Transkript
INTERVIEW
«Jugendliche und Erwachsene gegen Pertussis impfen!»
Interview mit Prof. Dr. med. Ulrich Heininger, Basel
Zur Person
Prof. Dr. med. Ulrich Heininger, Leitender Arzt an der Abteilung für Infektiologie und Vakzinologie des Universitäts-Kinderspitals beider Basel, ist Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF).
publizierten Studie nach fünf Jahren bereits mit einem Rückgang auf 48 Prozent zu rechnen. Wenn es zu Beginn gar nur 85 Prozent Impfschutz wären, dann wäre nach fünf Jahren praktisch gar kein Schutz mehr da. Der wahre Wert wird wahrscheinlich irgendwo in der Mitte liegen. Angesichts dieser neuen Daten hat die EKIF jetzt im Impfplan 2013 die sechste Standarddosis Pertussis für Jugendliche eingeführt. Die Impfung für Erwachsene im Alter von 25 Jahren wird somit zur chronologisch siebten Pertussisimpfdosis im Schweizer Impfplan.
ARS MEDICI: Warum ist es wichtig, Jugendliche und Erwachsene
gegen die Kinderkrankheit Pertussis zu impfen?
Heininger: Es ist eine verbreitete, aber falsche Ansicht, Pertus-
sis sei ausschliesslich eine Kinderkrankheit – in Wahrheit be-
trifft sie Personen jeden Alters. Unsere Impfstrategie für die
Seit gut einem Jahr sollen auch Erwachsene gegen Pertussis geimpft werden, insbesondere wenn sie Kontakt mit Säuglingen haben. Die neue Regelung wurde damals zwar allgemein begrüsst, im Detail jedoch auch kritisiert, unter
Erwachsenen zielt in allererster Linie darauf ab, junge Säuglinge vor Pertussis zu schützen. Der typische Keuchhusten ist nur die Spitze des Eisbergs. Auch oligosymptomatische oder gar asymptomatische Personen oder Patienten mit anhalten-
anderem, weil die Auffrischimpfung von Jugendlichen im Alter von 11 bis dem Husten können mit Bordetella pertussis, dem Pertussis-
15 Jahren nicht ausdrücklich empfohlen wurde, sofern diese als Kinder alle fünf erreger, infiziert sein und ihn deshalb auch übertragen. Wir
vorgesehenen Pertussisimpfungen erhalten hatten. Angesichts neuer Daten hat die EKIF (Eidgenössiche Kommission für Impffragen) im Schweizer Impfplan 2013 eine sechste Standarddosis Pertussis für Jugendliche eingeführt.
wissen, dass gut die Hälfte der Säuglinge und Kleinkinder mit Keuchhusten von ihren Eltern oder Geschwistern angesteckt wurden. 89 Prozent der hospitalisierten Patienten mit Pertussis in der Schweiz sind Säuglinge. Wir sollten also nicht nur
Kinder, sondern auch die den Säugling umgebenden Erwach-
senen gegen Pertussis impfen, um einen möglichst guten
ARS MEDICI: Herr Professor Heininger, viele Kollegen in der Pra- Schutz zu erreichen.
xis waren verunsichert, weil die EKIF Ende 2011 die Pertussis-
impfung nur für Erwachsene von 25 bis 29 Jahren empfahl, nicht ARS MEDICI: Wenn das so ist, könnte man die Pertussisimpfung
aber für Jugendliche, wenn diese als Kinder alle fünf Impfdosen ja gleich für alle Erwachsenen empfehlen, bei denen eine Diph-
«Erwachsene gegen Pertussis zu impfen, zielt in allererster Linie
therie-Tetanus-Auffrischung fällig ist. Warum wird das nicht gemacht?
darauf ab, junge Säuglinge zu schützen.»
Heininger: Das ist eine gute und berechtigte Frage.
Hier spielen letztlich Überzeugungskraft und
erhalten hatten. Was empfiehlt die EKIF heute?
Kosten eine Rolle. Ich persönlich halte es für eine gute Idee,
Prof. Dr. med. Ulrich Heininger: Wenn jemand jünger als 25 Jahre alle Erwachsenen gegen Pertussis zu impfen. Entweder so-
oder älter als 29 Jahre ist und regelmässig Kontakt zu Säug- fort, wenn Kontakt mit Säuglingen zu erwarten ist, oder rou-
lingen jünger als sechs Monate hat oder aktiven Kinder- tinemässig, wenn die letzte Diphtherie-Tetanus-Impfung län-
wunsch, dann soll man jederzeit gegen Pertussis impfen. So ger als 20 Jahre zurückliegt und sowieso aufgefrischt werden
steht es auch ausdrücklich in den neuen Empfehlungen. In muss; bei bestimmten Personen, wie beispielsweise Immun-
der Tat gibt es gute Gründe, dass eine weitere, sechste Imp- supprimierten oder über 65-Jährigen, beträgt das Intervall
fung im Jugendalter sinnvoll ist. So zeigen Studiendaten, die nur zehn Jahre. Oder wenn – was gar nicht so selten vor-
nach der EKIF-Empfehlung Anfang 2012 publiziert wurden, kommt – der Impfstatus unbekannt ist. Es gibt Länder, in
dass der Impfschutz gegen Pertussis bereits fünf Jahre nach denen das so empfohlen wird, beispielsweise in Frankreich,
der Impfung erheblich zurückgeht. Nehmen wir einmal an, Deutschland, den USA und Australien. Ob das einmal zu
dass der Impfschutz gegen Pertussis nach den fünf Impfungen einer offiziellen EKIF-Empfehlung wird, vermag ich nicht ab-
im Kindesalter 90 Prozent beträgt, dann wäre nach der 2012 zuschätzen.
ARS MEDICI 4 ■ 2013
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INTERVIEW
Aktuelle Impfempfehlung der EKIF für Diphtherie, Tetanus und Pertussis
Neu wird im Schweizer Impfplan 2013 empfohlen, dass Jugendliche im Alter von 11 bis 15 Jahren standardmässig eine sechste Pertussisimpfdosis erhalten sollen.
EKIF und BAG empfehlen eine einmalige Impfung gegen Pertussis (pa) für alle Erwachsenen im Alter von 25 bis 29 Jahren zum Zeitpunkt der dT-Impfung mit einem dTpa-Kombinationsimpfstoff. Diese Empfehlung gilt darüber hinaus unabhängig vom Alter für alle Erwachsenen und Jugendlichen, welche regelmässigen Kontakt mit Säuglingen unter 6 Monaten haben (Risikogruppe) und in den letzten 10 Jahren nicht gegen diese Krankheit geimpft wurden (eine Impfung im Erwachsenenalter). In dieser Situation soll die Impfung gegen Pertussis so bald als möglich durchgeführt werden.
Bei Erwachsenen ist das Intervall zwischen den Auffrischimpfungen gegen Diphtherie (d) und Tetanus (T) im Alter von 25 bis 64 Jahren im Gegensatz zu früher von 10 auf 20 Jahre verlängert worden (ausser bei Immunsupprimierten und über 65-Jährigen). Die dT-Auffrischimpfungen sollen demnach im Alter von 25, 45 und 65 Jahren und anschliessend unverändert alle 10 Jahre erfolgen.
Die Kosten für die dT-/dTpa-Auffrischimpfungen/Primovakzination von Erwachsenen werden
gemäss diesen Empfehlungen von der obligatorischen Krankenversicherung übernommen.
Die Kosten für zusätzliche Impfungen, welche bei Reisenden indiziert sind, müssen durch diese
selber getragen werden. Gegebenenfalls können diese Kosten durch eine Zusatzversicherung
abgedeckt sein.
RBO
ARS MEDICI: Und wie oft müsste man dann die Erwachsenen gegen Pertussis impfen? Heininger: Ab dem Alter von 11 Jahren genügt grundsätzlich eine einzige Pertussisimpfdosis! Damit wird ein ausreichender Schutz gegen Pertussis gewährleistet, unabhängig von der
Tabelle 1:
Impfschema für die dT-/dTpa-Auffrischimpfungen bei Erwachsenen in Abhängigkeit von Alter, dT-Impfstatus und Intervall seit letzter Tetanusimpfung
16–24 Jahre
Intervall seit letzter Tetanusimpfung (T)
< 10 Jahre ≥10 Jahre vollständig geimpft gegen keine bis zum Diphtherie/Tetanus (dT) 25. Geburtstag unvollständig geimpft 1–3 x dT* gegen Diphtherie/Tetanus (dT) 25–29 Jahre < 2 Jahre ≥ 2 Jahre keine 1 x dTpa 1 x dTpa/ 0–2 x dT 30–64 Jahre < 20 Jahre ≥ 20 Jahre keine 1 x dT* 1–3 x dT* ≥ 65 Jahre < 10 Jahre ≥ 10 Jahre keine 1 x dT* 1–3 x dT* *Prinzipiell gilt: 1 x dTpa unabhängig vom Alter bei regelmässigem Kontakt mit Säuglingen unter 6 Monaten und wenn noch keine Impfung im Erwachsenenalter erfolgte und die letzte Pertussisimpfung (pa) mindestens 10 Jahre zurückliegt. Das minimale Intervall seit der letzten Tetanusimpfung beträgt 4 Wochen. Impfstoffe für Jugendliche und Erwachsene in der Schweiz: T: Tetanol pur®; dT: Td-pur®; dT-IPV (mit Polio): Revaxis®, Td-Virelon®; dTpa: Boostrix®; dTpa-IPV: BoostrixPolio®. Tabelle 2: Empfehlung 2013 für Pertussisimpfungen im Kindes- und Jugendalter Dosis 1 bis 4 in den ersten 24 Lebensmonaten Dosis 1: 2 Monate Dosis 3: 6 Monate Dosis 2: 4 Monate Dosis 4: im Alter von 15 bis 24 Monaten Impfstoff: DTPa-IPV-Hib-HepB (Infanrix® hexa) oder DTPa-IPV-Hib (Infanrix® DTPa-IPV+Hib oder Pentavac®) Dosis 5 im Alter von 4 bis 7 Jahren Impfstoff: DTPa-IPV (Infanrix® DTPa-IPV oder Tetravac®) Dosis 6 im Alter von 11 bis 15 Jahren Impfstoff: dTpa (Boostrix®) oder dTpa-IPV (Boostrix-IPV®) Quelle: Zusammengefasst nach Schweizer Impfplan 2013. Anzahl früherer Pertussisimpfungen – also auch dann, wenn es die erste Pertussisimpfung in diesem Alter ist. Wir wissen aber nicht genau, wie lange eine Pertussisimpfdosis bei Erwachsenen schützt. Welches Auffrischintervall anzusetzen ist, wird die Zeit zeigen. Wir müssen uns jetzt, im Jahr 2013, noch nicht festlegen. In zehn Jahren wissen wir sicher mehr und können dann hoffentlich auf einer guten Datenbasis eine Empfehlung aussprechen. ARS MEDICI: Wie sieht es mit der Sicherheit der Pertussisimpfung aus? Diese ist ja nur mit einem Kombinationsimpfstoff möglich, sodass sich auch die Frage stellt, wie lange die letzte Tetanus- beziehungsweise Diphtherie-Tetanus-Impfung zurückliegen sollte? Heininger: Wir wissen, dass bei 5 bis 10 Prozent aller Erwachsenen nach der Diphtherie-Tetanus-Pertussis-Impfung, also dTpa, eine Lokalreaktion mit Rötung, Schwellung und Schmerzen an der Einstichstelle auftritt. Dabei spielt es erstaunlicherweise praktisch keine Rolle, ob die letzte Diphtherie-Tetanus-Impfung vier Wochen, vier Monate, vier oder zehn Jahre zurückliegt. Insofern ist der Abstand zur letzten dT- beziehungsweise T-Impfung eigentlich belanglos. Die EKIF empfiehlt pragmatisch ein Minimalintervall von vier Wochen. Auch wenn jemand erst vor Kurzem gegen Diphtherie und Tetanus geimpft worden ist, braucht man also keine Angst vor dem erhöhten Nebenwirkungsrisiko der dTpa-Impfung zu haben. ARS MEDICI: Wie sieht es in der Schwangerschaft und Stillzeit mit der Pertussisimpfung aus? Heininger: Es wird jetzt schwangeren Frauen im zweiten und dritten Trimenon empfohlen, sich gegen Pertussis impfen zu lassen, es sei denn, sie wurden bereits in den vergangenen fünf Jahren gegen Pertussis geimpft, was kaum der Fall sein dürfte, oder waren nachweislich, das heisst PCR-gesichert, in den vergangenen fünf Jahren an Keuchhusten erkrankt. Die Impfung der Schwangeren wird nicht nur in der Schweiz, sondern seit Kurzem auch in Grossbritannien und den USA empfohlen. Analog zur Influenzaimpfung in der Schwangerschaft steht dahinter zum einen die Idee, die schwangere Frau selbst zu schützen, und zum anderen die Hoffnung, dass die Pertussisimpfantikörper der Mutter, welche über die Plazenta auf den Feten übergehen, das Neugeborene vor Pertussis schützen. In der Fachinformation des hierzulande verfügbaren dTpa-Impfstoffes steht, dass der Fötus bei der Impfung, wie bei allen inaktivierten Impfstoffen, keinen Schaden nimmt, die Impfung jedoch mangels ausreichender Daten nur gemacht werden sollte, wenn sie dringend benötigt wird und die möglichen Vorteile überwiegen. Nach Ansicht der EKIF überwiegen diese Vorteile. Wird die Impfung in der Schwangerschaft versäumt oder abgelehnt, soll sie der Mutter baldmöglichst nach der Geburt gegeben werden. Die Impfung steht nicht im Widerspruch zur Impfstoffzulassung, selbst wenn die Mutter ihr Kind stillt. Die weltweiten Erfahrungen mit der Impfung gegen Diphtherie und Tetanus in der Schwangerschaft oder Stillzeit sind sehr positiv und unterstützen somit indirekt auch die Pertussisimpfempfehlung. ❖ Das Interview führte Dr. Renate Bonifer. 192 ARS MEDICI 4 ■ 2013