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BERICHT
Neues Kompetenzzentrum
Interdisziplinärer Zusammenschluss nimmt sich der Multimorbidität an
Eröffnungssymposium, Kompetenzzentrum Multimorbidität der Universität Zürich 24. Januar 2013, Zürich
Ob medizinisch, individuell oder gesellschaftlich – die aktuelle demografische Entwicklung macht die Multimorbidität zu einer zentralen Herausforderung. Trotzdem ist sie bis heute noch eher unerforscht. Einen Beitrag zum besseren Verständnis möchte das im Januar offiziell eröffnete Kompetenzzentrum für Multimorbidität der Universität Zürich leisten. Es widmet sich der Thematik in den verschiedensten Facetten.
CHRISTINE MÜCKE
«… auf dass Vielfalt und Dynamik der Krankheiten Arzt, Patient und Forscher nicht zermürben …» – mit diesen Worten lud das Kompetenzzentrum Multimorbidität zum Eröffnungssymposium. An diesem Anlass gab es nicht nur, wie bei solchen Gelegenheiten üblich, viele gute Wünsche, sondern auch Referenten sehr unterschiedlicher Disziplinen. Neben dem Historiker Prof. Dr. Jakob Tanner näherten sich Prof. Dr. Gerd Folkers, Direktor des Collegium Helveticum, sowie der Schriftsteller Adolf Muschg dem Thema auf ihre Weise. Das Patronat der Veranstaltung hatten die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften und die Schweizerische Akademie der Geistes-
Der interdisziplinären Ausrichtung entsprechend wurden bei der Eröffnung des Kompetenzzentrums Multimorbidität verschiedene Blickwinkel aufgezeigt.
und Sozialwissenschaften (SAGW) gemeinsam übernommen. Das spiegelt nicht nur die nationale Bedeutung des Kompetenzzentrums, sondern zeigt gleichermassen einen möglichen Ansatz zur Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema. Denn Herausforderungen, die sich wie die Multimorbidität nicht an disziplinäre Grenzen halten, erfordern einen grenzüberschreitenden Ansatz. Für diese interdisziplinäre Herangehensweise stehen neben dem neuen Kompetenzzentrum auch die Akademien, die sich von jeher bemühen, Probleme in der notwendigen Breite anzugehen, wie der Präsident der SAGW, Prof. Dr. Heinz Gutscher, ausführte.
Hohe gesellschaftliche Relevanz Aufgrund der medizinischen, sozialen, wirtschaftlichen und historischen Entwicklung der letzten Jahrhunderte wird die Bevölkerung heute immer älter, damit verstärkt sich der Trend zur Multimorbidität. Chronische Erkrankungen nehmen zu und damit auch die Multimorbidität. Ziel des Zentrums ist es, über das Zusammentreffen mehrerer Erkrankungen im Kontext des
Lebens, der Lebensqualität und des Umfeldes der betroffenen Patienten zu forschen und zu lehren. Denn: «Die Komplexizität der Behandlung multimorbider Patienten ist für das Gesundheitssystem von grösster Bedeutung», so Prof. Dr. Edouard Battegay, Universitätsspital Zürich, der Präsident des neuen Kompetenzzentrums, anlässlich des Symposiums. Nicht zuletzt aufgrund der demografischen Entwicklung muss die Zuordnung von Ressourcen in der medizinischen Betreuung und Forschung neu überdacht werden. Das zunehmende Bemühen um das Verständnis komplexer Zusammenhänge ist kein Phänomen allein der Medizin, auch in der Biologie, Ökonomie und bei den Geisteswissenschaften finden sich ähnliche Entwicklungen.
Wie krank sind multimorbide Patienten? «Gesundes Altern und Multimorbidität müssen sich nicht notwendigerweise ausschliessen», so Battegay, der sogenannte Multimorbide ist oftmals noch in vielerlei Hinsicht gesund und sogar leistungsfähig. Nicht selten aber wird der multimorbide Patient fälschlicher-
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weise mit fast präfinal krank assoziiert. Dabei ist es von der Wortbedeutung kommend erst einmal nur ein Patient, der nicht nur an einer, sondern an mindestens zwei chronischen Erkrankungen leidet. Das betrifft gesamthaft etwa 30 Prozent der Patienten, ist grundsätzlich in jeder Altersklasse anzutreffen, wird aber mit zunehmendem Alter häufiger. Für den Hausarzt gehören Patienten mit mehr als einem Krankheitsbild zum Alltag; sie sind ab einem gewissen Alter eher die Regel als die Ausnahme.
Bedürfnisse noch nicht ausreichend erfasst Viele Fragen zur Behandlung der multimorbiden Patienten sind allerdings noch nicht abschliessend geklärt: Was weiss man wirklich über das Zusammenwirken verschiedener Erkrankungen und vor allen auch die Wechselwirkungen der Behandlungen mit den jeweiligen Erkrankungen? Die Bedürfnisse der Betroffenen sind vielschichtig und bis heute wenig untersucht, denn Patienten mit Mehrfacherkrankungen sind in den gängigen klinischen Studien oftmals ausgeschlossen. Eine Interpolation aber ist nicht möglich, ist doch die Multimorbidität mehr als nur die Summe der Einzelerkrankungen.
Multimorbidität und chronische Krankheiten
Zentrales Thema an der SGIM-Jahresversammlung
Als zunehmendes Problem stehen die chronischen Krankheiten und die daraus resultierende Multimorbidität auch im Zentrum der diesjährigen SGIM-Jahrestagung. Parallel vorhandene chronische Störungen und Krankheiten sind heute bereits selber das häufigste Problem in der ärztlichen Praxis. Hausärzte sowie Spitalgeneralisten werden in ihrem Alltag häufig mit Situationen konfrontiert, in denen sie vor diesem Hintergrund handeln und entscheiden müssen, ohne dass es Empfehlungen gäbe. Am Kongress stehen neben den medizinischen Problemen auch deren Folgen für die Planung der medizinischen Versorgung auf dem Programm. Im Rahmen der Trendsitzungen werden beispielsweise Aspekte der Epidemiologie und des Managements der Multimorbidität in der hausärztlichen Versorgung behandelt sowie die Probleme, die mit der Polypharmazie einhergehen (Mittwoch). Diese Problematiken werden anhand praktischer Beispiele weiter verdeutlicht, ebenso Aspekte der Palliativmedizin (Symptomkontrolle sowie Palliativmedizin im Pflegeheim; Donnerstag). Auch internationale Perspektiven werden aufgezeigt (Rath-Steiger, Lecture: «Multimorbidity – redesigning health care for people who use it», Chris Salisbury, Bristol). Und am Freitag wird die Polypharmazie noch einmal in verschiedenen Sitzungen thematisiert, ebenso die Frage der Evidenz in der Therapie der Multimorbidität. Last, but not least wird sich Wolf Langewitz in der Farewell Lecture mit der patientenzentrierten Kommunikation bei Patienten mit multiplen chronischen Problemen auseinandersetzen. Nähere Informationen unter: www.sgim.ch/de/veranstaltung/sgim-jahresversammlung/2013/
Interaktionen schwierig abzuschätzen Zwar erlauben entsprechende Portale schon heute ein Abschätzen möglicher Interaktionen. Dennoch: Ist das Zusammenwirken der einzelnen Medikamente nicht auch vor dem Hintergrund
Kompetenzzentrum Multimorbidität
Das Kompetenzzentrum Multimorbidität der Universität Zürich ist ein junges Konsortium verschiedener Institute der medizinischen und der philosophischen Fakultät und ist als offenes interdisziplinäres Forschungsnetzwerk angelegt. Es dient dem Aufbau von Forschungs- und Lehrstrukturen in diesem wichtigen Bereich – und die Universität Zürich kann stolz sein auf diese Initiative, der ersten in der Schweiz und vielleicht in dieser Breite sogar einzigartig, so Prof. Dr. Edouard Battegay. Weitere Informationen zum Kompetenzzentrum, seinen Zielen und Mitgliedern finden Sie online unter: www.multimorbidity.uzh.ch
der verschiedenen Erkrankungen noch einmal anders zu betrachten, muss man die Multimorbidität nicht sogar als eigenständiges Syndrom begreifen? Diese und weitere Fragen stellt sich Prof. Dr. Reinhard Saller, Universitätsspital Zürich, Mitglied des Leitungsausschusses, der dem neuen Zentrum ein grosses Mass an Neugierde wünscht, «damit es gelänge, das Verständnis der Multimorbidität zu verbessern». Hängt das Leben eines multimorbiden Menschen tatsächlich am seidenen Faden – oder ist vielleicht der polypharmakotherapierte Patient, bei dem sehr viele Interaktionen zum Tragen kommen, nicht einfach ein relativ robustes Wesen, bei dem mutmasslich bereits alles maximal gehemmt oder stimuliert ist und eine weitere Pille vielleicht gar keinen Unterschied mehr macht?
Umfassende Versorgung ermöglichen Das Wissen über diese Zusammenhänge ist heute noch begrenzt. In Anbetracht der kommenden demografischen
Veränderungen ist es umso notwendi-
ger, zu forschen und zu lernen, um diese
Herausforderungen bewältigen zu kön-
nen. Aber auch die Anliegen der betrof-
fenen Patienten und ihrer Angehörigen
hinsichtlich Krankheitsbewältigung
und Lebensqualität sollen in die For-
schung Eingang finden, um umfas-
sende Behandlungskonzepte zu ermög-
lichen.
«Für die Lebensqualität und die Hand-
lungsentscheidungen multimorbider
Personen spielen nicht nur die Sym-
ptome eine Rolle, sondern wieweit die
Erkrankungen das Verfolgen eigener
Ziele erlauben oder beeinträchtigen.
Evidenz für individualisierte Interven-
tionen wäre hier dringend nötig: Dazu
wird das Kompetenzzentrum wichtige
und neuartige Methoden und Daten
liefern», sagt Prof. Dr. Mike Martin,
Vizepräsident des Kompetenzzentrums
Multimorbidität.
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Christine Mücke
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