Transkript
FORTBILDUNG
Polymyalgia rheumatica
Je älter, desto häufiger
Es ist manchmal nicht leicht, die Polymyalgia rheumatica von anderen entzündlichen Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises abzugrenzen. Neue, validierte Klassifikationskriterien sollen dabei helfen, einheitliche Standards zu schaffen.
LANCET
Die Polymyalgia rheumatica (PMR) ist eine chronische, entzündliche Erkrankung, die in der Regel erst nach dem 50. Lebensjahr auftritt. Die Inzidenz steigt mit zunehmendem Alter und schwankt je nach geografischer Lage. Hohe Zahlen werden vor allem in skandinavischen Ländern und bei Menschen mit nordeuropäischen Wurzeln verzeichnet. Ein Beispiel ist die norwegische Provinz Aust-Agder: Dort beträgt die jährliche Inzidenz bei den über 50-Jährigen 112,6 pro 100 000. Ganz anders sieht es in Südeuropa aus: Hier beläuft sich die Inzidenz bei den über 50-Jährigen nur auf 12,7 bis 18,7 pro 100 000. Es gibt zwar viele Erklärungsansätze, doch die genauen Ursachen der PMR sind unbekannt. Aufgrund epidemiologischer Studien wird vermutet, dass sowohl genetische Faktoren als auch Umwelteinflüsse von Bedeutung sind. Zudem wird diskutiert, ob infektiöse Auslöser bei der Pathogenese einen Einfluss haben. Eine andere Hypothese geht davon aus, dass eine Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse im Zusammenhang mit einer Nebenniereninsuffizienz eine Rolle spielt.
Merksätze
❖ Die Polymyalgia rheumatica (PMR) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung. Schmerzen und morgendliche Steifheit gehören zu den typischen Symptomen.
❖ Die European League Against Rheumatism (EULAR) und das American College of Rheumatology (ACR) publizierten kürzlich provisorische Klassifikationskriterien.
❖ Die Behandlung wird klassischerweise mit niedrig dosierten Glukokortikoiden eingeleitet, woraufhin die Beschwerden bei den meisten Patienten schnell abnehmen.
Symptome Zu den klassischen Symptomen zählen Schmerzen und eine morgendliche Steifheit des Nackens, der Schultern, der Hüften sowie der Oberarme und -schenkel. Typischerweise treten die Beschwerden beidseitig auf. Rund 40 bis 50 Prozent der Patienten klagen zudem über Müdigkeit, Unwohlsein, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust und Fieber. Es gibt andere Erkrankungen, deren Erscheinungsbilder der PMR sehr ähnlich sind. Daher ist es manchmal schwer, sofort die richtige Diagnose zu stellen; insbesondere die Spondyloarthritis und die rheumatoide Arthritis sind solche Beispiele. Daneben besteht ein enger Zusammenhang zwischen einer PMR und der Arteriitis temporalis. Es handelt sich dabei um eine Gefässwandentzündung grosser Arterien. Charakteristisch sind pochende Kopfschmerzen in der Schläfengegend bis hin zu Sehstörungen. Die beiden Erkrankungen teilen viele Gemeinsamkeiten: das Alter beim Einsetzen der Störungen, einen höheren Frauenanteil und ein ähnliches geografisches Muster. Daher wird gemutmasst, dass sie unterschiedliche Formen ein und derselben Erkrankung sind. Dafür sprechen auch die folgenden Zahlen: 40 bis 60 Prozent der Patienten mit einer Arteriitis temporalis haben bei der Diagnose Anzeichen einer PMR, und umgekehrt tritt bei etwa 16 bis 21 Prozent der Personen mit einer PMR eine Arteriitis temporalis auf.
Diagnosestellung Die Diagnose wird aufgrund der klinischen Symptomatik gestellt. Denn bis anhin gibt es keinen spezifischen Labortest, obwohl oft erhöhte Werte von Entzündungsmarkern nachgewiesen werden. Die Bestimmung des C-reaktiven Proteins (CRP) wird im Vergleich zur Erythrozytensedimentationsrate (ESR) als aussagekräftiger angesehen. Die Messung anderer Laborparameter kann zudem dabei helfen, die PMR von ähnlichen Erkrankungen abzugrenzen. Bildgebende Verfahren werden für die Diagnosestellung zwar nicht routinemässig benötigt, doch vor allem eine Ultraschalluntersuchung kann weiteren Aufschluss verschaffen. Mit ihr wird häufig eine Bursitis, Tendosynovitis oder Synovitis im Bereich der Schultern und Hüften nachgewiesen. Mehrere Arbeitskreise legten Diagnosekriterien fest. Trotz ähnlicher Parameter weichen sie in manchen Punkten voneinander ab. Besser wäre ein einheitliches System, das von allen Beteiligten eingesetzt wird. Die European League Against Rheumatism (EULAR) und das American College of Rheumatology (ACR) veröffentlichten nun kürzlich ihre Klassifikationskriterien. Dazu wurden die wichtigsten Faktoren bei
270
ARS MEDICI 5 ■ 2013
FORTBILDUNG
EULAR-ACR-Klassifikationskriterien
Klinische Kriterien Morgensteifigkeit > 45 Minuten
Hüftschmerzen oder eingeschränkte Beweglichkeit
Rheumafaktor negativ und keine Antikörper gegen zitrullinierte Peptide
keine weitere Gelenkbeteiligung
Punkte 2 1 2
1
Ultraschallkriterien unilaterale Bursitis subdeltoidea, Tendosynovitis der Bizepssehne 1 und/oder glenohumerale Synovitis UND eine Synovitis an mindestens einer Hüfte und/oder Bursitis trochanterica
bilaterale Bursitis subdeltoidea, Tendosynovitis der Bizepssehne 1 und/oder glenohumerale Synovitis
einer prospektiven Kohorte von 125 Personen mit PMR und 169 Personen mit ähnlichen Störungen ohne PMR getestet. Nach einem Probelauf von 6 Monaten wurde ein Scoringalgorithmus anhand der gewonnenen Ergebnisse entwickelt. Er eignet sich bei über 50-jährigen Patienten, bei denen die Entzündungsmarker ESR und/oder CRP erhöht sind. Des Weiteren können die beidseitigen Schulterschmerzen keinem anderen Leiden zugeschrieben werden. Bei der Abgrenzung einer PMR von ähnlichen Erkrankungen entspricht ein Wert von 4 oder grösser einer Empfindlichkeit von 65 Prozent und einer Genauigkeit von 78 Prozent. Wird auch eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt, beträgt die Empfindlichkeit 66 Prozent und die Genauigkeit sogar 81 Prozent bei einer Punktzahl von 5 oder grösser. Diese Kriterien sind allerdings nur übergangsweise gültig, bis noch mehr Validierungsdaten vorliegen.
Behandlung mit Glukokortikoiden Standardmässig wird mit Glukokortikoiden behandelt, wohingegen nicht steroidale Entzündungshemmer in der Regel nicht eingesetzt werden. Spricht der Patient schnell auf eine niedrige Dosis an, wird dies oft als Bestätigung der Diagnose angesehen. Studien zeigten jedoch, dass diese Annahme nicht immer zutrifft. Daneben treten auch häufig Rückfälle auf. Zu Beginn wird üblicherweise mit einer täglichen Dosis von 15 bis 20 mg Prednison (Prednison Streuli® u.a.) oder Prednisolon (Prednisolon Streuli® u.a.) gestartet. Höhere Mengen werden eher selten benötigt, ausser es besteht der Verdacht auf eine Arteriitis temporalis. Die anfängliche Dosis wird ungefähr 2 bis 4 Wochen lang beibehalten und schliesslich allmählich zurückgefahren. Dafür gibt es kein standardmässiges Verfahren, doch häufig erfolgt alle 2 bis 4 Wochen eine Reduktion um 2,5 mg. Nimmt der Patient schliesslich nur noch 10 mg pro Tag ein, kann nach jedem Monat 1 mg weggelassen werden. Bei milderen Verlaufsformen oder bei Personen mit mehreren Komorbiditäten können stattdessen im Abstand von 3 bis 4 Wochen 120 mg Methylprednisolon i.m. (Solu-Medrol®) verabreicht werden. Nach 3 Monaten kann die Dosis alle 2 bis 3 Monate um 20 mg herabgesetzt werden.
Nicht vergessen: Die Langzeiteinnahme von Glukokortikoiden geht nicht spurlos am Körper vorbei. Ganz oben steht die Gefahr einer Osteoporose. Vorbeugend kann die regelmässige Gabe von Kalzium und Vitamin D helfen, und bei Menschen mit einem hohen Risiko können vorsorglich Bisphosphonate verschrieben werden.
Andere Immunsuppressiva
Um die Kortikoiddosis niedrig zu halten, werden mitunter
auch andere Immunsuppressiva verordnet. Drei randomi-
sierte, klinische Studien untersuchten die Wirksamkeit von
Methotrexat (Metoject® u.a.) bei der anfänglichen Behand-
lung der PMR. Die Ergebnisse mit dem Folsäureantagonisten
waren jedoch nicht eindeutig: Zwei Studien bestätigten eine
Wirksamkeit, wohingegen bei einer Studie nicht viel Korti-
koid eingespart wurde. Der Wirkstoff Azathioprin (Imurek®)
wurde ebenfalls in einer kleinen randomisierten, doppel-
blinden, kontrollierten Studie evaluiert. Daran nahmen
31 Patienten mit einer PMR, einer Arteriitis temporalis oder
mit beiden Erkrankungsformen teil. Der primäre Endpunkt
war die Prednisolondosis nach 52 Wochen. Am Ende dieses
Zeitraums betrug sie 1,9 mg in der Azathiopringruppe versus
4,2 mg in der Plazebogruppe. Die Einnahme von Azathioprin
war jedoch mit einer erhöhten Anzahl unerwünschter Wir-
kungen verbunden. Diese Ergebnisse sind ausserdem mit
Vorsicht zu geniessen: Es handelte sich um ein kleines
Kollektiv, und nur 65 Prozent der Teilnehmer beendeten die
Studie. Im Hinblick auf die Prednisolondosis lag zudem nur
nach 52 Wochen ein signifikanter Unterschied zwischen den
beiden Gruppen vor. Des Weiteren prüften erste Studien den
Nutzen des TNF-alpha-Inhibitors Infliximab (Remicade®).
Vielleicht ist dies ein möglicher Ansatz, vor allem bei Patien-
ten mit Rezidiven. Das langfristige Ziel ist eine mass-
geschneiderte Immuntherapie, doch dies setzt ein besseres
Verständnis der Pathogenese der Krankheit voraus.
❖
Monika Lenzer
Quelle: Kermani TA, Warrington KJ: Polymyalgia rheumatica. Lancet 2013; 381: 63–72. Interessenkonflikte: Beide Autoren gaben keine Interessenkonflikte an.
ARS MEDICI 5 ■ 2013
271