Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
NSAR und Herz-Kreislauf-Risiko:
NSAR mit erhöhtem Risiko werden trotzdem häufig verschrieben
Die Erfahrungen mit Rofecoxib (Vioxx®) haben eindrücklich gezeigt, dass gewisse nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) wegen eines erhöhten Risikos für Herzinfarkt und Stroke bei Patienten mit hohem Risiko für solche Ereignisse nicht eingesetzt werden sollten. Dieses Cave! betrifft gemäss Metaanalysen von randomisierten Studien und kontrollierten Beobachtungsstudien auch Diclofenac und Etoricoxib, die in solchen Untersuchungen im Vergleich zum Nichtgebrauch konsistent mit höheren kardiovaskulären Risiken einhergingen, wie Patricia McGettigan vom William Harvey Research Institute in London und David Henry vom Institute for Clinical Evaluative Sciences in Toronto in der OpenAccess-Plattform PLoS schreiben. Die Forscher untersuchten die Verkaufs-
zahlen in Ländern mit tiefen, mittleren und hohen Einkommen weltweit, und sie überprüften, ob Präparate mit diesen Wirkstoffen in Listen mit essenziellen Medikamenten aufgeführt sind. Die von ihnen beigezogenen Metaanalysen kamen zu weitgehend konstanten Erkenntnissen: Rofecoxib, aber auch Etoricoxib und Diclofenac trugen höhere kardiovaskuläre Risiken, welche diejenigen mit Naproxen überstiegen. Indometacin und Meloxicam waren mit mässig erhöhten relativen Risiken (RR) assoziiert, Celecoxib und Ibuprofen jedoch nur in hohen, im Alltag nicht gebräuchlichen Dosierungen. Naproxen erwies sich im Urteil der Autoren als NSAR mit dem geringsten kardiovaskulären Risiko. Die Realität der Verkaufszahlen dieser NSAR zeigt jedoch ein ganz anderes Bild. Diclofenac
war das mit Abstand populärste NSAR
mit einem Marktanteil, der fast jenem
der drei nächstplatzierten Wirkstoffe
Ibuprofen, Mefenaminsäure und Na-
proxen zusammen entsprach. Die von
den Autoren als «Hochrisiko-NSAR»
charakterisierten Diclofenac und Eto-
ricoxib zusammen machten in den
15 studierten Ländern rund ein Drittel
der Verkäufe aus, wobei zwischen Län-
dern mit tiefen und hohen Einkommen
kein Unterschied zu erkennen war. Das
aus kardiovaskulärer Sicht empfehlens-
wertere Naproxen erreichte demgegen-
über kaum 10 Prozent Marktanteil.
Keine der nationalen Listen essenzieller
Wirkstoffe führte mehr Rofecoxib an
(das ja seit Jahren aus dem Markt
genommen wurde). Hingegen nannten
74 dieser Listen Diclofenac, aber nur
27 Naproxen.
HB❖
McGettigan P, Henry D (2013) Use of Non-Steroidal Anti-Inflammatory Drugs That Elevate Cardiovascular Risk: An Examination of Sales and Essential Medicines Lists in Low-, Middle-, and High-Income Countries. PLoS Med 10(2): e1001388. doi:10.1371/journal.pmed.1001388.
Nationale Kohortenstudie aus Schweden:
Psychisch Kranke sind häufiger Opfer von Tötungsdelikten
Psychische Störungen sind gut etablierte Risikofaktoren für Suizid und Tod durch Unfälle. Tötungs- und andere Gewaltdelikte bei Menschen mit psychischen Störungen sind jahrzehntelang intensiv studiert worden. Viel weniger ist bekannt über das Risiko, dass solche Menschen selbst Opfer von
Alan Cleaver, Creative Commons
Tötungsdelikten werden. Dieser Frage ist eine Kohortenstudie aus Schweden nachgegangen. Bei einer Gesamtbevölkerung von 7,25 Millionen traten in 54,4 Millionen Personenjahren 615 gewaltsame Todesfälle auf. Die Mortalitätsraten pro 100 000 Personenjahre betrugen 2,8 unter Menschen mit psychischen Störungen und 1,1 in der Allgemeinbevölkerung. Nach Berücksichtigung soziodemografischer Störfaktoren waren psychische Erkrankungen mit einem 4,9-fach höheren Sterberisiko durch Tötung assoziiert (95%-Konfidenzintervall 4,0–6,0). Enge Assoziationen waren unabhängig von Alter, Geschlecht und anderen soziodemografischen Charakteristika erkennbar. Am höchsten war das Risiko umgebracht zu werden bei Personen mit Substanzgebrauch (9-fach), aber
auch deutlich erhöht bei Persönlich-
keitsstörungen (3,2-fach), Depression
(2,6-fach), Angststörungen (2,2-fach)
oder Schizophrenie (1,8-fach), wofür
gleichzeitiger Substanzgebrauch nicht
direkt verantwortlich schien. Als mög-
liche Ursachen für diese Beobachtun-
gen diskutieren die Autoren dennoch
den gehäuften Drogenmissbrauch bei
Personen mit psychischen Erkrankun-
gen, der bekanntermassen mit vermehr-
ter Gewalt assoziiert ist, ferner auch
engeren Kontakt mit anderen psychisch
kranken Menschen, ein geringeres Ge-
fahrenbewusstsein sowie die Gefahr,
zum Opfer zu werden, weil psychisch
Kranke von anderen vermehrt als
entweder gefährlich oder verletzlich
wahrgenommen werden. Die Autoren
fordern dazu auf, die Gefahr für
psychisch Kranke zum Opfer, sogar
zum Todesopfer, zu werden, ebenso
zu thematisieren wie die bekannteren
Risiken Suizid und Unfälle.
HB❖
Casey Crump Et al.: Mental disorders and vulnerability to homicidal death: Swedish nationwide cohort study. BMJ 2013;346:f557. doi: 10.1136/bmj.f557
238
ARS MEDICI 5 ■ 2013
Diabetes:
Erhöhtes Pankreatitisrisiko unter GLP-1-Mimetika
Heftige Debatten lösten der Physiologe Peter Butler und der Medizinstatistiker Michael Elashoff vor rund zwei Jahren aus, als sie auf ein möglicherweise erhöhtes Risiko für Pankreatitis und Pankreaskarzinom für Diabetiker unter GLP-1-Mimetika hinwiesen. Hauptkritikpunkt der Diabetologen war, dass sich die Aussagen von Butler und Elashoff auf Tierexperimente und die Nebenwirkungsdatenbank der FDA stützten, nicht aber auf kontrollierte, klinische Studien – dies insbesondere im Hinblick auf die Tatsache, dass das Pankreatitisrisiko bei Diabetikern generell erhöht ist.
Das Adverse-Events-Reporting-System der FDA ist in der Tat keine streng kontrollierte Datenbank, sondern jeder Arzt, der irgendeine vermeintliche oder echte Nebenwirkung findet, kann diese dort eintragen (oder auch nicht). Auch mangelt es an der systematischen Erfassung gängiger «confounding factors» wie beispielsweise Komorbiditäten oder Lebensstil. Statistische Aussagen sind auf dieser Datenbasis darum nur mit grosser Vorsicht zu interpretieren. Eine neue Studie bestätigt nun aufgrund etwas härterer Daten, dass die GLP-1Mimetika Exenatid und Sitagliptin mit einem erhöhten Pankreatitisrisiko bei Typ-2-Diabetikern assoziiert sind. Das Autorenteam um Sonal Singh und Jodi B. Segal von der John Hopkins-Universität in Baltimore wertete dafür die Daten von über einer Million Typ-2-Diabetiker eines grossen US-amerikanischen Krankenkassenverbunds aus, im Zeitraum von Februar 2005 bis Dezember 2008. Unter diesen Diabetikern wurden rund 3000 mit akuter Pankreatitis hospitalisiert,
was einmal mehr klarmacht, wie selten diese
Erkrankung ist und wie schwierig es ist,
valide statistische Daten zu generieren.
Nach Aussortieren der Fälle mit mangel-
hafter Datenbasis, Diabetesdiagnose erst
nach der Pankreatitis oder nicht passendem
Alter (es wurden nur Diabetiker im Alter
zwischen 18 und 64 Jahre in die Analyse
einbezogen) blieben noch 1269 Diabetiker
mit Pankreatitis übrig, die nun mit 1269 pas-
senden Diabetikern ohne Pankreatitis
«gematched» wurden. Allzu viele von ihnen
wurden damals, zwischen 2005 und 2008
noch nicht mit Exenatid oder Sitagliptin
behandelt, nämlich insgesamt 87 derjenigen
mit Pankreatitis und 58 derjenigen ohne
Pankreatitis.
Nach dem Herausrechnen diverser «con-
founding factors» sowie der Berücksichti-
gung des Metformingebrauchs, der in diesem
Zusammhang als protektiv gilt, zeigte sich,
dass das relative Risiko für akute Pankreatitis
unter GLP-1-basierter Therapie etwa doppelt
so hoch war. Im Detail lautete das statistische
Resultat: Bei GLP-1-Verordnung innert
der letzten 30 Tage vor der Hospitalisierung
mit akuter Pankreatitis beträgt das erhöhte
relative Risiko (Odds Ratio) 2,24 (95%-Kon-
fidenzintervall: 1,26–3,68), bei GLP-1-Ver-
ordnung innert der letzten zwei Jahre 2,01
(95%–KI: 1,37–3,18).
Die Autoren der neuen Studie raten dennoch
nicht vom Gebrauch dieser Medikamente ab.
Man solle jedoch das Pankreatitisrisiko nicht
vergessen und auf entsprechende Warn-
signale achten. Dazu gehören Übelkeit, Er-
brechen und Bauchschmerzen, die Anlass
geben sollten, die Pankreasenzyme zu kon-
trollieren.
Singh und seine Koautoren nutzten ihre
Datenauswertung auch, um Faktoren und
Erkrankungen aufzulisten, die bei Diabeti-
kern mit Pankreatitis häufiger vorkommen
als bei Diabetikern ohne Pankreatitis:
erhöhte Triyglyzeride, Alkoholgebrauch,
Gallensteine, Rauchen, Adipositas, Pan-
kreaskrebs, Tumoren allgemein sowie zysti-
sche Fibrose.
RBO❖
Singh S et al.: Glucagonlike Peptide 1-Based Therapies and Risk of Hospitalization for Acute Pancreatitis in Type 2 Diabetes Mellitus. A Population-Based Matched Case-Control Study. JAMA Intern Med 2013; published online February 25, 2013. doi:10.1001/jamainternmed.2013.2720.
RÜCKSPIEGEL
Vor 10 Jahren
Telemedizin
Die Diskussion um die Telemedizin und ihre sich später als mehr oder minder zutreffend erweisenden Heils-
versprechungen nimmt in der öffentlichen Wahrnehmung grossen Raum ein. Auch die Schweizer Akademie
der Medizinischen Wissenschaften wählt Telemedizin zum Titelthema ihres ersten Bulletins im Jahr 2003.
Taufrisch ist die Debatte damals nicht mehr. So wurde bereits Jahre zuvor das erste ärztliche Callcenter der Schweiz gegründet. Während sich diese Callcenter mit der Zeit immer besser etablieren, geht es in anderen Bereichen der Telemedizin weniger rasch voran. Eher frustierend ist die Zwischenbilanz 2009, wiederum in einem SAMW-Bulletin: «Die technischen Lösungen sind vorhanden. Trotzdem geht es – wenn überhaupt – nur sehr langsam voran.»
Vor 50 Jahren
Kuren im Winter
«Eine Kur im Winter zählt so viel wie zwei Kuren in anderer Jahreszeit», zitiert der Journalist Manfred Sack einen Kurarzt in seinem launigen Bericht über das Kuren in Bad Nauheim, welcher im Februar in der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit» erscheint. Aussdem ist’s im Winter ruhiger, und Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe ist das Kurkonzept der 1960er-Jahre. Bewegung wurde hingegen als eher abträglich für die Rekonvaleszenz der Kurbedürftigen eingestuft, was sich auch in der örtlichen Taxiwerbung niederschlägt: «Schone dein Herz, fahr Taxi – vom Bad, zum Bad, zum Arzt, zum Hotel», so mahnte damals eine Werbetafel am Bad Nauheimer Taxistand.
Vor 100 Jahren
Lambarene
Der spätere Friedensnobel-
preisträger Albert Schweit-
zer verlässt Ende März 1913
Europa und gründet gemein-
sam mit seiner Frau Helen
in Lambarene im heutigen
Gabun (damals Französisch-
Äquatorialafrika) das welt-
bekannte Urwaldhospital.
Nach Auskunft des deut-
schen Albert-Schweitzer-
Zentrums leiste das Spital noch heute mit 7 Ärzten und
etwa 80 medizinischen Mitarbeitern einen wesentlichen
Beitrag zum Gesundheitswesen in Gabun (Foto: Bundes-
archiv Deutschland).
RBO❖