Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Der Traumberuf
D ie Ärzteplethora wäre eine Realität, wenn alle Menschen, die mir sagen, dass sie eigentlich hatten Arzt werden wollen, es geworden wären. Doktorspiele in der Kindheit sind möglicherweise doch nicht das, was Freud befürchtete, sondern nur eine spielerische Berufsvorbereitung mit elastischen Binden aus der Hausapotheke und einem Plastikstethoskop. Begeistert schildern mir meine Patienten, wie sie die Spielplatzschürfwunden der kleinen Schwester fachgerecht desinfiziert und verpflastert haben und der Grossmutter Insulin s.c. spritzten. Irgenwann wurde ihr medizinisches Talent dann auf dem Altar der Realität geopfert. «Ich war schlecht in Mathematik, schaffte es nicht aufs Gymnasium und wurde Detailhandelskauffrau. Dort musste ich aber noch viel mehr rechnen – und habe es gelernt!», seufzt die Abteilungsleiterin unserer Migros. Vermutlich wäre sie eine ausgezeichnete Ärztin geworden, denn sie ist empathisch, kommunikativ und fleissig. «Das Sozialprestige ist natürlich enorm», sinniert der Betriebswirt, während ich ihm sein Knie punktiere. «Schon auf der Uni haben sich die Girls immer auf die Medizinstudenten gestürzt. Aber Sie verdienen ja nichts. Riesenaufwand bei wenig Ertrag.» Ich nicke und lasse das Nadelstreifenkaschmirwollehosenbein über den Verband gleiten. Zwar stürzen sich keine Girls mehr auf mich (Anmerkung der Ehefrau: bis auf das ältere Exemplar, mit dem er verheiratet ist), aber in unserer kleinen Stadt gehört der Arzt automatisch zu den Honoratioren. «Es hätte mich ja sehr gereizt, Arzt zu werden. Aber Ihr Job ist schon gruuuuusig!», kommentiert der Sachbearbeiter, als ich ihm die Nierenschale mit dem übelriechenden riesigen Ceruminalpropf zeige, den ich ihm gerade aus dem Gehörgang gespült habe. Ich verklemme mir die Bemerkung, dass es sein Ohrenschmalz ist. Unrecht hat er nicht: An der Schweiss-, Eiter-, Blut-, Urin-, Stuhl- und Schleimfront gibt es schon üble Dinge, Anblicke und Gerüche. «Hach, ist das nicht toll? All die Menschen, die ihnen vertrauen und ihre Geheimnisse anvertrauen!», flötet die Wirtin, die jede Marcoumarkontrolle zu einem kleinen Schwätzchen ausbaut. «Nun, aber das ist in Ihrem Beruf ja nicht anders. An der Bar schütten Menschen auch ihr Herz aus.» «Ja, aber sie sind betrunken, kein gut gebauter junger Mann zieht sich aus, und als Wirt ist man doch nur der, der nichts wird.» Nun, alkoholisiert sind bei mir auch zirka ein Drittel, wogegen die Gutgebauten eher selten
kommen, mehrheitlich sind es gebrechliche Greisenleiber, die sich freimachen, denke ich. «Arzt wäre mein Traumberuf gewesen!», gesteht der UVG-Jurist, dessen Versicherung ich gelegentlich vertrauensärztlich berate. «Die ständige Weiterentwicklung des Wissens zum Wohle der Menschheit, die man miterlebt, die Wissenschaftlichkeit und das analytische Denken, die spannende Differenzialdiagnostik, das Zwischenmenschliche, die manuelle Arbeit – ich bereue, dass ich es nicht gewagt habe. Aber ich hatte Angst vor der Verantwortung. Angst, dass Menschen zu Schaden kommen könnten.» «Und das haben Sie als Schadensspezialist nicht?», frotzele ich. Er lacht. «Der Schadenfall ist dort schon eingetreten. Und nicht durch meine Schuld …» Auch er wäre ein grossartiger Arzt geworden: klug, warmherzig, mit starkem Sinn für Gerechtigkeit. Ich sage es ihm. Und tröste uns: «Gut, dass es Leute wie Sie bei einem Versicherer gibt. Quasi als Bollwerk der Menschlichkeit. Und so haben Sie doch beides: ein grosses medizinisches Wissen, das dem von Ärzten in nichts nachsteht, plus die genauso faszinierende Welt der Jurisprudenz.» Zu kurz gekommen fühlt sich die diplomierte Pflegefachfrau, die bei jeder Konsultation über die Idioten von Spitalärzten wettert, denen sie das Handwerk beibringen muss, aber die ihr Weisungen erteilen dürfen. «Weil meine Eltern meinten, dass ich sowieso heirate, durfte ich nicht studieren!», jammert sie. Sicher ist es ein typischer Fall von Frauendiskriminierung aus einer Zeit, in der die Chancen nicht gleich waren. Aber sollte sie mit über sechzig nicht altersmilde bemerken, dass sie genau wie die Ärzte den Patienten dient, dass sie den viel engeren Kontakt mit den Kranken und fast mehr Einfluss auf ihre Genesung hat? Dass sie keine Überstunden und kaum Fortbildung machen muss, nicht in eine harte Hierarchie eingebunden ist und durch wirklich interdisziplinäres, kollegiales Arbeiten zum Entstehen gut ausgebildeter Ärztinnen und Ärzte beitragen könnte? Als ich am Abend im Sessel sitze, zu müde, um noch Fachliteratur zu lesen, gehen mir die Schicksale all der verhinderten Ärzte durch den Kopf, die ihrem früheren Berufswunsch nachtrauern. Ja, es ist noch immer ein Traumberuf, der Hausarzt, trotz allen Knüppeln, die man uns zwischen die Beine wirft. Als ich es wurde, wusste ich es noch nicht. Eigentlich wollte ich ja Lokiführer werden oder Feuerwehrmann. Gut, dass ich es nicht bin.
ARSENICUM
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ARS MEDICI 4 ■ 2013