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FORTBILDUNG
Verordnung der Pille
Was muss der Hausarzt wissen?
Die klassische Pille ist mit einem Pearl-Index von 0,1 bei korrekter Anwendung eines der sichersten Kontrazeptionsverfahren. Trotzdem ist die Anwendung der Pille seit ihrer Markteinführung von Vorurteilen begleitet, die auch in der täglichen Praxis immer wieder geäussert werden. Diese werden im Folgenden anhand der vorliegenden Daten evidenzbasiert diskutiert. Zudem vermittelt der Artikel Tipps für die Auswahl der richtigen Pille, und er geht auf die von den Frauen häufig gestellten Fragen ein.
PETER MALLMANN
Seit ihrer Erstzulassung vor über 50 Jahren hat sich die hormonelle Kontrazeption zu dem im europäischen Raum am häufigsten angewandten kontrazeptiven Verfahren entwickelt. Die Pille enthält im Regelfall ein Östrogen, meist das synthetisch hergestellte Ethinylestradiol in einer Dosierung von 20 bis 35 mg, sowie ein Gestagen, das im Wesentlichen für die Sicherheit der Pille verantwortlich ist. Durch die Einnahme einer Pille wird dem Körper eine ausreichende Hormonkonzentration vorgetäuscht, wodurch die Sekretion von FSH und LH und damit die Follikelreifung gestört und die Ovulation zuverlässig gehemmt wird. Daneben haben die Gestagene noch einen Einfluss auf den Zervixschleim sowie die Beweglichkeit der Eileiter und bewirken eine Veränderung des Endometriums, was dazu führt, dass die Befruchtung der Eizelle und die Einnistung gestört werden. Es gibt eine grosse Zahl unterschiedlicher Gestagene, die verschie-
Merksätze
❖ Die Pille erhöht das individuelle Krebsrisiko nicht.
❖ Fertilität und nachfolgende Schwangerschaften werden durch die Pille nicht beeinträchtigt.
❖ Das Thromboserisiko ist insbesondere bei Raucherinnen erhöht.
❖ Wenn mehr als eine Pilleneinnahme vergessen wurde, kommt es bezüglich des Risikos einer unerwünschten Schwangerschaft auf den Zeitpunkt im Zyklus an.
dene antiandrogene und antimineralokortikoide Partialwirkungen haben. Was sind nun die häufigsten Bedenken beziehungsweise Ängste rund um die Pille, die auch dem Hausarzt gegenüber geäussert werden?
«Das kann doch nicht gut sein, jahrelang diese Hormone und die Chemie» Die lang dauernde Einnahme der Pille ist entgegen häufig geäusserten Vermutungen mit grosser Sicherheit nicht schädlich. Im Gegenteil: In Kohortenstudien leben Pillenanwenderinnen signifikant länger im Vergleich zu einem Kontrollkollektiv, die Gesamtmortalität ist sogar signifikant niedriger (1).
«Pille macht Krebs» Die lang dauernde Einnahme der Pille erhöht das individuelle Krebsrisiko nicht. Auch das Risiko der Entstehung eines Mammakarzinoms wird durch die Einnahme einer Pille nicht erhöht, auch nicht bei familiärer Belastung (2). Das Risiko der Entstehung eines Ovarialkarzinoms wird sogar signifikant reduziert (3). Auch das Risiko eines Endometriumkarzinoms wird um bis zu 50 Prozent reduziert (4). Diese Protektion hält bis zu 20 Jahre nach Beendigung der Einnahme an. Pillenanwenderinnen sterben insgesamt deutlich seltener an Krebs. Lediglich HPV-positive Pillenanwenderinnen haben nach 5 Jahren ein dreifach erhöhtes Risiko für ein Zervixkarzinom (5). Dies ist jedoch wahrscheinlich durch einen Bias begründet, da Pillenanwenderinnen grundsätzlich verständlicherweise als sexuell aktiv angesehen werden müssen und bekanntermassen sexuelle Aktivität mit einem erhöhten Zervixkarzinomrisiko verbunden ist. In den vorliegenden Studien stieg damit in Abhängigkeit von der Einnahmedauer der Pille das Zervixkarzinomrisiko an. Es sollte deshalb allen Mädchen vor Erstverordnung der Pille eine HPV-Impfung empfohlen werden.
«Pille macht Thrombosen, Herzinfarkte und Schlaganfälle» Pillenanwenderinnen sterben insgesamt seltener an HerzKreislauf-Erkrankungen (6). Allerdings ist das Thromboserisiko besonders bei Raucherinnen drastisch erhöht. Dies gilt insbesondere in der Altersgruppe über 35 Jahre, wo die Mortalität aufgrund von Thrombosen und Embolien pro 100 000 Frauenjahre von 11 bei Nichtraucherinnen auf 206 bei Raucherinnen mit Pille ansteigt (6). Es sollte daher grundsätzlich Raucherinnen über 35 Jahre die Pille möglichst nicht verordnet werden.
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Fall 1: 17-jähriges Mädchen, erster Freund
Tabelle:
1. Anschauen: Normal entwickelt? Phänotypi-
Kontraindikationen gegen hormonale Kontrazeptiva
sche Besonderheiten? 2. Anamneseerhebung: Zyklus regelmässig?
Absolute Kontraindikationen
Relative Kontraindikationen
Hautprobleme? Fettige Haare? Irgendwelche
❖ vorausgegangene thromboembolische Erkrankungen
❖ bekannte Störungen im Blutgerinnungs- oder Fibrinolysesystem (z.B. Protein-C-Mangel)
❖ Lupus erythematodes ❖ andere Thromboserisikofaktoren
❖ längerfristige Immobilisation ❖ starke Varikosis ❖ Z.n. oberflächlicher Beinvenenthrombose ❖ akute Thrombophlebitis ❖ Epilepsie
Beschwerden? Besondere Krankheiten? Familienanamnese? 3. Untersuchung: Im Rahmen der Pillenerstverordnung sind die folgenden Untersuchungen erforderlich: allgemeine Untersuchung mit Blutdruckmessung, gynäkologische Untersuchung einschliesslich Tastuntersuchung der
❖ ischämische Herzerkrankung ❖ Angina pectoris ❖ Herzklappenerkrankungen ❖ zerebrovaskulärer Insult ❖ Hypertonie > 160/95 mmHg
❖ starker Nikotinabusus, vor allem bei Frauen über 35 Jahre
❖ Grenzwerthypertonie (> 140/90 mmHg)
❖ leichtes Zigarettenrauchen ❖ Alter über 40 Jahre
Brust. Diese Untersuchungen sollten jährlich wiederholt werden. Ohne entsprechende Anamnese ist eine gezielte Gerinnungsdiagnostik nicht erforderlich. 4. Aufklärung: Es gibt eine grosse Zahl absoluter und relativer Kontraindikationen gegen hormonelle Kontrazeptiva (vgl. Tabelle), die durch die oben dargelegte Anamneseerhebung
❖ Dyslipoproteinämien mit Angiopathien
❖ mässiggradige Hypertriglyzeridämie
ausgeschlossen werden müssen.
❖ schwere Hypertriglyzeridämie
Fall 2: 19-jähriges Mädchen, normal entwickelt,
❖ schwer einstellbarer Diabetes mellitus
❖ insulinpflichtiger Diabetes mellitus
keine Zyklusprobleme, Haut und Haare,
❖ Diabetes mellitus mit Angiopathien
Familienanamnese unauffällig
❖ akute und chronische Lebererkrankungen
❖ Cholangiopathie
(z.B. Hepatitis, Porphyrie, fokal noduläre Hyperplasie) ❖ chronische Nierenerkrankung
❖ cholestatische Erkrankungen
❖ chronische entzündliche Darmerkrankungen
❖ Dubin-Johnson- und Rotor-Syndrom
(M. Crohn, Colitis ulcerosa)
Auswahl der Pille: Es sollte ein Pillenpräparat mit mindestens 20 bis 30 µg Ethinylestradiol ausgewählt werden. Bei niedrigerer Östrogendosierung besteht ein erhöhtes Osteoporoserisiko in der Menopause. Es sollte hier ein
❖ Adipositas permagna
❖ Adipositas
Phasenpräparat ausgewählt werden. Bislang
❖ Erstmanifestation oder Exazerbation einer Migräne ❖ unkomplizierte Migräne
gehörten in dieser Situation drospirenonhaltige Antikonzeptiva zu den beliebtesten Antibabypil-
❖ Tumoren (Mammakarzinom, Lebertumoren)
❖ wachsende Myome
len. Drospirenonhaltige Pillen sind insbesondere
❖ Präkanzerosen der Zervix uteri
im angloamerikanischen Raum in Diskussion
❖ hämolytisch urämisches Syndrom ❖ Schwangerschaft
❖ Multiple Sklerose ❖ Chorea Huntington
geraten und haben auch bereits zu entsprechenden Schadenersatzforderungen geführt, da in einigen Registerauswertungen festgestellt wurde,
dass sie das Thromboserisiko stärker erhöhen
würden als Antikonzeptiva mit Gestagenen wie
«Du wirst sehen, wenn du dann mal Kinder haben willst,
Desogestrel oder Gestoden. Eine endgültige Antwort auf diese
dann klappt es nicht»
Frage steht noch aus. Es liegt eine aktuelle Stellungnahme der
Auch eine langfristige Einnahme der Pille reduziert die Fer- Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (8)
tilität nach Absetzen nicht und hat keinen Einfluss auf vor. Danach kann wohl nicht mit letzter Sicherheit aus-
nachfolgende Schwangerschaften (7). Auch die Abort- bezie- geschlossen werden, dass drospirenonhaltige Antikonzeptiva
hungsweise Fehlbildungsrate wird durch eine vorherige möglicherweise ein höheres Thromboserisiko als andere
Pilleneinnahme nicht erhöht.
Pillenpräparate haben. Auch die Schweizer Gesellschaft für
Gynäkologie und Geburtshilfe hat zur Bedeutung des Throm-
«Die Pille sollte man nur nehmen, wenn man sie zur
boseriskos Stellung genommen (9).
Empfängnisverhütung unbedingt braucht»
Sowohl in Fall 1 als auch in Fall 2 sollte eine Pille mindes-
Die Pille ist die derzeit beste Therapie zur Behandlung bei Ova- tens 20, besser 30 Mikrogramm Ethinylestradiol enthalten.
rialzysten, Dys- und Hypermenorrhö sowie bei Endometriose. Bei klinisch völlig unauffälliger Situation stehen bei der
Auswahl der Gestagenkomponenten die verschiedenen
Auswahl der richtigen Pille
Gestagene in gleicher Weise zur Verfügung.
Neben dem täglichen Kampf mit Vorurteilen ist ein weiteres
Problem in der täglichen Praxis die Auswahl der richtigen Fall 3: Das gleiche 19-jährige Mädchen kommt wieder, hat
Pille. Die typische Vorgehensweise bei der Auswahl der die Pille zwar gut vertragen, aber regelmässige Zwischen-
geeigneten Pille, worauf man achten muss und welche Un- blutungen
tersuchungen erforderlich sind, wird im Folgenden anhand Lösung: Bei Pillenneuverordnung sollte man wenn möglich
der häufigsten Konstellationen dargestellt.
3 Monate abwarten, bevor das Pillenpräparat gewechselt
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wird. Falls danach immer noch Zwischenblutungen bestehen, sollte die Östrogendosis von 20 auf 30 µg erhöht oder ein Drei-Phasen-Präparat gewählt werden.
Fall 4: 23-jährige Frau mit offensichtlichen kosmetischen Problemen Adipositas, unreine Haut, Hirsutismus. Bei der Anamneseerhebung klagt die Patientin über einen unregelmässigen Zyklus, fettige Haare, Hautunreinheiten. Die Familienanamnese ist unauffällig, auch bei der Untersuchung kein auffälliger Befund. Lösung: Es sollte hier eine sogenannte Hautpille, das heisst eine Pille mit einem antiandrogenen Gestagen gewählt werden. Hier hat sich das folgende Stufenkonzept bewährt: 1. Stufe: drospirenonhaltiges Antikonzeptivum (z.B. Angeliq®,
Dretine, Dretinelle, Eloine®, Yasmin®, Yasminelle®, Yaz®, Yira®) 2. Stufe: dienogesthaltige Pille (z.B. Qlaira®) 3. Stufe: chlormadinonacetathaltige Pille (z.B. Belara®, Belarina®, Ladonna®, Madinette®, Tyarena®) 4. Stufe: cyproteronacetathaltige Pille (z.B. Cypestra-35®, Cyprelle® 35, Diane®-35, Elleacnelle®, Feminac 35®, Holgyeme®, Minerva®)
Fall 5: «Ich will nicht immer Tabletten schlucken» Lösung: In diesem Fall bietet sich eine alternative Darreichungsform der Pille in Form eines Pflasters (z.B. Evra®) oder als hormonhaltiger Scheidenring (z.B. NuvaRing®) an.
schnell wie möglich nachgeholt werden, dann normal mit
der Pillenpackung weitermachen. Problematisch wird es,
wenn mehr als eine Pille vergessen wurde. Wurde die Pille in
Woche 1 vergessen, stellt dies ein hohes Risiko dar. Hier
sollte für die nächsten 7 Tage nach dem Fehler zusätzlich
mit einem anderen Verfahren verhütet werden. Erfolgte der
Geschlechtsverkehr vor dem Vergessen der Pille, kann dies
zu einer Schwangerschaft führen, und es muss dann über
die Pille danach diskutiert werden.
Wurde die Pille in Woche 2 des Zyklus vergessen und er-
folgte vorher mindestens eine 7-tägige Hormonanwendung,
besteht kein zwingender Grund, zusätzlich zu verhüten.
Durch eine mindestens 7-tägige Pillenanwendung ist das
Follikelwachstum im Regelfall so supprimiert, dass keine
Ovulation stattfinden kann.
Wurde die Pille in Woche 3 des Zyklus vergessen, sollte die
sonst übliche 7-tägige Einnahmepause der Pille entweder
vorgezogen werden (Tag des Vergessens = erster Tag der
Pause), oder man lässt die Einnahmepause weg und fährt
im Langzyklus weiter, und in diesem Fall muss zu keiner
Zeit zusätzlich verhütet werden.
❖
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Peter Mallmann Direktor der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Universitätsklinik Köln, Kerpener Strasse 34, D-50931 Köln E-Mail: peter.mallmann@uk-koeln.de
Fall 6: Aktueller Verkehr, an Empfängnisverhütung nicht gedacht oder Kondom geplatzt Lösung: Pille danach, mit der noch bis zu 120 Stunden nach ungeschütztem Verkehr eine Schwangerschaft verhindert werden kann (z.B. ellaOne®).
Fall 7: Junge Frau in betreutem Wohnen, unzuverlässig in der Pilleneinnahme Lösung: Bei nicht gesicherter Einnahmezuverlässigkeit sollten andere Verfahren wie zum Beispiel die Dreimonatsspritze (z.B. Depo-Provera® 150), ein Hormonimplantat in Form von Implanon® oder eine hormonhaltige Spirale (z.B.Mirena®) gewählt werden.
Häufig gestellte Fragen Die häufigsten im Zusammenhang mit der Pille gestellten Fragen sind: ❖ Vor Operation Pille absetzen?
Ja, die Pille sollte 4 bis 6 Wochen vorher abgesetzt werden. ❖ Was ist besser, jeden Monat eine Pillenpause mit Mens-
truation oder Einnahme der Pille ohne Pause in Form des Langzyklus über 6 bis 12 Monate? Bei zyklusabhängigen Erkrankungen wie zum Beispiel Dysmenorrhö oder Endometriose ist die Effektivität der Pilleneinnahme im Langzyklus deutlich höher. Weiterhin ist bei Einnahme der Pille im Langzyklus die kontrazeptive Sicherheit erhöht. Der Nachteil besteht darin, dass es sich derzeit noch um eine Off-label-Anwendung handelt. ❖ Habe die Pille vergessen, was tun? Ein einmaliges Vergessen der Pille reduziert die kontrazeptive Sicherheit nicht, sie sollte innerhalb von 24 Stunden so
Interessenkonflikte: keine deklariert
Literatur: 1. Hannaford PC, Iversen L, Macfarlane TV, Elliott AM, Angus V, Lee AJ: Mortality among
contraceptive pill users: cohort evidence from Royal College of General Practitioners’ Oral Contraception Study. BMJ 2010; 340: c927; 1–9. 2. Kaaks R, Rinaldi S, Key TJ et al.: Postmenopausal Serum androgens, oestrogens and breast cancer risk: the European prospective investigation into cancer and nutrition. Endocr Relat Cancer 2005; 12:1071–1082. 3. Beral et al., Lancet 371: 303–314. 4. Cibula et al.: Effect of OC use on risk of endometrial cancer. Human Reprod Update 2010; 1–20. 5. Moreno V et al.: Effect of oral contraceptives on risk of cervical cancer in women with human papillomavirus infection: the IARC multicentric case-control study. Lancet 2002; 359:1085–1092. 6. Rabe et al.: Thrombophilie in der Gynäkologie und Geburtshilfe Teil 1. J Reproduktionsmed Endokrinol 2009; 6: 156–164. 7. The ESHRE Capri Workshop Group. Noncontraceptive health benefits of combined Oral contraception. Hum Reprod Update 2005; 513–525. 8. http://www.dggg.de/fileadmin/public_docs/Newsletter/2012-02-DGGG-BVF-Throm boserisiko.pdf 9. http://sggg.ch/files/Venoese_thromboembolische_Erkrankungen.pdf
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 15/2012. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. Die Anpassungen an die Verhältnisse in der Schweiz wurden von der Redaktion ARS MEDICI vorgenommen; als wesentliche Änderung zum Originalartikel werden nur die in der Schweiz verfügbaren Produkte gemäss Arzneimittelkompendium aufgeführt.
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