Transkript
FORTBILDUNG
Nicht nur Angio- und Neuropathie
Bei Diabetes mellitus auch an andere Begleiterkrankungen denken!
Wenn man an Begleiterkrankungen oder Folgeschäden des Diabetes denkt, hat man in erster Linie die Mikro- und die Makroangiopathie sowie die Neuropathie im Sinn. Hierüber ist zu Recht viel geschrieben worden, zumal Entwicklung und Ausgang dieser Krankheiten und ihrer Folgen entscheidend die Lebensqualität und Lebensdauer der Patienten bestimmen. An dieser Stelle seien einige Störungen oder Krankheiten bei Diabetes aufgezeichnet, die oft zu kurz kommen, nicht erkannt oder unzureichend behandelt werden.
HELLMUT MEHNERT
Geriatrie und Diabetes Die Prävalenz des Diabetes beträgt bei den 75-Jährigen 20 Prozent. Das Problem der alten Diabetiker ist die Multimorbidität, wobei geriatrische Syndrome Einschränkungen mit sich bringen, die zum Verlust von Körperfunktionen und zu Behinderung und Unselbstständigkeit führen können. Dieses Risiko trifft auf Diabetiker häufiger zu als auf Nichtdiabetiker. Natürlich spielen im fortgeschrittenen Lebensalter zunehmend Gefässkrankheiten eine Rolle. Wenn aber
Merksätze
❖ Primäre Therapieziele bei alten Diabetikern sind der Erhalt der Selbstständigkeit und das Vermeiden von Blutzuckerentgleisungen.
❖ Eine grosse Rolle spielen bei Diabetikern Candidainfektionen wie Soor, Candida intertrigo oder Candidabalanitis beziehungsweise -vulvitis.
❖ Jährlich sollte bei Diabetikern ein Screening auf andere Autoimmunerkrankungen wie Autoimmunthyreoiditis oder M. Addison stattfinden.
❖ Bei Diabetikern beobachtet man häufiger vermehrtes Zahnfleischbluten, Zahnlockerungen und Zahnverlust.
❖ Eine akute Osteopathie (Charcot-Fuss) kann wegen der Rötung und Schwellung mit einer bakteriellen Infektion verwechselt werden.
hier Geriatrie und Diabetes besonders aufgeführt werden, dann deswegen, weil die «milde Zuckerkrankheit» (venia sit verbo) im Alter häufig unterschätzt wird und die Patienten nicht gut eingestellt werden. Wichtig ist, dass die Behandlung einen Mittelweg zwischen der schädlichen Hyperglykämie und der in hohem Alter ebenfalls besonders gefürchteten Hypoglykämie findet. Primäre Behandlungsziele bei den alten Menschen sind vor allem in dem Erhalt der Lebensqualität, der Selbstständigkeit und ihren Bindungen an Freunde und Verwandte zu sehen, natürlich auch das Vermeiden der geschilderten Blutzuckerentgleisungen. Aktivitäten des täglichen Lebens lassen nach, und damit wird die körperliche Bewegung, die ja für alte Menschen so wichtig ist, eingeschränkt. Es kommt zu kognitiven Störungen und vermehrt zu Depressionen, die nun gerade wieder durch den Bewegungsmangel und das Nachlassen von Kraft und Mobilität gefördert werden. Gang- und Gleichgewichtsstörungen sind häufig. Die Patientenschulung ist deswegen eminent wichtig, um den verschiedenen Problemen in der Geriatrie gerecht zu werden. Angehörige sollten in die Schulung einbezogen werden. Die Schulung darf nicht «zu wissenschaftlich» sein und die oft eingeschränkte mentale Leistung des Patienten überschätzen. Wenigstens drei- bis viermal pro Woche sollten Spaziergänge gemacht werden, die sich im Tempo und in der Distanz allmählich steigern können. Dabei ist aber gerade beim alten Menschen darauf zu achten, dass Herz und Kreislauf nicht überfordert werden. 100-jährige Marathonläufer (mit oder ohne Diabetes) sind keine guten Beispiele, sondern cum grano salis als Pressemitteilung die Nachricht von suizidalen Absichten eines alten Menschen ... Die Ernährung spielt im Alter gerade bei Heimbewohnern eine grosse Rolle. Nicht selten kommt es zu Mangel- oder Fehlernährung und weniger häufig zu Übergewicht. Eine ausgewogene, bedarfsadaptierte Mischkost ist anzustreben, wobei eventuell auch Multivitamingaben zu überlegen sind, es sei denn, die Ernährung ist wirklich ausgeglichen und an Nahrungsergänzungsstoffen ausreichend. Immer ist daran zu denken, dass alte Menschen wegen ihrer Multimorbidität verschiedene andere Medikamente ausser den oralen Antidiabetika oder dem Insulin bekommen, deren Einfluss auf den Stoffwechsel zu beachten ist, Stichwort: Thiaziddiabetes. Glukokortikoide sind oft unentbehrlich, verschlechtern aber natürlich die Stoffwechsellage ebenso wie – in bedeutend geringerem Ausmass – auch Betablocker und womöglich geringfügig die fast immer trotzdem indizierten Statine.
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Hautkrankheiten und Diabetes Dermatitiden und Dermatosen kommen bei metabolischen Störungen häufiger vor, wobei schon im prädiabetischen Stadium eine eingeschränkte Glukosetoleranz ganz offensichtlich förderlich wirkt. Man muss unterscheiden zwischen bakteriellen Infektionen und Mykosen. Das Erysipel ist bei Diabetikern häufiger und gefürchtet, während das Erythrasma eine meist harmlose Infektion der Epidermis darstellt. Eine sehr grosse Rolle spielen hingegen die Mykosen, wobei Candidainfektionen (wie die orale Candidose oder Soor, die Candida intertrigo, die Candidafollikulitis und die Candidabalanitis oder -vulvitis) von Bedeutung sind. Es bleibt abzuwarten, ob gerade letztere Krankheitsbilder bei Medikamenten, die die Hyperglykämie durch eine vermehrte Glukosurie bekämpfen (SGLT-2-Hemmer), zunehmen. Bis anhin gilt dies nicht für Harnwegsinfekte, wohl aber in Grenzen für Vaginitiden im Hinblick auf die Gabe dieser an sich wertvollen und interessanten Substanzen. Primäre Erkrankungen, also zum Beispiel Fadenpilzinfektionen, sind bei Diabetikern offenbar statistisch nicht signifikant häufiger als bei Nichtdiabetikern. Die Therapie wird in üblicher Weise durchgeführt, ebenso wie bei der Onychomykose, die zu 80 Prozent durch Dermatophyten verursacht wird. Fast stets tritt sie im Gefolge einer Primärerkrankung der Füsse auf. Direkt «diabetesassoziiert» ist der Pruritus, der sehr quälend sein kann. Jede dritte Frau mit einem glukosurischen, frisch manifestierten Diabetes klagt über einen Pruritus vulvae. Natürlich kann es bei sehr schlechter Stoffwechsellage auch zu Exsikkationsekzemen kommen, während Pigmentstörungen wie Vitiligo und Purpura diabeticorum nur eine untergeordnete Rolle spielen. Die diabetische Dermatopathie soll bei 70 Prozent aller Patienten auftreten. Sie ist gekennzeichnet durch scharf begrenzte erythematöse Makulä, vereinzelt auch Papeln, die zu einer Atrophie der Haut überleiten können. Dieses Krankheitsbild tritt allerdings auch bei Nichtdiabetikern auf, sodass es im strengen Sinn nicht diabetesspezifisch ist, sich jedoch bei Zuckerkranken häufiger findet. Ähnliches gilt für die Necrobiosis lipoidica, einer merkwürdigen Degeneration des Bindegewebes der Haut, die vor allem an der unteren Extremität auftritt. Therapeutisch kann man nicht viel oder praktisch gar nichts tun, die Erkrankung ist aber auch nicht gefährlich. Natürlich treten bei Hyperlipoproteinämien auch eruptive Xanthome auf – zu solchen Ablagerungsdermatosen zählt auch die Bullosis diabeticorum, eine meist schmerzlose spontane Ausbildung von grösseren Blasen vor allem an der unteren Extremität. Die Therapie erfolgt lokal durch den Dermatologen, Superinfektionen müssen vermieden werden. Andere Krankheitsbilder sind eher selten oder nicht diabetestypisch, wie die bei Diabetikern häufiger auftretenden Dupuytren-Kontrakturen. Im Zusammenhang mit den eingangs erwähnten häufigsten Folgeschäden des Diabetes wie Makro-, Mikroangiopathie und Neuropathie kann es natürlich auch zu diabetesbedingten Durchblutungsstörungen an der Haut kommen. Das gilt vor allem wiederum für die Peripherie (cave! diabetischer Fuss). Eine gute Diabeteseinstellung ist das Gebot der Stunde. Gerade die Behandlung wird aber oft auch durch Arzneimittelwirkungen unerwünschter Art beeinflusst, wobei die
lokalen Reaktionen auf Insulin extrem selten geworden sind. Allerdings kann es an den Injektionsstellen nach wie vor zu Lipatrophie oder Lipodystrophie kommen, während Lipome eher selten geworden sind. Bei den oralen Antidiabetika ist man im Hinblick auf Hauterkrankungen auf der relativ sicheren Seite, wenn man von gelegentlichen allergotoxischen Erscheinungen, vor allem bei älteren Sulfonylharnstoffen, absieht.
Diabetes und Infektion Wichtige Ausführungen hierzu wurden bereits oben gemacht. Man sollte aber ganz allgemein wissen, dass der Diabetes mellitus zu einer vermehrten Infektanfälligkeit führt und dass Infekte bei Diabetikern oft schwerer sind und mit Komplikationen zu einer erhöhten Mortalität führen. Typische und häufige Infektionen sind das chronische Ulkus, aber auch andere mit den Hautkrankheiten assoziierte Störungen (siehe oben) können zu einer Superinfektion führen, die dann eine strenge Diabeteseinstellung und in der Regel natürlich eine antibiotische Behandlung erfordert. Verschiedene Dinge werden als Ursache der vermehrten Infektanfälligkeit diskutiert, so genetische Besonderheiten, sekundäre Phänomene wie Zellfunktionsstörungen infolge erhöhter Blutzuckerwerte und assoziierte Phänomene wie die vermehrte Beteiligung von Resistenzkeimen, die durch häufige Klinikaufenthalte natürlich gefördert werden.
Diabetes und andere endokrinologische Erkrankungen Als Folge einer Hyperthyreose kommt es zu einer vermehrten Insulinresistenz, aber auch zu einer Hemmung der Insulinsekretion und somit zu einer Störung der Glukosetoleranz. Eine exakte Behandlung des Grundleidens ist neben der Diabetestherapie deswegen dringend erforderlich. Hypothyreosen führen im Übrigen eher zu einer Senkung des Insulinbedarfs und verstärken die Unterzuckerungsneigung. Natürlich sind als diabetogene Hormone vor allem das Wachstumshormon und ganz besonders die Glukokortikoide von Bedeutung. Erkrankungen wie Akromegalie und Cushing-Syndrom sind häufig operativ anzugehen und können dann zu einer dramatischen Verbesserung der Stoffwechsellage führen. Die häufige Assoziation von Typ-1-Diabetes mit anderen Autoimmunerkrankungen erfordert ein jährliches Screening dahin gehend, ob nicht andere, auf Autoimmunitätsstörung beruhende Krankheiten, wie die Autoimmunthyreoiditis und der Morbus Addison, vorliegen. Hypogonadismus bei Männern geht häufig mit dem metabolischen Syndrom (und später Typ-2-Diabetes) einher. Bei Frauen liegt bei etwa einem Drittel der Patientinnen mit polyzystischem Ovarialsyndrom (PCOS) eine gestörte Glukosetoleranz oder ein Diabetes vor. Dieses Krankheitsbild ist im Übrigen eine der häufigsten endokrinen Erkrankungen überhaupt. Häufig ist die Gewichtsreduktion, die bei den meist übergewichtigen Patientinnen stattfinden muss, die Therapie der Wahl und bringt gute Langzeitergebnisse mit sich.
Zahnmedizin und Diabetes Wenige diabetische Begleiterkrankungen, wenn auch nicht spezifischer Art, werden so unterschätzt wie Erkrankungen im Mundbereich, die insbesondere die Zähne und das Zahnfleisch betreffen. Erkrankungen in diesem Bereich sind
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sowieso häufig mit Stoffwechselerkrankungen oder hormonellen Verschiebungen oder Ähnlichem verknüpft. Aber auch durch eine andauernd schlechte diabetische Stoffwechsellage bei allen Diabetestypen sind Erkrankungen mit vermehrtem Zahnfleischbluten und Zahnlockerungen bis hin zum frühzeitigen Zahnverlust zu beobachten. In jüngster Zeit hat sich eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Zahnmedizinern und Diabetologen, der gesamten Problematik angenommen. Das ist ein Fortschritt, da in alten Lehrbüchern diesem so wichtigen Thema nicht einmal ein eigenes Kapitel gewidmet wurde. Die in dieser Gruppe vertretenen Spezialisten machen sich besonders für eine sorgfältige und konstante Mundhygiene stark, die für Diabetiker extrem wichtig ist. Was die Karies angeht, so wurde sie früher bei Diabetikern weniger beobachtet, als noch das totale Zuckerverbot galt. Aus diätetischen Gründen – nicht unberechtigt – erlaubt man jetzt im Sinne des Empowerments in der Diabetikerberatung anstelle der klassischen Verbote, dass Diabetiker 10 Prozent ihrer Gesamtkalorien via gewöhnlichen Zucker zu sich nehmen dürfen, allerdings nicht in Getränken. Das bedeutet, wie gesagt, im Hinblick auf die Kariesentstehung sicher eine verschlechterte Situation. Gerade wenn Diabetiker zahlreiche Zwischenmahlzeiten einhalten müssen, sollten sie sehr darauf achten, dass keine Speisereste zwischen den Zähnen verbleiben. Kleine Bürsten sind für die Zahnzwischenräume eine wichtige Hilfe, um Speisereste zu entfernen, die durch die Zahnbürste nicht erreicht werden. Die Letztere sollte im Übrigen weich bis mittelhart sein, Mundspülungen mit speziellen Wassern und vor allem die Benutzung von vernünftigen Zahnpasten sind Voraussetzung. Willershausen betont, dass Diabetiker mit vermehrtem und konstantem Zahnfleischbluten, Zahnlockerungen oder Zahnwanderungen mit Zahnfleischrückgang, Mundwinkelrhagaden, Wundheilungsstörungen oder mit sonstigen Irritationen im Mundbereich unbedingt dem Zahnarzt vorgestellt werden müssen. Im Übrigen sollen Diabetiker vierteljährliche Kontrolltermine wahrnehmen, um dem erhöhten Parodontitisrisiko entgegenzuwirken. Parodontitiden sind wohl die häufigsten Erkrankungen bakterieller Genese, wobei auch sicher genetische Prädisposition und Allgemeinerkrankungen, wie zum Beispiel der Diabetes, mit den pathogenen Mikroaneurysmen eine entscheidende Rolle spielen. Immer wieder wird diskutiert, ob externe Faktoren wie Rauchen und psychosozialer Stress die Anfälligkeit für Parodontitis begünstigen. Wichtig ist die eher neuere Erkenntnis, dass – in welchem Zusammenhang auch immer – Patienten mit Parodontitis vermehrt an einer Mikroangiopathie leiden, wie umgekehrt auch Diabetiker mit Gefässerkrankungen vermehrt Parodontitis aufweisen. Man weiss, dass Diabetiker eine erhöhte Anfälligkeit für Parodontitis haben, indem sich die Mundflora und die Speisenzusammensetzung verändert und eben auch eine gesteigerte mikroangiopathische Veränderung der Mundschleimhaut vorliegt. Als Praxistipps sind folgende Hinweise zu bewerten: ❖ Wenn der Zahnarzt aufgesucht wird, soll unbedingt auf
einen eventuell vorhandenen Diabetes hingewiesen werden, da dies die Intensität und Häufigkeit der zahnärztlichen Kontrollen sicherlich erhöht. ❖ Ferner sollen Diabetiker schon bei nur geringfügigen Entzündungen der Gingiva den Zahnarzt aufsuchen, um tief
greifenden Folgeschäden am Zahnhalteapparat vorzubeugen. ❖ Bei der Mundhygiene sind primär die mikrobiellen Beläge zu beseitigen, wobei die mechanische Reinigung in der oben beschriebenen Weise vorgenommen werden soll. Die Zahnseide ist deswegen für eine effektive Plaqueentfernung im Bereich zwischen den Zähnen unabdingbar, da hierdurch statistisch hochsignifikant Zahnfleischblutungen reduziert werden können.
Ideal ist es, wenn die Zähne nicht nur nach den Hauptmahlzeiten, sondern auch nach den Diabetikern noch immer verabreichten Zwischenmahlzeiten geputzt werden. Fluoride haben durchaus ihren Platz neben antiphlogistischen und antibakteriellen Zusätzen wegen ihrer günstigen Wirkung auf das Zahnfleisch und die Zahnhartsubstanz. Interessant ist überdies, dass bei jungen Typ-1-Diabetikern nach erfolgreicher Parodontaltherapie eine deutliche Reduktion des Insulinbedarfs festgestellt werden konnte, was – wie die oben geschilderten Zusammenhänge in der Mikroangiopathie – wiederum auf noch unklare Kausalzusammenhänge zwischen Diabetes und Zahn- beziehungsweise Zahnfleischerkrankungen hinweist. Sollten ausgedehnte parodontalchirurgische Eingriffe oder Zahnextraktionen vorgenommen werden, bestehen gegen die übliche Narkose oder örtliche Betäubung keine Bedenken. Eine prophylaktische Antibiotikagabe wird allerdings präoperativ bis zu 48 Stunden nach der Operation empfohlen. Natürlich ist auch hier, wenn irgend möglich, vor dem operativen Eingriff eine Optimierung der Diabeteseinstellung dringend erforderlich.
Diabetische Osteoarthropathie Eigentlich gehört diese Erkrankung in der Regel zu dem so gefürchteten diabetischen Fuss, der aber leider nicht zu den seltenen Erkrankungen gehört. Der sogenannte Charcot-Fuss ist eine Art Sonderfall des diabetischen Fusses und ist in der Regel wegen gleichzeitiger Neuropathie schmerzfrei und im Übrigen nicht infektiös. Auf diese Weise wird eine Verletzung, wie sie für die Entstehung des Charcot-Fusses oft auslösend ist, von den Patienten nicht wahrgenommen. Eine neurovaskuläre Komponente durch eine lokale Hyperperfusion des kranken Fusses bedingt eine Entmineralisierung des Knochens und dadurch eine verminderte Belastbarkeit. Daraus resultieren Frakturen und Deformitäten. Hinzu kommt eine neurotraumatische Komponente, eine kontinuierliche Fehlbelastung durch die sensomotorische Neuropathie. Aus dieser resultiert dann wieder eine chronische Destruktion von Knochen- und Weichteilstrukturen. Eine akute Osteoarthropathie im Sinne des Charcot-Fusses kann wegen der typischen Rötung und massiven Schwellung mit einer entzündlichen Bakterienerkrankung verwechselt werden. Die Haut ist aber unversehrt, und es bestehen keine im Labor messbaren Entzündungszeichen. Immer sollte man den Verdacht auf einen Charcot-Fuss haben, wenn neuropathische Diabetiker über derartige Schwellungen und Rötungen sowie über eine Übererwärmung des Fusses – primär ohne Schmerzen – klagen. Bei der Diagnose ist ein übliches Röntgenbild notwendig, um die sogenannten 5 D zu beurteilen:
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❖ Distension der Gelenke ❖ Dislokation der Gelenke und Knochen ❖ Debris des Knochens ❖ Desorganisation der Gelenke und Knochen ❖ Dichteerhöhung des Knochens.
Bei der Therapie geht es in erster Linie darum, die Progression des Geschehens einzudämmen und Ulzera zu vermeiden. Als Goldstandard der Therapie wird eine konsequente, komplette Druckentlastung durch passagere Immobilisation oder auch durch einen entsprechenden Gips angesehen. Leider benötigt diese Behandlung bis zum begrenzten Erfolg Wochen und Monate. Hingegen werden operative Verfahren dann nötig sein, wenn das konservative Therapieregime versagt. So soll man bei lokalen Exostosen eine Resektion durchführen oder später eine Arthrodese. Als Gefahr für alle operativen Verfahren beim Charcot-Fuss wird das hohe Risiko für Pseudoarthrosen angesehen. Die Nachbehandlung und die Prävention sind deswegen so bedeutsam, weil bei ungenügender Therapie innerhalb von fünf Jahren nach einer Fussläsion bei 70 Prozent der Diabetiker ein Rezidiv auftritt und in einem hohen Prozentsatz (jeder 9. Patient!) amputiert werden muss. Von Reamputationen im Folgejahr sind ein Viertel der Patienten betroffen, nach fünf Jahren beinahe zwei Drittel. Die Verhaltensregeln für den Patienten ähneln im Wesentlichen denen des hier nicht zu besprechenden diabetischen Fusses. Eine stadiengerechte Schuhversorgung ist entscheidend und wichtig.
Abschliessender Kommentar
Für alle hier besprochenen, eher seltenen oder selten erfass-
ten Krankheitszustände gilt, dass der Spezialist rechtzeitig
einbezogen werden muss. So hat es sich bewährt, in der
Geriatrie des Diabetes, unter Umständen bei Infektionen, mit
Sicherheit aber auch in der Dermatologie und Orthopädie,
den Facharzt hinzuzuziehen. Trotzdem kommt dem All-
gemeinarzt eine Schlüsselfunktion zu, da er es ist, der die
Diagnose stellt, erste Massnahmen einleitet und später die
Überweisung zum Facharzt vornehmen kann.
Der Vollständigkeit halber seien noch Ereignisse wie das
erhöhte Risiko für Lungenerkrankungen bei schlecht einge-
stelltem Diabetes und die erektile Dysfunktion erwähnt.
Letztere ist auch das typische Beispiel für eine ausserordent-
lich häufige Beeinträchtigung im Sexualleben der Diabetiker,
die aber aufgrund falscher Scham voneiten des Patienten
und mangels Nachfrage durch den Arzt oft nicht erfasst wird
und daher einen selten diagnostizierten Folgeschaden des
Diabetes darstellt.
❖
Prof. Dr. med. Hellmut Mehnert Forschergruppe Diabetes e.V. Drosselweg 16, D-82152 Krailling E-Mail: h@mehnert-diabetes.de
Interessenkonflikte: keine deklariert
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 19/2012. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.