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Berichte, Studien, Innovationen
ARGUS PHARMAKOTHERAPIE
Multiple Sklerose: Welche Patienten profitieren von Alemtuzumab?
In Phase-III-Studien war Alemtuzumab im Vergleich zu Interferon-β1a in frühen Stadien der multiplen Sklerose mit einer Reduzierung der Schubrate verbunden. In fortgeschrittenen Stadien wurde zusätzlich eine signifikante Verringerung der Behinderungsprogression beobachtet.
LANCET
Der humane monoklonale Antikörper Alemtuzumab ist zur Behandlung von Leukämie zugelassen, wird aber seit einigen Jahren auch off label zur Behandlung von multipler Sklerose (MS) angewendet (1). In einer Phase-II-Studie reduzierte Alemtuzumab im Vergleich zu Interferon-1a die Krankheitsaktivität bei zuvor noch nicht behandelten Patienten mit schubförmig remittierender MS (RRMS). Die Überlegenheit von Alemtuzumab blieb in einer offenen Follow-up-Studie über 5 weitere Jahre bestehen (2). Aufgrund dieser vielversprechenden Ergebnisse wurden die Wirksamkeit und die Sicherheit von Alemtuzumab nun auch in zwei Phase-III-Studien über einen Zeitraum von 2 Jahren untersucht. In beiden Studien erhielten Patienten mit RRMS randomisiert Alemtuzumab (intravenös 12 mg 1-mal täglich über 5 Tage zu Studienbeginn und 1-mal täglich über 3 Tage nach 12 Monaten) oder Interferon1a (subkutan 44 µg 3-mal/Woche).
CARE MS 1 – Schubrate reduziert, Behinderungsprogression nicht An der Studie CARE MS 1 (Comparison of Alemtuzumab and Rebif Efficacy in Multiple Sclerosis) nahmen 581 zuvor noch nicht behandelte Patienten im Alter von 18 bis 50 Jahren mit RRMS in frühem Stadium und mit geringfügig ausgeprägter Behinderung teil. In CARE MS 1 wurden unter Alemtuzumab im Vergleich zu Interferon1a eine signifikante Reduzierung der Schubrate (um 54,9%) sowie eine Verringerung der im MRT sichtbaren Läsionsaktivität und der Hirnathrophie beobachtet. Im Hinblick auf das Fortschreiten der Behinderung stellten die Wissenschaftler jedoch keine signifikanten Unterschiede zwischen
beiden Gruppen (Interferon-1a: 11% vs. Alemtuzumab: 8%) fest (2).
CARE MS 2 – Schubrate und Behinderungsprogression reduziert In der Studie CARE MS 2 wurde die Wirksamkeit von Alemtuzumab im Vergleich zu Interferon-1a bei 840 Patienten mit RRMS untersucht, bei denen trotz der Behandlung mit einem zugelassenen Interferon oder Glatiramer Krankheitsschübe aufgetreten waren. Diese Patienten waren bereits länger an RRMS erkrankt als die Teilnehmer der Studie CARE MS 1 und litten zudem unter einer ausgeprägteren Behinderung. In CARE MS 2 zeigten sich unter Alemtuzumab im Vergleich zu Interferon-1a ebenfalls eine signifikante Reduzierung der Schubrate (um 49,4%) sowie eine Verringerung der im MRT sichtbaren Läsionsaktivität und der Hirnatrophie. Bei diesen Patienten wurde jedoch zusätzlich eine signifikante Reduzierung des Risikos für eine anhaltende Akkumulation der Behinderung (um 42%) im Vergleich zu Interferon-1a beobachtet (3).
Sicherheitsprofil von Alemtuzumab erwartungsgemäss In beiden Phase-III-Studien war das Sicherheitsprofil konsistent mit älteren Ergebnissen zu Alemtuzumab bei MS. Die häufigsten unerwünschten Ereignisse waren infusionsassoziierte Reaktionen und Infektionen (v.a. Herpes- und Harnwegsinfektionen), die jedoch meist nur leicht bis mittelgradig ausgeprägt waren. Bei einigen Patienten entwickelten sich behandlungsbedingte Autoimmunerkrankungen, die vorwiegend die Schilddrüse betrafen. In seltenen Fällen wurden auch Immunthrombozytopenien und papilläre Schilddrüsenkarzinome beobachtet (3, 4).
Behandlungsentscheidung noch schwierig In einem Kommentar diskutieren Till Spenger und Ludwig Kappos vom Universitätsklinikum Basel die Studienergebnisse im Hinblick auf Behandlungsentscheidungen im Alltag. In beiden Studien wurde eine signifikante Überlegenheit von Alemtuzumab bezüglich der Schubhäufigkeit sowie der Läsionen im
Merksätze
• Alemtuzumab ist im Vergleich zu Interferon-β1a mit einer Reduzierung der Schubrate, der Läsionsaktivität und der Hirnatrophie verbunden.
• In fortgeschrittenen MS-Stadien wurde zudem ein signifikant reduziertes Risiko für eine Behinderungsprogression im Vergleich zu Interferon-β1a beobachtet.
MRT und der Hirnatrophie beobachtet. Die fehlende positive Auswirkung auf die Behinderungsprogression in CARE MS 1 könnte mit einem unerwartet geringen Fortschreiten der Behinderung unter Interferon-1a zusammenhängen, weist nach Ansicht der Kommentatoren aber auch darauf hin, dass für frühe MS-Stadien noch keine Kriterien zur Auswahl von Patienten vorliegen, bei denen zur Prävention von Behinderungen eine intensivere Therapie erforderlich ist. Für MS-Patienten mit therapierefraktärer Erkrankung könnte Alemtuzumab jedoch eine geeignete Behandlungsoption darstellen. Bei ihnen sollte das Verhältnis von Nutzen und Risiken unter Alemtuzumab mit dem von Natalizumab oder Fingolimod verglichen werden, die derzeit ebenfalls als Second-Line-Optionen zur Behandlung der RRMS zugelassen sind, schreiben die Wissenschaftler. Zudem sind ihrer Ansicht nach ein langfristiges Follow-up des Phase-III-Programms sowie gross angelegte systematische Kohortenstudien mit unterschiedlich vorbehandelten und noch nicht behandelten MS-Patienten erforderlich, um Behandlungsentscheidungen auf einer besseren Informationsbasis treffen zu können (4). ❖
Petra Stölting
Quellen: 1. Editorial: Alemtuzumab for multiple sclerosis. Lancet 2012;
DOI: 10.1016/S0140-6736(12)61776-0. 2. Cohen JA et al.: Alemtuzumab versus interferon beta 1a as
first-line treatment for patients with relapsing-remitting multiple sclerosis: a randomised controlled phase 3 trial. Lancet 2012; DOI: 10.1016/S0140-6736(12)61769-3. 3. Coles AJ et al.: Alemtuzumab for patients with relapsing-remitting multiple sclerosis after disease-modifying therapy: a randomised controlled phase 3 trial. Lancet 2012; DOI: 10.1016/S0140-6736(12)61768-1. 4. Sprenger T, Kappos L: Alemtuzumab for multiple sclerosis: who and when to treat? Lancet 2012; DOI: 10.1016/S01406736(12)61859-5.
Interessenkonflikte: Zu 2. und 3.: Die Autoren haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten. Zu 4.: Einer der Autoren und das Universitätsklinikum Basel haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten.
ARS MEDICI 4 ■ 2013
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