Transkript
FORUM
Wenn Hausärzte forschen oder Von Notifikationen, Ethikkommissionen, GCP und HFG
Wie man hausärztliche Forschung verhindert
«Swissmedic, Schweizerisches Heilmittelinstitut, hat gegen Sie und unbekannte Täterschaft ein Verwaltungsstrafverfahren wegen Verdachts auf Widerhandlungen gegen das Heilmittelgesetz (Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte HMG; SR 812.21) als Beschuldigte eröffnet. Es besteht der Verdacht, dass Sie einen klinischen Versuch (‹Oral vitamin D – is it necessary to be taken with meals containing fat?›) mit einem Arzneimittel durchgeführt haben, ohne die entsprechende Notifikation beim Institut eingeholt zu haben.» So stand es nüchtern in einem Schreiben der Swissmedic, das Dr. med. Markus Gnädinger, Facharzt FMH Innere Medizin, am 5. Dezember 2012 ins Haus flatterte.
in Lausanne als Poster präsentiert und gewann den zweiten Preis. Doch damit war die Sache für die Thurgauer Landärzte nicht gelaufen.
… was hätte geschehen sollen, aber … Für ein erfolgreiches Bewilligungsverfahren von Medikamentenstudien sind hierzulande insbesondere vier wichtige Hürden zu überwinden: ❖ die Swissmedic-Notifikation ❖ ein Good-Clinical-Practice-(GCP-)Kurs für alle Studienärzte ❖ eine Probandenversicherung ❖ die Bewilligung der Ethikkommission (EK) in allen Kanto-
nen, in denen der Versuch stattfindet.
Beschuldigte Hausärzte
Damit war der vorläufige Höhepunkt einer Affäre erreicht, die ty-
Markus Gnädinger, Frank Bossert, Felix pisch ist für den Hang öffentlicher
Eichmann, Bruno Haug, Martin Krüsi, Markus Nadig, Stefan Pazeller, Theo Ringli, Martin Ruppli, Michel Salzgeber, Ivo Schmid, Roman Schöb, Bernhard Wälti, Markus Zeller
Institute zu überbordenden Regulierungen. Zu Regulierungen, die flächendeckend greifen und keine Rücksicht nehmen auf spezielle Umstände. Die, mit andern Worten,
Qualitätszirkel Oberthurgau dem gesunden Menschenverstand
Korrespondenzadresse:
längst abgeschworen haben. Markus
Markus Gnädinger
Gnädinger, der Leiter einer Arbeits-
Facharzt für Innere Medizin Birkenweg 8, 9323 Steinach Tel. 071-446 04 64, Fax 071-446 34 11 E-Mail: markus.gnaedinger@hin.ch
gruppe, die gewillt war, Forschung in der Hausarztpraxis zu betreiben – und zwar nicht Forschung über Hausärztinnen und Hausärzte, son-
dern durch sie –, hat den zugrunde
liegenden Sachverhalt eindrücklich in einem Beitrag in der
SAeZ beschrieben: «Die Kraft, die Böses will, doch Gutes
schafft» (Schweiz Med Forum 2012; 12[43]: 841–843).
Was geschah, … Die Fakten sind bekannt. Oder auch noch nicht. Dann wird es Zeit, sie kennenzulernen. Im Winter 2011/12 kam eine Gruppe von Hausärzten, zusammengeschlossen im Qualitätszirkel Oberthurgau, auf die Idee, einen klinischen Versuch zur oralen Bioverfügbarkeit von Vitamin-D-Supplementen durchzuführen. 13 Hausärzte nahmen in einem Selbstversuch im Abstand von 3 Monaten 2-mal 60 000 IE Cholecalciferol (Vitamin D Wild, ölige Tropfen) ein, einmal nüchtern und das andere Mal nach einer fetthaltigen Mahlzeit, und massen den Anstieg von 25-Hydroxyvitamin D im Serum nach 8 Tagen. Die Studie zeigte eine grosse interindividuelle Variabilität und eine mögliche geringfügige Nahrungsfettabhängigkeit. Dieses Pilotprojekt wurde Ende August am Family-Docs-Kongress
Die Notifikation bedingt die Kenntnis von Dutzenden von Vorschriften auf Hunderten von Seiten. Für die Notifikation müssen der verantwortliche Studienleiter und alle beteiligten Forscher in den Studienzentren den Nachweis von GCPKenntnissen erbringen, was in der Regel bedeutet, einen diesbezüglichen Kurs absolviert zu haben. Für einen klinischen Versuch muss eine Probandenversicherung abgeschlossen werden; Kosten im Jahr 2004: 35 Franken pro Proband. Für einen multizentrischen Versuch, wie das in der Hausarztmedizin häufig der Fall ist, muss jede kantonale Ethikkommission mit teilnehmenden Ärzten in deren Gebiet angeschrieben werden. Da man bei der Ausschreibung eines Versuchs häufig nicht weiss, woher die teilnehmenden Ärzte kommen, heisst das in praxi, dass alle Ethikkommissionen der Schweiz und des Fürstentums Liechtenstein berücksichtigt werden müssen.
… nicht geschah, und … Nur, die Thurgauer Forscher missachteten alle diese Vorschriften, und zwar bewusst. Sie gingen sogar noch weiter und zeigten sich in der Folge selber an, explizit, um die Öffentlichkeit und die Verantwortlichen im Bundesamt für Gesundheit auf die wichtige Problematik der Studienregulation hinzuweisen, dass klinische Forschung in der Hausarztmedizin zwar theoretisch möglich ist, sofern sie sich auf den Umgang mit Medikamenten bezieht, jedoch praktisch nicht umzusetzen ist.
… was für Folgen das hatte
Die Selbstanzeige der Oberthurgauer Kollegen führte dazu,
dass von der Swissmedic ein «Verwaltungsstrafverfahren
wegen Meldepflichtverletzung bei einem klinischem Versuch»
gegen sie angestrengt wurde. Den Kollegen drohen Bussen
und theoretisch sogar Gefängnis. Grund genug, sich mit dem
Verantwortlichen der Gruppe, Dr. med. Markus Gnädinger,
zu unterhalten.
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Richard Altorfer
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INTERVIEW
Ceci n’est pas une étude*
Interview mit einem mutmasslichen hausärztlichen Forschungsverbrecher
ARS MEDICI: Markus Gnädinger, immer noch auf freiem Fuss! Wie fühlt man sich da so? Dr. med. Markus Gnädinger: Danke, ich schlafe gut und fühle mich wohl!
ARS MEDICI: Trotz der Strafsache* mit Swissmedic? Markus Gnädinger: Natürlich lässt es einen nicht kalt, wenn man plötzlich auf der Anklagebank sitzt.
ARS MEDICI: Wie um Himmels willen kommt man als anständiger Doktor ohne Hang zum Verbrechen und ohne jegliche kriminelle Energie zum Status als Verdächtigter in einer Strafsache? Markus Gnädinger: Die Vorgeschichte mag erstaunen. Nach einer Literatursuche stellte ich fest, dass man sehr wenig über die Nahrungsabhängigkeit der intestinalen Vitamin-DAbsorption weiss. Bei einigen Patienten mit vermutetem Vitamin-D-Mangel wollte ich deshalb eine Studie zu dieser Fragestellung machen.
ARS MEDICI: Soll wohl heissen: Es kam nicht dazu. Warum nur hast du dein Vorhaben nicht durchgezogen? Markus Gnädinger: Um eine Studie mit Patienten durchzuführen, braucht man eine Bewilligung der Ethikkommission. Und als ich dort anfragte, erhielt ich den Bescheid, dass für eine Studie die Notifikation bei unserem Heilmittelinstitut Swissmedic notwendig sei.
ARS MEDICI: Bewilligung, Notifikation. Zunächst: Was ist unter Notifikation zu verstehen? Und: Warum ist das ein Problem? Markus Gnädinger: Es stimmt: Das Formular, das es auszufüllen gilt, ist nur kurz. Aber um es ausfüllen zu können, muss man Hunderte von Seiten lesen. Zudem benötigen alle Studienärzte einen Good-Clinical Practice-Kurs, und es wird für alle Teilnehmer des Versuchs eine Studienhaftpflichtversicherung verlangt.
ARS MEDICI: Das tönt schon aufwendiger. Wie ging es dann weiter? Markus Gnädinger: Wir waren etwas naiv. Ich erkundigte mich bei der Ethikkommission, wie es denn wäre, wenn wir den Versuch an uns Hausärzten selber ausführen würden. Leider war der Bescheid wiederum negativ: Auch dann ist die Notifikation unerlässlich. Halb im Spass, halb im Ernst diskutierten wir die Sache im Qualitätszirkel und beschlossen, die
Publikation der «kriminellen» Studie
Nach erfolglosen Versuchen bei diversen Originalzeitschriften («Swiss Medical Weekly, «European Journal of Clinical Pharmacology», «International Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism») wurde die Studie des Thurgauer Qualitätszirkels nun bei Webmed Central platziert. Sie finden den Artikel unter: www.webmedcentral.com/article_view/4023.
Studie an uns selber durchzuführen – ohne Rücksicht auf die gesetzlichen Hürden. Und so nahmen im letzten Winter 13 Hausärzte im Abstand von 3 Monaten je 60 000 Einheiten Vitamin D (Wild, ölige Tropfen) ein, das eine Mal nüchtern, das andere Mal nach einer fetthaltigen Nahrung, und massen den Anstieg von 25-Hydroxyvitamin D im Serum. Die Arbeit wurde im August am Family-Doc-Kongress in Lausanne als Poster präsentiert und erhielt den zweiten Preis von 3000 Franken. Ende Oktober erwähnte ich diesen Umstand in einem Artikel im «Schweizerischen Medizin Forum», worauf mir kurz danach eine Strafanzeige von Swissmedic ins Haus flatterte.
ARS MEDICI: Hat das konkrete Folgen für dich? Markus Gnädinger: Ja. Für mich und meine am Versuch teilnehmenden Kollegen bedeutet das Umtriebe und eine Busse von maximal 5000 Franken und einen eventuellen Strafregistereintrag.
ARS MEDICI: Ich gehe mal davon aus, dass du weder ein Heisssporn noch generell schlecht informiert bist, und auch als Masochist bist du sicher nicht bekannt. Was hat dich beziehungsweise euch dazu bewogen, euch derart zu exponieren und sogar eine Verurteilung zu riskieren? Markus Gnädinger: Wir wussten ja, was auf uns zukommen könnte, und haben uns mit dem Text im «Medizin Forum» recht weit aus dem Fester gelehnt! Ganz unerwartet ist diese Strafanzeige deshalb nicht, aber sie kommt uns auch nicht ungelegen. Sie gibt uns die Möglichkeit, die Hindernisse auf dem Weg zur Wissensgewinnung aufzuzeigen. Wir möchten insbesondere mit dem aktuell in der «Ärztezeitung» erschienenen Text die Schweizer Ärzteschaft wachrütteln und auf das Verordnungsrecht zum Humanforschungsgesetz Einfluss nehmen. Bis anhin sieht die Verordnung vor, dass risikoarme Medikamentenstudien neu auch ohne Swissmedic-Notifikation stattfinden und abschliessend von einer Ethikkommission beurteilt werden können. Das finde ich sehr begrüssenswert. Nur hat die Sache leider den Haken, dass lediglich bereits etablierte Indikationen und Dosierungsschemata in diese Kategorie fallen. Die Gewinnung neuen Wissens mit altbewährten Wirkstoffen und alle Off-label-Behandlungen würden in der aktuell vorgeschlagenen Fassung weiterhin aussen vor bleiben. Unsere Studie verwendete ein für die orale Vitamin-DSupplementation zugelassenes Medikament, jedoch mit intermittierender Applikation statt der vorgesehenen täglichen Einnahme. Ergo wäre unsere Studie auch mit dem neuen Verordnungsrecht notifikationspflichtig gewesen. Unsere Aktion hatte und hat mithin den Zweck, die öffentliche Meinung in Richtung auf ein liberaleres Verordnungsrecht hin zu beeinflussen.
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INTERVIEW
ARS MEDICI: Jetzt mal ehrlich: Ist das Problem nicht etwas an den Haaren herbeigezogen? Markus Gnädinger: Wenn ich die Reaktionen sichte, die ich auf den provokativen Artikel im «Medizin Forum» erhielt, so muss ich leider feststellen, dass ein echtes Problem besteht. In einer Studie zur Anbehandlung von Harnwegsinfekten mit nichtsteroidalen Entzündungshemmern anstelle einer sofortigen Antibiotikagabe mussten alle Studienärzte einen Good-Clinical-Practice-Kurs absolvieren, um teilnehmen zu können. In einer anderen Studie zu einem Score-gestützten Schema zur Neueinstellung einer oralen Antikoagulation wollte die Swissmedic die Chargennummern aller verwendeten Macourmar®-Packungen mitgeteilt erhalten. Tatsache ist, dass die meisten Projekte an diesem administrativen Wildwuchs scheitern und gar nicht durchgeführt werden. Und das wohlgemerkt, ohne dass auch nur der geringste Nutzen aus diesen Vorschriften erkennbar würde. Hierzulande werden Medikamentenstudien von Pharmafirmen mit patentgeschützten Präparaten gemacht. Studien an Präparaten, die den Patentschutz verloren haben, finden nicht statt, und damit Punktum!
ARS MEDICI: Letztlich arbeitet ihr also darauf hin, Forschung in der Allgemeinmedizin von unnötigem administrativem Ballast zu befreien. Ist hausärztliche Forschung denn überhaupt erwünscht und nötig, und wird sie überhaupt geschätzt? Anders gefragt: Was bedeutet Forschung in der Hausarztmedizin? Markus Gnädinger: Drei Säulen sind es, auf denen unser Beruf basiert: die Klinik, die Lehre und die Forschung. Wie du weisst, wird an unseren klinischen Möglichkeiten eifrig gesägt: Hochdosisaufnahmen, Belastungstests, Laborbestimmungen, Medikamentenabgabe, all das ist gefährdet. Diese Entwicklung mündet in eine Deprofessionalisierung der Hausarztmedizin. Immerhin hat sich das zweite Standbein, die Lehre mit dem Studentenunterricht und den Hausarztpraktika der Assistenten, verbessert, und auch die hausärztlichen Qualitätszirkel florieren. Nur die Forschung in der Hausarztmedizin führt ein Mauerblümchendasein: Meist
sind wir Hausärzte selber die Versuchskaninchen, die mittels Fortbildungsmassnahmen dazu gebracht werden sollen, Kenntnisse zu verbessern oder Verhalten zu ändern, was dann in Studien gemessen wird.
ARS MEDICI: Was hältst du denn von den in den Praxen gängigen sogenannten «Anwendungsbeobachtungen»? Markus Gnädinger: Meist sind das keine Projekte mit einer echten wissenschaftlichen Fragestellung; sie dienen nur der besseren Verbreitung eines bestimmten Präparats in der Praxis. Ich beteilige mich daran grundsätzlich nicht.
ARS MEDICI: Was hältst du von Expertenpanels, an die Hausärzte gegen Entschädigung eingeladen werden? Markus Gnädinger: Auch hier handelt es sich in der Regel um ökonomisch motivierte Anlässe. Die eingeladenen Hausärzte sollen durch den Kontakt mit gekauften Experten dazu gebracht werden, einer bestimmten Problematik mehr Aufmerksamkeit zu schenken und die «richtigen» Präparate zu verschreiben. Übrigens rät die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften in ihrer letzten Mitteilung klar von der Teilnahme ab.
ARS MEDICI: In deinem Artikel in der «Ärztezeitung» beschreibst du eine Studie, die nun, solange das Verfahren gegen euch läuft, nicht stattfinden kann. Was passiert, wenn einige Kolleginnen und Kollegen beschliessen würden, sich «wild» an diesem Projekt zu beteiligen? Markus Gnädinger: Si tacuisses! Diese Antwort ist mir keinen Goldbarren und keinen Verlust der Praxisbewilligung wert!
ARS MEDICI: Danke für das Gespräch!
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Das Gespräch führte Richard Altorfer.
* Siehe auch den gleichnamigen Artikel, erschienen in der Ärztezeitung: Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2013; 94: 6 sowie die zuvor schon erschienenen Beiträge in der SAeZ und im Swiss Medical Forum, vor allem SMF 2012; 12(43): 841–842 und SMF 2012; 12(43): 842–843.
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