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Typ-2-Diabetes: Frühe Insulintherapie – Vorteil oder Gefahr?
BERICHT
48. Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes Berlin, 1. bis 5. Oktober 2012
Im Rahmen eines Vortrags anlässlich der 48. Jahrestagung der European Association for the Study of Diabetes nahmen zwei Diabetesexperten beim Thema «Frühe Insulintherapie» die klassischen Pround Contra-Positionen wahr: Während der Amerikaner Jack Leahy die Effektivität und Sicherheit einer frühen Insulintherapie hervorhob, warnte der Wiener Guntram Schernthaner vor Gewichtszunahme und Hypoglykämien beziehungsweise deren Folgeerscheinungen.
LYDIA UNGER-HUNT
Für den frühen Einsatz von Insulin spricht vor allem die Effektivität dieser Behandlungsform, davon ist Dr. Jack Leahy, University of Vermont College of Medicine, überzeugt. Der Diabetologe verweist in diesem Zusammenhang auf eine Studie von Guigliano et al. (1). Hierin wurden 29 Trials analysiert, welche die Effektivität von verschiedenen Insulinregimen (basal, biphasisch, prandial und Basalbolus) untersuchten, um einen HbA1c-Zielwert von < 7 Prozent bei Typ-2-Diabetes-Patienten zu erreichen. Im Durchschnitt erreichten 41,4 Prozent der Patienten diesen Zielwert. «Die so gefürchtete Gewichtszunahme lag durchschnittlich bei lediglich 1,75 kg», kommentiert Leahy. In einer eigenen Studie konnte Leahy zeigen, dass bei einem Therapie-
beginn mit einem HbA1c < 8 Prozent eine geringere Gewichtszunahme zu erwarten ist als bei einem HbA1c über 9 Prozent bereits zu Beginn der Insulintherapie. Der Unterschied machte bis zu 2 Kilogramm aus (2).
Entscheidend: früher Einsatz und Wirkstoffkombination «Entscheidend für den Erfolg einer Insulintherapie ist der frühe Einsatz», betont der US-Experte. So erbrachte eine Untersuchung (3) an 2193 Patienten, die zusätzlich zu oralen Wirkstoffen Glargin erhielten, dass 75 Prozent den Zielwert eines HbA1c von < 7 Prozent erreichten – und je früher Glargin eingesetzt wurde, desto effektiver war die Therapie. In einer viel diskutierten Studie von Weng et al. (4) wiederum wurde die frühe, intensive Insulintherapie bei knapp 400 Patienten mit neu diagnostiziertem Typ-2-Diabetes und einem HbA1c-Wert von ungefähr 9 Prozent untersucht. Sie erhielten zur Normalisierung der Blutglukosewerte 2 Wochen lang entweder Insulin oder orale Antidiabetika; danach wurde die Behandlung beendet, und die Patienten wurden nach einem Jahr wieder evaluiert. Ergebnis: «26,7 Prozent der Patienten mit oralen Wirkstoffen befanden sich nach wie vor in Remission – unter Insulin war diese Zahl mit 51,1 Prozent fast doppelt so hoch! Insulin ist eindeutig überlegen im Erreichen einer Remission.» Besonders interessant sei in diesem Zusammenhang auch die Frage, mit welcher anderen Therapie Insulin kombiniert werden sollte. Eine Studie von Fonseca (5) ergab, dass eine signifikant bessere Senkung des HbA1c erreicht werden kann, wenn Insulin zusätzlich zu Metformin gegeben wird, versus zusätzlich zu Sulfonylharnstoff oder zu Sulfonylharnstoff plus Metformin.
Auch das Risiko einer Hypoglykämie ist bei dieser Kombination statistisch signifikant geringer, ebenso das Risiko einer Gewichtszunahme (allerdings nicht statistisch signifikant). «Die frühe Kombination von Insulin nur mit Metformin ist extrem effektiv und minimiert viele der mit Insulin assoziierten Risiken», kommentiert Leahy.
Insulin: «Wenn, dann früh» Frühzeitig im Krankheitsverlauf eingesetzt, sei die Behandlung mit Basalinsulin äusserst sinnvoll. Sein Fazit: «Wir müssen wegkommen von diesem ewigen Warten und Warten und Warten, bis das HbA1c unkontrollierbar ist – zu diesem Zeitpunkt zusätzlich Insulin zu geben, hat wirklich keinen Sinn! Wenn, dann früh.» Insulin sei eine sichere Therapie, das Risiko für Hypoglykämien sei allenfalls gering; wahrscheinlich sei zudem eine gewisse Protektion der B-Zellen gegeben, hier seien allerdings noch mehr Studien erforderlich. Das abschliessende Plädoyer des Experten: «Unsere Aufgabe als Diabetesexperten ist es, die Allgemeinmediziner von der Effektivität, Stärke und Sicherheit des Insulins in der frühen Therapie zu überzeugen. Insulin ist nicht der einzige Ansatz. Das Problem ist jedoch, dass so viele Ärzte das Vermeiden von Insulin um jeden Preis als wichtigstes Ziel sehen. Vielleicht ist Insulin nicht immer der Wirkstoff der ersten Wahl, aber nach Metformin führt es zu einer guten Senkung des HbA1c mit minimaler Gewichtszunahme. Dieser Ansatz sollte Patienten in fairer und ausgewogener Weise angeboten werden.»
Insulintherapie: nicht überlegen Im zweiten Vortrag von Prof. Dr. Guntram Schernthaner, Rudolfstiftung in Wien, folgten allerdings prompt die Gegenargumente zur Insulintherapie.
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«Mehrere Studien zeigen, dass die meisten Patienten schon adipös sind, bevor sie auf eine Insulintherapie gesetzt werden, und dass eine weitere Gewichtszunahme in Zusammenhang mit der Insulindosis steht», leitete Schernthaner seinen Vortrag ein. Stichwort Überlegenheit der Insulintherapie: «Die ORIGIN-Studie (6) stellte die Frage, ob basales Insulin die Rate kardiovaskulärer Ereignisse senken kann. Ergebnis: ein klares Nein, kann es nicht.» Hingegen zeige die Untersuchung ganz klar die guten Erfolge, die mit der «altmodischen Therapie» aus Metformin plus Sulfonylharnstoff bei Diabetikern möglich sei: Im Vergleich betrug der Unterschied im HbA1c nach 7 Jahren lediglich 0,3 Prozent. Auch Lingvay et al. (7) zeigten, dass die 3-fache Oraltherapie (Metformin, Pioglitazon und Glyburid) verglichen mit Insulin eine ebenbürtige glykämische Kontrolle in neu diagnostizierten Patienten mit Typ 2 über 36 Monate erlaube (ähnliche HbA1c-Werte unter beiden Therapien). «Insulin ist also nicht der bessere Wirkstoff», kommentiert der Diabetologe.
Hypoglykämieund kardiovaskuläres Risiko Hingegen sei es in der ORIGIN-Studie bei 42,1 Prozent der Patienten unter Glargin zu einer symptomatischen Hypoglykämie gekommen, versus 14,4 Prozent unter Metformin/Sulfonylharnstoff; eine schwere Hypoglykämie trat
unter Glargin 3-mal häufiger auf, und die Gewichtszunahme war unter dem Insulin mehr als 2 kg höher. «Natürlich verbessern alle Regime mit Insulin die glykämische Kontrolle, die HbA1c-Senkung ist gut, aber sie entsteht auf Kosten einer Gewichtszunahme.» Auch andere Studien würden ebenfalls eine Gewichtszunahme unter Insulin beobachten. Keine Frage sei es hingegen, dass die schwere Hypoglykämie gefährlich sei, betonte der Experte und verwies auf die entsprechende Studienlage: ❖ Schwere Hypoglykämien sind mit er-
höhter Gesamtmortalität und erhöhter kardiovaskulärer Mortalität assoziiert (8) beziehungsweise einem 3-fach erhöhten Risiko für Gesamtund kardiovaskuläre Mortalität (9). Im Vergleich zu Patienten mit keiner oder nur milder Hypoglykämie haben Patienten mit schwerer Hypoglykämie eine 3,4-fach erhöhte Mortalität (10).
Eine Gefährdung durch Insulintherapie sieht Schernthaner auch bei Patienten nach einem kardiovaskulären Ereignis. «Eine Studie vom Karolinska Institut im ‹Diabetologica› 2011 zeigte ein doppelt so hohes Risiko für Re-Infarkt/Schlaganfall unter Insulin, verglichen mit denjenigen Patienten, die kein Insulin erhalten hatten.» Das Fazit des österreichischen Experten bezüglich der Insulintherapie fällt dementsprechend negativ aus:
❖ Die meisten Patienten seien bereits adipös, Insulin erhöhe Gewicht und Körperfett.
❖ Insulin sei mit dem höchsten Risiko für Hypoglykämien assoziiert.
❖ Es gebe keine Beweise dafür, dass frühes Insulin die Progression des Betazellversagens, also den natürlichen Krankheitsverlauf, stoppen könne – zu Beginn könnten nur Bewegung und Gewichtsabnahme hilfreich sein.
❖ Insulin sei oralen Wirkstoffen nicht überlegen bezüglich der Verminderung makrovaskulärer Erkrankungen.
«Unter Insulin gibt es keine bessere
glykämische Kontrolle, keine bessere
Primär- oder Sekundärprävention, aber
ein erhöhtes Risiko für schwere Hypo-
glykämien und Gewichtszunahme», so
Schernthaner abschliessend.
❖
Lydia Unger-Hunt
Literatur: 1. Guigliano D et al.; Diabetes Res Clin Pract 2011; 92 (1):
1–10. 2. Leahy JL et al.; EASD 2011. A670. 3. Riddle MC et al.; Diabetes 2009; 58 (Suppl. 1) A125. 4. Weng J et al.; Lancet 2008; 371 (9626): 1753–1760. 5. Fonseca V et al.; Diabetes Obes Metab 2011; 13 (9):
814– 822. 6. ORIGIN Trial Investigators, Gerstein HC et al.; NEJM
2012; 367 (4): 319–328. 7. Lingvay I et al.; Diabetes Care 2009; 32 (10): 1789–1795. 8. Buse JB et al.; Diabetes Care 2011. 9. Zoungas S et al.; NEJM 2010; 363 (15): 1410–1418. 10. McCoy RG et al.; Diabetes Care 2012; 35 (9): 1897–
1901.
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