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BERICHT
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen
Die Angst um den Job verursacht neue Schübe
Jahreskongress der European Crohn’s and Colitis Organisation (ECCO) Wien, 13. bis 16.Februar 2013 «Join the fight against IBD» und Roundtable Gespräch
Die Verbreitung chronisch entzündlicher Darmerkrankungen zeigt − vor allem bei Kindern und Jugendlichen in den industrialisierten Ländern − gegenwärtig eine deutliche Zunahme. Die Betroffenen stehen aus Sorge um ihren Arbeitsplatz häufig zusätzlich unter immensem Druck. An mehreren Veranstaltungen am Rande des Jahreskongresses der European Crohn’s and Colitis Organisation (ECCO) in Wien wurden die Herausforderungen und Perspektiven dieser Erkrankung diskutiert.
KLAUS DUFFNER
kongress. In Europa leiden gegenwärtig 0,3 Prozent der Bevölkerung an chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, das sind rund 2,5 bis 3 Millionen Menschen. 20 bis 25 Prozent davon zeigen kontinuierliche, chronische Symptome, bei 30 bis 40 Prozent sind bereits bei Diagnosestellung Komplikationen wie Darmverengungen oder Fisteln vorhanden.
Umweltfaktoren als Hauptursachen Die Gründe für die Entwicklung chronisch entzündlicher Darmerkrankungen liegen immer noch weitgehend im Dunkeln. Allerdings könne nur ein geringer Teil davon auf genetische Voraussetzungen zurückgeführt werden, «die Hauptursachen scheinen in belastenden Umweltfaktoren zu liegen», berichtete Prof. Dr. Walter Reinisch aus Wien. So werden unausgewogene Ernährung, Medikamente, Rauchen, Stress und das urbane Lebensumfeld mit übertriebener Hygiene dafür verantwortlich gemacht, die chronischen Darmleiden zu fördern. In diesem Zusammenhang rücke auch die
Darmflora, die ja wesentlich von der Ernährung geprägt ist, in jüngster Zeit immer stärker in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses, erklärte Prof. Dr. Frank Seibold aus Bern an einem Roundtable-Gespräch mit Schweizer Ärzten, Patienten und Journalisten. So können Einwanderer aus Ländern mit geringerer CED-Prävalenz (z.B. Indien oder Türkei) alle Nahrungsmittel und Speisen ihrer neuen Heimat essen, ohne dass die Rate chronisch entzündlicher Erkrankungen ansteigt. Hingegen sei der Nachwuchs dieser Migranten etwa gleich häufig von Morbus Crohn betroffen wie einheimische Kinder, berichtete Prof. Dr. Gerhard Rogler vom Universitätsspital Zürich. «Diese Beobachtung deutet klar darauf hin, dass die Bedingungen vor Ort, also die Ernährung oder Umwelteinflüsse, eine wichtige Rolle bei der Pathogenese spielen.»
Sorge um den Job Zwar können solche eher wissenschaftlichen Fragen langfristig wichtige Mosaiksteine zum Verständnis chronisch
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED) treten am häufigsten in hoch entwickelten Industrieländern auf. Vor allem Nordeuropa ist stark betroffen, aber auch in Süd- und Osteuropa wird von ansteigenden Tendenzen berichtet. So soll die Prävalenz bei dänischen Kindern in den vergangenen neun Jahren um knapp 50 Prozent zugenommen haben. Auch Zahlen aus Schottland und Spanien mit einem Anstieg von 30 Prozent bestätigten diesen bedenklichen Trend, erklärte die Epidemiologin Dr. Tine Jess aus Dänemark im Rahmen des Meetings «Join the fight against IBD» am ECCO-Jahres-
Abbildung: Prof. Dr. Gerhard Rogler und Prof. Dr. Frank Seibold im Gespräch mit Michael Harnisch, Vertreter der Patientenorganisation SMCCV (v.l.)
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Foto: Klaus Duffner
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Unterstützung für Patienten unter:
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entzündlicher Erkrankungen beitragen, für Michael Harnisch, Vertreter der Schweizerischen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa Vereinigung (SMCCV), steht jedoch die Aufklärung im Vordergrund. Denn: «Wir wollen die Krankheit aus dem Verborgenen herausholen.» So zeigt seine eigene Erfahrung, wie schwer es gerade für jüngere Menschen sein kann, mit der Diagnose CED umzugehen. «Bei mir wurde mit 15 Jahren erstmalig Colitis ulcerosa diagnostiziert. Damals hatte ich das Gefühl, ich stünde völlig alleine mit dieser Krankheit.» Zwar haben sich in den vergangenen Jahren manche Dinge zum Positiven verändert, trotzdem wollen immer noch viele Patienten nicht, dass ihr Arbeitgeber von ihrer Erkrankung erfährt. In der europäischen Untersuchung wurde festgestellt, dass CED-Patienten im Durchschnitt drei bis sechs Wochen pro Jahr nicht ihrer Arbeit nachgehen können. Daher fürchten viele um ihren Job, weshalb Arztbesuche häufig in die Freizeit gelegt werden, so die Erfahrung von Rogler. Allerdings machten die Schilderungen dreier am Roundtable Gespräch anwesender Patienten auch deutlich, dass es «den Arbeitgeber» gar nicht gibt. So war der Chef von Richard Keller* von Anfang an über die CEDErkrankung des jungen Mitarbeiters informiert. Dem Vorgesetzten war bewusst, dass man deshalb mit ein paar krankheitsbedingten Fehltagen im Jahr rechnen müsse, und er zeigte sich nach den Worten des angehenden Metzgers «sehr verständnisvoll». Auch Ueli Broder* hatte Glück. Anfangs versuchte er, seine ersten gröberen Schübe zu kaschieren, indem er Ferientage nahm. Irgendwann wurde er jedoch zu seinem Chef zitiert, um über seine Krankheit zu berichten. «Danach bestand er darauf, dass Krankheitstage auch als solche angesehen wurden. Dadurch konnte im Team offen über Morbus Crohn gesprochen werden, was mich sehr entlastet hat.»
Besserer Schutz am Arbeitsplatz gefordert Ganz andere Erfahrungen machte dagegen Sabrina Weber*. Obwohl die Übersetzerin bisher kaum Fehlzeiten hatte, kamen vom Arbeitgeber eindeutige Drohungen. Die junge Frau rechnet in naher Zukunft damit, dass sie bei der nächsten Fehlzeit «draussen» ist. Tatsächlich stellte sich in einer europaweiten Studie heraus, dass 44 Prozent der Betroffenen aufgrund ihrer Erkrankung ihre Arbeit verloren hatten oder aufgeben mussten. Allerdings würden solche Patienten in anderen Ländern besser geschützt als in der Schweiz, erklärte Rogler. «Ich sehe mehrmals im Jahr, dass Patienten krankheitsbedingt ihren Arbeitsplatz verlieren.» Die Angst um die Anstellung zieht in einen Teufelskreis. Denn der Druck, beim nächsten Schub auf der Abschussliste zu stehen, führe fast zwangsläufig zu einem neuen Schub. «Die Situation für unsere Patienten ist absolut schlecht. Zu deren Schutz muss unbedingt etwas geändert werden», so Rogler. Ist der Job weg, kommt durch die Arbeitslosigkeit, zusätzlich zu den massiven körperlichen Beschwerden, eine soziale und gesellschaftliche Stigmatisierung hinzu. Da sei auch eine IV-Rente keine Lösung, denn sie verstärke die Isolation. Zudem würden das Zuhausesitzen und das Nichtstun den Krankheitsverlauf eher noch verschlimmern, weswegen insbesondere junge Menschen möglichst im Arbeitsprozess gehalten werden sollten.
Neuer Fragebogen soll Klarheit schaffen Wird Morbus Crohn rechtzeitig diagnostiziert und behandelt, besteht die Chance, dass die Schleimhautentzündung komplett abheilt. Allerdings dauert es immer noch viel zu lange, bis die Patienten zum Spezialisten kommen, so Rogler. In der Schweiz beträgt die Zeit zwischen Diagnose und Konsultation beim Gastroenterologen bis zu zwei Jahren, in Ländern wie Grossbritannien sogar noch deutlich länger. «Gerade bei jungen Frauen mit Morbus Crohn dauert es häufig sehr lange, bis sie zum Spezialisten überwiesen werden», so der Zürcher Gastroenterologe. Allerdings könne der Hausarzt nicht jeden der vielen Patienten mit diffusen Bauchschmerzen aufwendig auf
chronisch entzündliche Darmentzündungen untersuchen. Abhilfe könnte ein in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa Vereinigung (SMCCV) und derzeit im Test befindlicher neu entwickelter Screeningfragebogen schaffen. Dort wird beispielsweise nach der Dauer oder dem nächtlichen Auftreten von Durchfällen gefragt.
Nicht zu lange warten
Schnell gehandelt werden sollte vor
allem dann, wenn bestimmte Risiko-
faktoren, wie etwa Fisteln oder ein
hartnäckig erhöhter Calprotectinwert
vorliegen. Man solle in solchen Fällen
nicht weitere Schübe abwarten und mit
Kortison behandeln, sondern relativ
früh die Therapie mit TNF-alpha In-
hibitoren – eventuell kombiniert mit
Immunsuppressiva – beginnen, emp-
fahl Seibold. Allerdings kommen einige
Patienten, bei denen alle verfügbaren
Medikationen ausprobiert wurden,
trotzdem nicht in Remission. Deshalb
seien neue Medikamente nötig. Tat-
sächlich wird in naher Zukunft die
Zulassung ganz neuer Substanzklassen
erwartet. So ist gegenwärtig ein Alpha4-
beta7-Antikörper in klinischer Erpro-
bung, der verhindern soll, dass Entzün-
dungszellen überhaupt zum Ort der
Inflammation gelangen. «Ich bin über-
zeugt davon, dass wir in den kommen-
den zehn Jahren einige neue und effek-
tive Medikamente auf dem Markt
haben werden», so die Einschätzung
des Berner Gastroenterologen.
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Klaus Duffner
Der Medienanlass «Join the fight against IBD» in Wien konnte dank der Unterstützung von über 50 Sponsoren, darunter auch das Biopharmaunternehmen AbbVie, realisiert werden. Auf den Inhalt des Textes wurde kein Einfluss genommen.
*Namen von der Redaktion geändert
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