einzuschränken oder ganz einzustellen, einen erhöhten Absatz zu
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Patient mit Schmerzen im Bereich der Achillessehne
Wadendrucktest zum Ausschluss einer Ruptur
positiv
Konsultation des Chirurgen
negativ
konservatives Management
unklar
bildgebende Untersuchung zur besseren Evaluierung
keine Besserung innerhalb von 7–10 Tagen
Beginn mit exzentrischen Übungen, ggf. Überweisung zum Physiotherapeuten
ggf. GlyceryltrinitratPflaster
Weiterführung der Übungen über 3–6 Monate
kein Ansprechen
Überweisung zum Sportmediziner oder ergänzende Behandlung mit Niedrigenergiestosswellentherapie, Injektionen, Lasertherapie
Abbildung: Algorithmus zur Behandlung von Erkrankungen der Achillessehne (nach Asplund und Best)
tragen, um die Achillessehne zu verkürzen und deren Belastung zu reduzieren, sowie gegebenenfalls Schmerzmittel wie Paracetamol einzunehmen. Patienten mit einer vollständigen Ruptur werden zum Chirurgen zur Beratung über die weitere Behandlung überwiesen. Reichen konservative Therapien nicht aus, wird zum Sportmediziner oder zum Orthopäden überstellt.
Behandlung der Tendopathie Mit exzentrischen Wadenübungen wurden die besten Behandlungsergebnisse bei Tendopathien des Mittelbereichs bezüglich der Schmerzlinderung und der Funktionsfähigkeit im Vergleich zu anderen Optionen wie konzentrischen Übungen, Stretching oder Ultraschall erzielt. Derzeit empfehlen die Autoren ein Training nach Alfredson in 3 Durchgängen mit jeweils 15 Wiederholungen. Diese Übungen werden 2-mal täglich über einen Zeitraum von bis zu 12 Wochen durchgeführt. Eine niedrigenergetische Stosswellentherapie oder eine Niedrigenergie-Lasertherapie können das Behandlungsergebnis verbessern und sind bei Patienten von Nutzen, die auf exzentrische Übungen nicht ausreichend ansprechen. Die Studienergebnisse zum Nutzen von topischem Glyceryltrinitrat (Nitroglycerin, Nitro Dur® Matrixpflaster) bei Verletzungen der Achillessehne sind kontrovers. Falls die Substanz angewendet werden soll, empfehlen die Autoren, ein 5-mg/24-Stunden-Pflaster in vier Teile zu schneiden und ein Viertel auf der schmerzenden Stelle anzubringen. Das Pflaster verbleibt dort über 24 Stunden und wird täglich gewechselt, bis der Schmerz nachlässt oder bis eine Behandlungsdauer von 12 Wochen erreicht ist. Inwieweit Behandlungsoptionen für die Tendopathie des mittleren Sehnenbereichs auch bei der Insertionstendopathie wirksam sind, ist unklar. Aus einem systematischen Review zu 11 Studien geht hervor, dass vor einer chirurgischen Intervention eine konservative Behandlung inklusive exzentrischer Belastungsübungen und Schockwellentherapie versucht werden sollte.
Behandlung der vollständigen Achillessehnenruptur Bei einer vollständigen Ruptur wird häufig ein operativer Eingriff empfohlen, der Langzeitnutzen wird allerdings kontrovers diskutiert. Die Chirurgie wird zwar als Goldstandard betrachtet, in 2 randomisierten Studien wurden jedoch beim Vergleich des chirurgischen Eingriffs mit konservativer Behandlung im Hinblick auf das funktionelle Ergebnis keine signifikanten Unterschiede festgestellt. Da das klinische Ergebnis bei konservativer oder operativer Behandlung vergleichbar ausfallen kann, ist die Identifizierung der Patienten von Bedeutung, die von einem chirurgischen Eingriff am meisten profitieren. Nicht chirurgische Verfahren sind allgemein am besten für ältere, weniger aktive Patienten sowie für Personen mit beeinträchtigter Hautintegrität oder Wundheilungsstörungen geeignet. Ein chirurgisches Management wird für junge Menschen und aktive Athleten sowie für Patienten empfohlen, bei denen konservative Optionen nicht ausreichend wirksam waren.
Therapieoptionen bei Teilruptur Die Unterscheidung einer Teilruptur von einer Tendopathie kann sich schwierig gestalten. In einigen Fällen kann hier eine Ultraschalluntersuchung weiterhelfen. Die Heilung der Sehne verläuft häufig langsam und unvollständig, und Teilrupturen sprechen oft schlecht auf konservative Behandlungsoptionen an. Hier ist deshalb die Chirurgie trotz langer Rehabilitationszeiten und einer höheren Inzidenz an Komplikationen das empfohlene Verfahren. Die Injektion von plättchenreichem Plasma kann eine nützliche ergänzende Behandlungsoption darstellen, allerdings sind weitere Studien erforderlich, bevor diese Option allgemein empfohlen werden kann.
Wie ist die Prognose?
Bei den meisten Patienten bessert sich die Tendopathie bei
konservativer Behandlung. Meist kommt es im Verlauf von
12 Wochen nach Behandlungsbeginn zu einer signifikanten
Reduzierung der Schmerzen und zu einer Funktionsverbesse-
rung. In einer Langzeitbeobachtungsstudie erreichten 85 Pro-
zent der Teilnehmer wieder die normale Funktionsfähigkeit
und blieben über weitere 8 Jahre nach der Verletzung asym-
ptomatisch. Bei einer Tendopathie bleiben chirurgische Ein-
griffe Patienten vorbehalten, die innerhalb von 6 Monaten
auf konservative Optionen nicht ansprechen. Die Behand-
lung der Ruptur wird kontrovers diskutiert. Gute Ergebnisse
wurden sowohl nach konventionellen als auch nach chirur-
gischen Eingriffen beobachtet. Ungeachtet der Behandlung
können jedoch funktionelle Defizite bis zu 2 Jahre lang be-
stehen bleiben. Die Patienten sollten daher auf einen mögli-
cherweise langfristigen Rehabilitationszeitraum hingewiesen
werden.
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Petra Stölting
Quelle: Asplund CA, Best TM: Achilles tendon disorders. BMJ 2013; 346: f1262, doi: 10.1136/bmj.f1262.
Interessenkonflikte: keine deklariert
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