Transkript
Serie: Kompressionstherapie
Welcher Kompressionsstrumpf ist für welches Bein geeignet?
FORTBILDUNG
Die moderne Kompressionsstrumpfversorgung bietet eine derart breite Vielfalt an Materialien, Farben, Längen, Kompressionsklassen und Halterungen, dass die Auswahl des richtigen Strumpfes manchmal nicht leicht fällt. Für den Arzt als Verordner ist es wichtig, dem Patienten an dieser Stelle mit Rat und Tat zur Seite stehen zu können.
ERIKA MENDOZA
Die Kompression dient der Verringerung des Ödems und der Folgeerscheinungen der chronischen venösen Insuffizienz. Da diese meist an den Waden auftreten, ist in aller Regel ein Kniestrumpf zur optimalen Versorgung ausreichend. Auch bei Thrombosen spielt sich der Hauptteil der Wirkung des Strumpfes an der Wade ab, wo der Fluss in den tiefen Beinvenen beschleunigt wird. Er lässt sich leichter anziehen und wird allgemein leichter toleriert. Als Faustregel gilt: «Ein Kniestrumpf am Bein ist besser als ein Schenkelstrumpf im Schrank!»
Verschiedene Modelle Der Kompressionskniestrumpf (Wadenstrumpf oder «A-D») reicht bis 2 Querfinger unterhalb der Kniekehle. Er ist für die «Grundversorgung» in allen Fällen geeignet.
Merksätze
❖ Vorrangiges Therapieziel ist die Besserung der klinischen Befunde.
❖ Es ist nicht möglich, jeder Diagnose eine einzige Kompressionsklasse oder Strumpflänge starr zuzuordnen.
❖ In der Regel ist der Kompressionskniestrumpf als Prophylaxe und dauerhafte Therapie nach Thrombose ausreichend.
❖ Eine erfolgreiche Therapie erleben wir dann, wenn der Strumpf getragen wird – auch wenn die Kompressionsklasse geringer ist als die «leitliniengerechte».
Auch in der Schwangerschaft ist er in der Indikation «Vorbeugung» ausreichend.
Der Schenkelstrumpf («A-G») reicht bis knapp unter den Schritt und wird mit einem Haftrand am oberen Ende versehen, um ein Abrutschen des Strumpfes zu vermeiden. Er ist dann indiziert, wenn am Oberschenkel (auch) Beschwerden vorliegen. Einige Patienten mit Varikose im Bereich des Oberschenkels haben das Gefühl, die Varize wird am Knie eingeschnürt, wenn sie nur einen Kniestrumpf tragen. Bei oberflächlichen Gerinnseln am Oberschenkel mit Schmerzen, Rötung und Verhärtung ist die Kompression im Schmerzbereich symptomatisch lindernd. Auch hier ist ein Schenkelstrumpf besser als der Kniestrumpf. Entstehen während der Schwangerschaft sichtbare Venen am Oberschenkel, sind ebenfalls die Schenkelstrümpfe ideal. Eine der wichtigsten Indikationen ist die postoperative Versorgung nach Varizenbehandlung im Bereich des Oberschenkels. Zur Versorgung von Lipödemen und Lymphödemen am Oberschenkel ist der Schenkelstrumpf von der Länge her geeignet, jedoch zeigen sich oft Schwierigkeiten mit den Noppenhafträndern, die sich gerne einrollen. Neu am Markt sind Haftränder, die atmungsaktiv sind und dennoch über die gesamte Fläche adhärent sind. Sie scheinen bei Problemschenkeln die Lösung darzustellen, alternativ sollte bei diesen Patienten lieber auf eine Hüfthalterung oder eine Strumpfhose zurückgegriffen werden. Hüfthalterungen erlauben auch Herren mit behaarten Oberschenkeln das Tragen von schenkellangen Strümpfen, ohne die für Herren häufig unangenehme Strumpfhose tragen zu müssen.
Kompressionsstrumpfhosen (A-T) weisen in der Regel im Leibteil keine Kompression auf. Dieser dient ausschliesslich der Halterung der schenkellangen Kompression, ohne auf einen Haftrand zurückgreifen zu müssen. Angenehmer als Schenkelstrümpfe sind Strumpfhosen bei inguinalen und vaginalen Varizen.
Kompressionsstrumpfhosen Materna (A-T /U) sind besonders weit im Bauchbereich, bzw. können gezielt weiter gestellt werden. Sie werden in der Schwangerschaft oder bei Adipositas im Abdomenbereich angewendet.
ARS MEDICI 9 ■ 2013
477
SERIE KOMPRESSIONSTHERAPIE
Tabelle:
Wann kommt welche Kompressionsklasse zum Einsatz?
KKL 1 18–21 mmHg
❖ schwere, müde Beine mit Schwellungsneigung ❖ Prophylaxe von Thrombosen und Embolien für immobilisierte Patienten ❖ Prophylaxe der Reisethrombose ❖ geringgradige Varikose ohne Beinödeme ❖ geringgradige Varikose während der Schwangerschaft
KKL 2 23–32 mmHg
❖ Varikose mit leichter Ödemneigung ❖ nach Varizenbehandlung (operative Verfahren, Sklerosierung, Laser) zur Aufrechterhaltung des Therapieerfolges ❖ bei tiefer Beinvenenthrombose ❖ postthrombotisches Syndrom ❖ oberflächliche aseptische Thrombophlebitis ❖ nach Abheilung venöser Ulcera bei chronisch-venöser Insuffizienz ❖ ausgeprägte Varikose während der Schwangerschaft
KKL 3 34–46 mmHg
❖ aktives Ulcus cruris venosum ❖ rezidivierendes Ulcus cruris venosum ❖ Ausprägungen fortgeschrittener CVI wie Lipodermatosklerose ❖ reversibles Lymphödem, Lipödem ❖ posttraumatisches Syndrom ❖ Angiodysplasie
KKL 4 min 49 mmHg
❖ irreversibles Lymphödem ❖ ausgeprägtes postthrombotisches Syndrom
KKL = Kompressionsklasse. Der Anpressdruck am Knöchel wird in mmHg angegeben.
Offene oder geschlossene Zehenspitze? Abgesehen von der Länge des Strumpfes kann der Abschluss an den Zehen für den Patienten relevant sein. Medizinisch ist die Kompression in den Zehen nur bei ausgeprägtem Lymphödem relevant, in diesen Fällen würden ohnehin Flachstrickstrümpfe verordnet (s.u.). Die Wahl der offenen oder geschlossenen Spitze ist aber für den Patienten unter Umständen sehr wichtig.
Offene Zehenspitzen am Strumpf – dieses Modell erlaubt es, diverse Anziehhilfen über den Fuss zu ziehen, um das Gleiten des Strumpfes beim Anlegen zu erleichtern. Für Patienten mit Bewegungseinschränkungen oder Kräfteeinbussen ist dies daher eine sinnvolle Hilfe. Bei Patienten mit langen Füssen vermeidet die offene Spitze den ständigen Druck gegen die Zehen. Patienten mit eingeschränkter arterieller Durchblutung können bei den offenen Modellen ihre Zehen auf Verfärbungen kontrollieren. Im Sommer wird diese Variante oft bevorzugt. Der Nachteil ist, dass im Winter ein weiterer Strumpf darübergezogen werden muss. Dabei kann der Rand eingerollt werden, was Druckstellen verursachen könnte. Bei Patienten mit stehen-
dem Beruf ist der Strumpfabschluss unter dem Ballen oft störend. Patienten mit Zehfehlstellungen, z.B. Hallux Valgus, können das Bündchen (den Abschluss) als besonders einschränkend erleben – Patienten mit Hammerzehen aber lieben es, wenn diese Zehe frei von Kompression ist.
Eine geschlossene Zehenspitze ist im allgemeinen die angenehmere Variante, wenn keine der oben genannten Einschränkungen vorliegt.
Welche Qualität ist die optimale? Der gängige moderne Kompressionsstrumpf enthält Elasthan und Synthetikfasern, die in verschiedenen Zusammensetzungen ein eher optisch ansprechendes oder ein festeres Gestrick ergeben. Sie können in modischen Trendfarben gefärbt werden und machen das Tragen von Kompression für die modebewusste Frau ebenso möglich wie für den Herrn, der am liebsten mit seinem Strumpf nicht auffallen möchte. Für besondere Indikationen gibt es sinnvolle Materialien, die hier kurz skizziert werden sollen: Naturkautschuk ist das Material, aus dem der klassische «Gummistrumpf» gestrickt wurde. Es handelt sich um einen Strumpf mit gröberen
478
ARS MEDICI 9 ■ 2013
SERIE KOMPRESSIONSTHERAPIE
Abbildung 2 (oben): Ein zu enger Haftrand kann Spuren auf der Haut hinterlassen.
Abbildung 1 (links): Lipo-Lymphödem mit sehr variabler Beinform und tiefer Furche am Knöchel, die eine Versorgung mit einem Flachstrickstrumpf nahelegt.
Maschen, daher ist er atmungsaktiver. Die Kompressionskraft lässt im Lauf des Tages im Vergleich zu anderen rundgestrickten Kompressionsstrümpfen am wenigsten nach, er ist allerdings optisch unansehnlich und schwerer anzulegen.
Auch für Allergiker Allergiker vertragen oft keine synthetischen Materialien auf der Haut. Die Beimischung von Baumwolle in das Strumpfgestrick löst dieses Problem nicht. Einige Strümpfe mit «Cotton»-Qualität mischen nicht nur Baumwolle in das Gestrick, sondern verwenden einen elastischen Faden, der vor der Weiterverarbeitung komplett mit Baumwolle umsponnen wird. Somit ist garantiert keine synthetische Faser in Hautkontakt. Juckreiz und Rötungen unter Kompressionsstrümpfen werden dadurch deutlich verringert. Eine Studie konnte für die-
sen Strumpf im Vergleich verschiedener Strumpfmaterialien die besten An- und Ausziehqualitäten nachweisen. Dies ist für ältere oder bewegungseingeschränkte Patienten sehr wichtig. Die Versorgung von Patienten mit chronischen Beinwunden (Ulcus cruris) wird durch verschiedene Systeme erleichtert: Kompressionsstrümpfe mit Reissverschluss-Systemen oder einem «Unterstrumpf» ohne Kompression zum Fixieren der Wundauflagen. Der gängige Strumpf ist der rundgestrickte Strumpf. Bei besonders ausgeprägten Ödemen wie bei Lymphödem mit tiefen Einschnürungen oder Lipödem mit bizarren Beinformen (siehe Abbildung 1) würden diese Strümpfe sich in den Furchen sammeln. Für sie ist der Flachstrickstrumpf geeignet, bei dem zunächst offen («flach») gestrickt wird mit der Möglichkeit, Maschen zu- und abzunehmen, und das Gestrick am Ende mit einer Naht an der Beinrückseite zum Schlauch genäht wird.
Wie stark soll komprimiert werden?
Die Stärke des Drucks auf das Bein definiert sich als Kom-
pressionsklasse (KKL). In Deutschland, Österreich und der
Schweiz unterliegen die Kompressionsklassen der Einteilung
in Kompressionsklasse 1 bis 4 nach RAL (Gütezeichen
Medizinischer Kompressionsstrümpfe). Die Kompressions-
klasse 2 ist die gängigste für Varizen und Ödeme. Die
Kompressionsklasse 1 wird nicht in jedem Gesundheitssys-
tem vergütet. Die Verordnung von Kompressionsklasse
3 und 4 ist ausgeprägten Fällen von postthrombotischem
Syndrom und Lymphödemen vorbehalten und sollte durch
Fachärzte erfolgen.
Einen Überblick über die empfohlenen Indikationen je Kom-
pressionsklasse bietet die Tabelle. Es ist nicht möglich, jeder
Diagnose eine einzige Kompressionsklasse starr zuzuordnen,
es sollte das Stadium der jeweiligen Erkrankung mit in Be-
tracht gezogen werden. Auch die Compliance der Patienten
hat einen Einfluss auf die Wahl der Kompressionsklasse. Hat
ein Patient Schwierigkeiten mit dem Handling eines Strump-
fes der Klasse 2, kann es sinnvoll sein, einen Strumpf der
Klasse 1, der zuverlässig getragen werden wird, in Erwägung
zu ziehen.
Vorrangiges Ziel der Therapie ist die Besserung der klini-
schen Befunde.
❖
Dr. med. Erika Mendoza Fachärztin für Allgemeinmedizin, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für CHIVA, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie Speckenstrasse 10, D-31515 Wunstorf E-Mail: erika.mendoza@t-online.de
Interessenkonflikte: keine
Abbildung 3: Das Rezept muss neben der Angabe des Modells die Kompressionsklasse und Indikation umfassen.
Im Rahmen dieser Serie, die auf Anregung der Firma Sigvaris entstand, kommen verschiedene Experten zu Wort. Deren Angaben basieren auf der aktuellen Studienlage und den Erfahrungswerten aus der Praxis.
ARS MEDICI 9 ■ 2013
479