Transkript
FORTBILDUNG
Neue Impfstrategien in speziellen Situationen
Wann soll man, wann soll man nicht?
Nutzen und Wert der Schutzimpfung stehen ausser Frage. Es gibt jedoch Situationen, bei denen viele Kollegen Zweifel haben und befürchten, mit einer Impfung mehr zu schaden als zu schützen. Man denke etwa an Krebspatienten, Menschen mit Autoimmunerkrankungen, HIV oder Allergien. Doch sind diese Bedenken wirklich berechtigt? Der folgende Beitrag soll aufzeigen, was heute noch gilt und auf welchen Gebieten aufgrund des Fortschritts der Medizin ein Umdenken erforderlich ist.
HANNS-WOLF BAENKLER
Die üblichen, der Schutzimpfung innewohnenden Gefahren konnten aufgrund zunehmender Kenntnisse in der Herstellung und Anwendung der Impfstoffe bis zum heutigen Tag erheblich reduziert werden. Dadurch eröffnete sich die Möglichkeit zu impfen, wo bis anhin Zurückhaltung geboten war. Auch gelang es immer mehr in ehedem medizinisch oder ärztlich kaum beherrschbaren Situationen eine deutliche Besserung zu erreichen und zu erhalten, in Einzelfällen sogar Heilung. Beide Entwicklungen schoben gemeinsam die Grenzen der Schutzimpfung immer weiter hinaus, sodass im Hinblick auf eine bessere Prognose nicht wenige Personen, denen früher vom Impfen abgeraten worden wäre, nunmehr dazu aufgefordert werden.
Impfen bei Krebspatienten In der Onkologie war die Impfung lange Zeit wegen der überwiegend schlechten Prognose mit kurzer Lebenserwartung
Merksätze
❖ Wenn möglich, sollen ausstehende Impfungen vor Beginn einer immunkompromittierenden Therapie (z. B. Zytostatika) erfolgen.
❖ Während aktiver Phasen einer Autoimmunkrankheit sollten wegen der intensivierten Immunsuppression keine Impfungen erfolgen.
❖ Allergien sind nur bedingt eine Kontraindikation für Impfungen.
weniger bedeutsam. Durch die Erfolge der Therapie leben die Betroffenen nicht nur länger, sondern auch in einem deutlich besseren Allgemeinzustand. Das schlägt sich in einer Lebensführung mit Tätigkeiten und Reisen nieder, bei welchen Impfungen angezeigt sind. Die Problematik liegt in der Besonderheit der Therapie. Zytoreduktive und aktivitätshemmende Massnahmen hemmen auch Abwehr und Immunreaktion. Das bedeutet auf der einen Seite erhöhte Infektanfälligkeit mit der Notwendigkeit eines abdeckenden Impfschutzes. Auf der anderen Seite wird die Induktion einer spezifischen Immunantwort herabgesetzt. Cyclophosphamid schädigt zum Beispiel den Thymus. Besonders betroffen sind T-Zellen, also die zellvermittelte spezifische Immunabwehr. Potenziell kurative Polychemotherapie hat dabei stärkere Effekte als palliative Monotherapie. Massive T-Zell-Defekte bringt auch die Behandlung mit Purinanaloga mit sich. Kortikoide nehmen eine Sonderstellung ein. Bei topischer Anwendung, lokaler Applikation und systemischem Prednison/Prednisolon < 2 mg/kg KG sind sämtliche Impfungen gestattet. Systemische Applikation von Prednison/Prednisolon in einer Dosis von > 2 mg/kg KG über mehr als zwei Wochen erfordert vier Wochen Abstand zu Lebendimpfungen. Depotpräparate dürfen nicht verabreicht werden. Eine Beeinträchtigung der Abwehr ist bei malignen hämatologischen Prozessen stärker ausgeprägt als bei soliden Organtumoren. Ein T-Zell-Defekt findet sich bei Morbus Hodgkin. B-Zell-Defekte sind bei chronisch lymphatischer Leukämie (CLL) und multiplem Myelom zu erwarten.
Immunsystem rechtzeitig ankurbeln! Die Behandlung insbesondere hämatologisch-onkologischer Erkrankungen ist für die Abwehr sehr belastend. Die einschneidenden Massnahmen vermögen sogar das vorher etablierte Impfgedächtnis zu löschen. Es ist daher wichtig, unter Berücksichtigung der Therapie durch Impfung die Abwehr erneut aufzubauen. Falls möglich sollte man noch vor Beginn einer zytostatischen Therapie ausstehende Impfungen vervollständigen. Bei einem Karzinomverdacht erfordern anstehende Kontrolluntersuchungen beim Fachkollegen mindestens eine Woche. Diese Zeitspanne kann der Hausarzt nutzen, um eine Impfung vorzunehmen. Dabei schadet es nicht, eine im mehrjährigen Rhythmus vorzunehmende Impfung um ein bis zwei Jahre vorzuziehen. Da heute eine beträchtliche Auswahl an Kombinationsimpfstoffen verfügbar ist, lassen sich mehrere
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Impfungen zusammenlegen. Ein Telefonat mit den zuständigen Zentren schafft bei Zweifeln Klarheit. Wiederholungsimpfungen bringen die Maschinerie des spezifischen Immunsystems binnen einer Woche von Leerlauf auf stramme Leistung. Das schützt für die bevorstehende Zeit immunkompromittierender Massnahmen, die ansonsten über Monate eine Impfung verhindern oder ineffizient machen. Eine anstehende Grundimmunisierung ist diesbezüglich anders zu handhaben. Ihr Nutzen in einem solchen Fall hängt von der Spezifität und dem verbleibenden Intervall bis zum Therapieeinsatz ab. Zusätzlich ist die bereits eingetretene mögliche Behinderung des Immunsystems von Bedeutung. Das gilt insbesondere für den Fall der Lebendimpfung.
Was tun bei fortgeschrittenem Krebs? Falls die Betroffenen bereits Folgen der malignen Erkrankung aufweisen, wie Mangelernährung oder Fieber, oder falls reaktive Organschäden von Leber, Niere oder Endokrinium vorliegen, wird es schwierig, allgemeine Regeln aufzustellen. Hier muss der die spätere Betreuung übernehmende Fachkollege in einer Gesamtschau entscheiden. Dazu zählt etwa die Überlegung, dass bei malignen Prozessen der Lunge auf Immunprophylaxe gegenüber Influenza oder Pneumokokken geachtet werden muss.
Autoimmunkrankheiten Die Immunreaktion gegen körpereigene Strukturen als Ursache für die Autoimmunopathie wirft zunächst in Bezug auf Impfungen kein Problem auf. Es gibt jedoch einige Ausnahmen. So stellt die Zerstörung der Phagozyten etwa in Form einer Agranulozytose ein unmittelbares Defizit dar. Bei Autoimmunopathien, insbesondere von Leber und Niere, erfolgt durch Funktionseinbusse der Organe quasi eine innere Vergiftung, die auch sämtliche Elemente der Abwehr betrifft. Ansonsten wird die Abwehr bei Autoimmunopathien durch die Therapie behindert. Das liegt an der generalisierten Wirkung der medikamentösen Immunsuppression, die sich nicht nur auf die pathogenen Klone beschränkt, sondern auch die protektiven Klone mit einbezieht. Das äussert sich in einer allgemeinen Infektanfälligkeit. Die übliche Immunsuppression ist weitgehend unabhängig von den eingesetzten Substanzen von zunächst unbegrenzter Dauer. Daraus folgt eine anhaltende Reduzierung der Immunabwehr. Bei den meisten Autoimmunkrankheiten wird die Immunsuppression nicht schon bei den ersten Symptomen begonnen. Daher gilt auch hier, sofort anstehende oder gar fehlende Impfungen vorzunehmen.
Keine Lebendimpfungen bei Autoimmunerkrankungen! Bei aktiven Schutzimpfungen sind aus Vorsichtsgründen Lebendimpfungen ausgeschlossen. Ist eine Lebendimpfung unverzichtbar, etwa bei Einreise in infektträchtige Gebiete, so muss die medikamentöse Immunsuppression für wenigstens drei Monate unterbrochen sein. In jedem Fall sollte eine Titerkontrolle zur Sicherung und Bestandsaufnahme der Effizienz erfolgen. Impfungen sollten während aktiver Phasen der Autoimmunkrankheit unterlassen werden. Denn hierbei wird die Immunsuppression durch Dosiserhöhung oder Addition eines weiteren Medikaments verstärkt. Nachdem sich der Krank-
heitsprozess beruhigt hat, soll noch so lange mit der Impfung gewartet werden, bis das System stabilisiert ist. Das kann etwa bei Applikation verzögert oder verlängert wirkender Substanzen wie Biologicals oder einer Stosstherapie mit Cyclophosphamid mehrere Wochen dauern.
MS und Myasthenia gravis Umstritten und unterschiedlich bewertet wird die Impfung bei Multipler Sklerose und Myasthenia gravis. Das beruht weniger auf immunbiologisch physiologischen Überlegungen als auf der Tatsache, dass ein nach Impfung auftretender Schub in beliebigem Abstand meist mit der aktiven Impfung in Zusammenhang gebracht wird. Es wird aber auch gegenteilig argumentiert, indem auf die nicht nur potenzielle, sondern reelle Gefahr einer Exazerbation durch die natürliche Erkrankung hingewiesen wird, die ohne Impfschutz besonders stark ausfällt. Eine Impfung kann also nur bei stabiler und kontrollierter Situation vorgenommen werden.
Immunmangel und Immundefekt Der zugrunde liegende Status ist eine primäre Störung der Abwehr selbst. Im Gegensatz zur Situation in der Hämatologie und Onkologie wie auch zu Autoimmunkrankheiten fehlen bei primären Immundefekten Massnahmen zur Hemmung der Zellteilung. Das erleichtert das Vorgehen, weil eine Abstimmung mit der Therapie nicht erforderlich ist. Ausgenommen sind Fälle, bei denen Abwehr und Immunsystem therapeutisch oder prophylaktisch massiv unterstützt werden: Patienten mit weniger stark ausgeprägten Defektsyndromen schützt man nicht selten vor allem während oder kurz vor belastenden Situationen passiv durch humane Antikörper. Hier gilt es, die Impfung mit der Applikation abzustimmen, da Lebendimpfungen in Gegenwart spezifischer Antikörper weniger effizient sind.
Art des Immundefekts entscheidet Die Schwere der Funktionsstörung nimmt in der Reihenfolge T-Zell-Defekt, B-Zell-Defekt, Phagozytendefekt, Komplementdefekt ab. Bei T-Zell-Defekten können Lebendimpfungen abhängig von Analysen der Lymphozytenzahl und -funktion verabreicht werden, bei B-Zell-Defekten scheinen Lebendimpfstoffe grundsätzlich gut vertragen zu werden. Das gilt nicht für die Tuberkuloselebendimpfung. Totimpfstoffe dürfen generell bei Immundefekten verabreicht werden. Im Einzelfall kommt es auf den Schweregrad der Erkrankung und das Gefährdungspotenzial möglicher Infektionskrankheiten an. Neben der Anfälligkeit nicht nur bezüglich banaler Infekte, sondern vor allem auch bezüglich Pilzbefall helfen Analysen der Abwehr weiter. Dazu dient die Differenzierung der Lymphozyten im peripheren Blut als Routineanalyse ebenso wie die spezialisierten Einrichtungen vorbehaltene Messung der Lymphozyten- und Phagozytenaktivität.
Knochenmarkspender vorher impfen! Ausgeprägte Defektsyndrome mit Aneinanderreihung schwerer Infektionsprozesse können durch Knochenmarktransplantation und Stammzelltransplantation gebessert werden. Hier ist es wichtig, vor dieser Massnahme den Spender komplett zu impfen. So wird die Impfimmunität in einem gewissen Grade weitergegeben.
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KOMMENTAR
Prof. Dr. med. Ulrich Heininger, Leitender Arzt Infektiologie und Vakzinologie am Universitätskinderspital beider Basel und Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF)
Impfungen in speziellen Situationen sind tatsächlich ein Dauerbrenner – ob bei Patienten mit Autoimmunkrankheiten, unter Immunsuppression oder mit Allergien: Häufig bestehen Unklarheiten, wer wann womit geimpft werden darf und soll. Kollege Baenkler weist zu Recht darauf hin, dass in solchen Situationen «nicht wenigen Personen … früher vom Impfen abgeraten wurde», und zwar in erster Linie von Spezialisten an Spitälern, denen nicht wohl war beim Gedanken, ihre vulnerablen Patienten einem Impf(!)risiko auszusetzen. Heute wissen wir es besser. Lebendimpfungen können bereits vier Wochen nach Absetzen einer immunsuppressiven Steroidtherapie wieder verabreicht werden; bei den inaktivierten («Tot-»)Impfstoffen muss man überhaupt keinen Abstand einhalten, sie dürfen und sollen sogar auch unter Immunsuppression verabreicht werden. Baenklers Empfehlung, nach Impfungen bei Immunsupprimierten «in jedem Fall … eine Titerkontrolle» durchzuführen, möchte ich relativieren. Das ergibt nur einen Sinn, wenn ein zuverlässiges serologisches Korrelat für Schutz bekannt ist, was bei Weitem nicht für jede impfpräventable Infektionskrankheit gilt (siehe Tabelle 1 im BAG-Bulletin 12/2012). Der allgemeine Rat, tunlichst vor einer sich anbahnenden Immunsuppression oder auch einer Splenektomie alle altersentsprechend erforderlichen Impfungen zu aktualisieren und auch neue Indikationen (z.B. Impfschutz gegen Varizellen) zu beachten, kann nicht oft genug wiederholt werden. Das Gleiche gilt für alle engen Kontaktpersonen von besonders schutzbedürftigen Patienten: Sie qualifizieren unter anderem für die Influenzaimpfung! Was auch immer an unerwünschten Ereignissen nach einer Impfung passiert: Nicht immer handelt es sich um eine Nebenwirkung, sondern oftmals um koinzidierende zufällige Ereignisse. Das muss gerade bei Impfungen in speziellen Situationen schon im Aufklärungsgespräch thematisiert werden. Am Ende wird dann der mündige Patient selbst einen qualifizierten Entscheid treffen müssen und können, was ihm lieber ist: die Impfung(en) oder das Erkrankungsrisiko.
HIV: Totimpfstoffe erlaubt Bei HIV-Infizierten besteht unter adäquater Therapie bei stabilem Status eine ausreichende Immunantwort. Totimpfstoffe können ohne Risiko und mit Erfolg appliziert werden. Bei dringlicher Indikation gilt das in Einzelfällen auch nach Ermessen des betreuenden Zentrums für Lebendimpfstoffe. Im fortgeschrittenen Stadium (AIDS) darf nicht geimpft werden.
Derzeit wird vor allem auf Proteine vom Huhn hingewiesen, die noch in einigen wenigen Vakzinen enthalten sind. In Einzelfällen kann bereits auf hühnereiweissfreie Impfstoffe ausgewichen werden. Das gilt in gewisser Weise auch für Antibiotika. Bedenken bleiben gegenüber Adjuvanzien. Hier liegen weltweit hinreichende Erfahrungen bezüglich der Verträglichkeit vor. Langjährige Beobachtungen haben grosse Sicherheit gebracht. Inwieweit noch nach Jahrzehnten unerwünschte Wirkungen auftreten können, ist nicht bekannt, wenngleich nahezu ausgeschlossen.
Asthmatiker rechtzeitig impfen! Es sei darauf hingewiesen, dass bei besonderen Allergien eine Impfung sogar wichtig ist. Das ist der Fall bei Asthma bezüglich Infektionen des Respirationstrakts. Hier kann jede Irritation – gerade durch Infekte – Auslöser obstruktiver Perioden sein. Daher muss rechtzeitig gegen Grippe und Pneumokokken geimpft werden. Bei Neurodermitis und schwerem Ekzembefall ist die Impfung gegen Varizellen sehr wichtig, da die lädierte Haut infektgefährdet ist und sich Infektionen durch Kratzen rasch ausbreiten.
Allgemeine Hinweise
Unabhängig von den Impfempfehlungen gilt es, Ansteckungs-
quellen zu meiden. Daher sind sämtliche Familienmitglieder
ebenfalls zu impfen. Im erweiterten Sinne sollten auch alle
Kinder eines Horts, Mitglieder eines Heims und bei sportli-
cher Betätigung Trainer, Physiotherapeuten und so weiter
komplett geimpft sein. Wichtig ist es darüber hinaus, Ge-
sunde vom Nutzen der Impfung zu überzeugen. Über Nacht
können Krankheiten auftreten, bei denen ein Impfschutz sehr
wichtig, mitunter sogar lebensrettend ist.
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Prof. Dr. med. Hanns-Wolf Baenkler Medizinische Klinik III Universität Erlangen-Nürnberg D-91054 Nürnberg E-Mail: hanns-wolf.baenkler@uk-erlangen.de
Interessenkonflikte: Der Autor ist für das Institut für hausärztliche Forschung (LUF) und für Berufbildungswerke (Weiterbildung Medizinischer Fachangestellter zu Impfassistentinnen) tätig, teilweise mit Unterstützung von Sanofi Pasteur MSD.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 17/2012. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. Der Text wurde vom Autor für ARS MEDICI aktualisiert.
Impfungen bei Allergie Allergien waren früher eine der wichtigen Kontraindikationen bei Impfungen. Die damals vergleichsweise häufigen, teilweise heftigen bis lebensbedrohlichen Komplikationen waren den Additiven und Verunreinigungen der Impfstoffe anzulasten. Heutige Herstellungsverfahren kommen mit deutlich weniger derartigen Substanzen aus, und zwar sowohl bezüglich der Stoffe als auch deren Menge. Daher sind allergische Reaktionen sehr viel seltener geworden.
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