Transkript
FORTBILDUNG
Serie: Kompressionstherapie
Wirkweise und Indikationen zur Kompression in der Praxis
Der Hausarzt sieht die Patienten deutlich häufiger als ein Spezialist und ist daher der Erste, der die Behandlung von Schwellungen und Krampfadern anregen und gegebenenfalls zum Spezialisten weiterleiten kann. In vielen Fällen kann jedoch schon er mit einem Kompressionsstrumpf sehr gut helfen, so wie er mit Blutdrucksenkern auch die arterielle Hypertonie selbst behandelt. Die heute startende Serie möchte die Hintergründe zur Kompressionstherapie erläutern und helfen, die Hürde zum Verordnen dieses Hilfsmittels zu senken. In einigen Fällen ausgeprägten Ödems steht vor dem Kompressionsstrumpf zunächst die Kompressionsbandage bis zum Abschwellen des Beins.
ERIKA MENDOZA
40% des Druckes
70% des Druckes
100% des Druckes
Abbildung 1: Druckverteilung im medizinischen Kompressionsstrumpf Damit dem venösen Überdruck die meiste Kraft entgegengesetzt wird, wo dieser am höchsten ist, hat der medizinischen Kompressionsstrumpf in der Knöchelgegend seinen höchsten Gegendruck aufzubauen. Dieser Druck muss dann wie in den Venen nach oben hin abnehmen, sodass kein Hindernis aufgebaut werden kann.
Wirkweise der Kompression Der Kompressionsstrumpf bringt von aussen Druck auf das Bein – und zwar vom Knöchel nach oben hin abnehmend (Abbildung 1). Im Bein gibt es Strukturen, die sich nicht komprimieren lassen, wie Knochen, Muskel, Fettgewebe und Haut. Die Gefässe und das Interstitium sind jedoch Hohlräume, die durch Druck ihre Füllung ändern können. Dabei haben die Arterien eine kräftige Muskelwand und halten einem relativ hohen Druck stand, die Venenwand ist deutlich dünner, und die Lymphspalten weisen gar keinen Widerstand auf.
0 mmHg
22 mmHg 40 mmHg
Abbildung 2: Venöser Druck Der Druck in den Venen bei unbewegtem Stehen entspricht dem Druck der Wassersäule vom Vorhof bis zum Fuss und liegt bei rund 90 mmHg am Knöchel.
Merksätze
90 mmHg
❖ Die Kompression verhindert die pathologische Venenfüllung, fördert die Entleerung der Varizen und unterstützt die Muskelpumpaktivität, das ist besonders wichtig bei Thrombose.
❖ Sie ist indiziert bei jeder Art von Ödem sowie als vorbeugende Massnahme bei entsprechendem Risiko (siehe Tabelle).
❖ Es gibt nur wenige Kontraindikationen, absolut kontraindiziert ist sie nur bei pAVK mit Verschlussdruck am Knöchel unter 80 mm Hg sowie akuter bakterieller Entzündung der Haut am Bein.
Wirkung auf das Ödem: Die Kompression wirkt daher gegen Schwellungen auf doppelte Weise: Vorhandene Schwellungen werden verringert, weil der von unten nach oben sich vermindernde Druck die Lymphe nach proximal befördert. Der Bildung neuer Schwellungen wird vorgebeugt, weil der Zwischenzellraum durch die Kompression kein Fassungsvermögen für neue Lymphe hat, der Filtrationsdruck wird zugunsten des Gewebes erhöht, die Lymphe fliesst nach orthograd in Richtung Leiste.
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SERIE KOMPRESSIONSTHERAPIE
Tabelle:
Indikation und Dauer der Kompressionstherapie
Indikation
Dauer der Therapie
Allgemeine Beinbeschwerden ❖ funktionelle Störungen wie Schweregefühl und Müdigkeit in den Beinen mit Schwellungsneigung
Varikose ❖ leichte Varizen mit subjektiven Manifestationen ❖ fortgeschrittene primäre Varikose mit Ödem
❖ zur Optimierung des Therapieerfolges: a) nach ambulanter selektiver Varizenoperation b) nach einem Stripping c) nach Sklerotherapie d) nach endoluminalen Verfahren
❖ nach Abschluss einer Varizentherapie Hautveränderungen in Folge einer chronischen venösen Insuffizienz ❖ Ekzem, Erythem, Hypodermitis, Dermatosklerose
❖ aktives und ausgeheiltes Ulcus cruris
Thrombosen, Thrombophlebitiden, Embolien ❖ Prophylaxe von Thrombosen/ Embolien
❖ Thromben in oberflächlichen Beinvenen
❖ tiefe Beinvenenthrombose
❖ postthrombotisches Syndrom Nicht venöse Ödeme ❖ postoperative oder posttraumatische Ödeme ❖ Lymphödem und Lipödem Grad II und höher ❖ Ödem bei Gelenkversteifung, Parese, Medikamenteneinnahme,
Herzinsuffizienz, etc.
Schwangerschaft ❖ Varikose oder Ödeme während der Schwangerschaft ❖ Thromboserisko während der Schwangerschaft und/oder
post partum
immer bei längerem Sitzen oder Stehen, empfohlen auch für entsprechende berufliche Tätigkeiten
solange die Symptome anhalten dauerhaft, bis zur endgültigen Behandlung oder wenn diese Therapien in der Abwägung gegen Kompression noch nicht indiziert sind
je nach Befund und Behandlungsmethode Wochen bis zu einigen Monaten
zur Rezidivprophylaxe möglicherweise sinnvoll
nach Abschluss der Basistherapie in der Regel lebenslange Kompression mehrmonatige bis lebenslange Kompression, je nach anfänglicher Ursache
temporär, solange das Risiko besteht; permanent im Falle eines anhaltenden Risikos kurz- oder langfristig, je nach Befund, mindestens bis zur Rückbildung der tastbaren Verhärtungen drei Monate bis 2 Jahre, im Falle bleibender funktioneller Ausfälle lebenslang lebenslange Kompression
bis zum Abklingen des Ödems lebenslange Kompression lebenslang oder solange die Ursache fortbesteht
bis zu einem Monat nach der Geburt oder nach dem Stillen während der Schwangerschaft und bis zu 6 Wochen post partum
Wirkung auf die Venen: Venen – gesunde wie erkrankte – werden durch den Druck von aussen in ihrem Durchmesser verjüngt. Die Venenwand ist nicht mehr uneingeschränkt dem orthostatischen Druck ausgesetzt. Dieser zieht bei unbewegtem Stehen immerhin dem diastolischen arteriellen Druck gleich (Abbildung 2). Bei einem Krampfaderleiden sind die Venen ohnehin durch den fehlenden Klappenschluss mit überschüssigem Blut gefüllt. Es entsteht in der Folge ein Ödem, sowie auch Hautveränderungen, wenn die Kapillardurchblutung durch den erhöhten Druck in den Venen gestört ist. Die Kompression verhindert das pathologische Füllen der Venen sehr effektiv und fördert die Entleerung der Venen hin zu den tiefen Beinvenen und in Richtung Herz. Auch bei Vorliegen einer
Thrombose bewirkt der Kompressionsstrumpf bei Muskelpumpaktivität eine bessere Entleerung der Wadenmuskeln, dadurch eine Flussbeschleunigung, die dem Abbau des Thrombus dienlich ist.
Wirkung auf die Arterien: Arterien haben einen eigenen Druck, den Blutdruck, der üblicherweise an den Knöcheln höher als 100 mmHg liegt – daher kommt es trotz unbewegten Stehens und einem venösen Druck von 90 mmHg (Abbildung 2) immer noch zu einem Druck aus der Arterie in die Vene. Kompressionsstrümpfe haben am Knöchel höchstens einen Anpressdruck von 60 mmHg in der extrem selten verwendeten Kompressionsklasse 4, in der gängigen Klasse 2 liegt der Druck bei
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LINKS
www.phlebology.de
Zu einzelnen Indikationen werden diverse Kapitel dieser Serie noch in die Tiefe gehen. Wer tiefer eintauchen will, findet hilfreiche Informationen auf www.phlebology.de, hier besonders in der Leitlinie Kompressionstherapie.
30 mmHg am Knöchel. Somit werden die Arterien von der Kompression eher nicht beeinflusst.
Indikationen zur Kompression Aus der Wirkweise leitet sich die Indikation der Kompression direkt ab (s. Tabelle S. 123). Sie ist indiziert bei jeder Art von Ödem, sei es kurz oder lang anhaltend, sowie als vorbeugende Massnahme bei beruflich bedingtem längerem Stehen oder auch in der Schwangerschaft. Bei Vorliegen einer Krampfader ist das Tragen von Kompression immer sinnvoll, wenngleich die Compliance seitens der Patienten meist erst dann gegeben ist, wenn die Krampfadern Beschwerden verursachen, wie Schwellung, Schmerzen oder Hautveränderungen. Nach einer Thrombose ist während der Antikoagulanzienbehandlung (3 bis 6 Monate) die Kompression unabdingbarer Bestandteil der Behandlung, danach hängt die weitere Bestrumpfung von den Beschwerden des Patienten und der Klinik ab: Hat sich die Thrombose rückstandslos zurückgebildet, ist die Wiederauffüllzeit unauffällig, das Bein klinisch ebenso und der Patient beschwerdefrei, kann von der dauerhaften Kompression abgesehen werden. Sollten jedoch Risikosituationen bestehen, ist es dem Patienten zu empfehlen, den Kompressionsstrumpf wieder anzulegen.
Kontraindikationen
Gegen die Kompression gibt es nur wenige Kontraindikatio-
nen. Nässende Hautveränderungen können vorübergehend
mit Wundauflagen versorgt und mit Bandagen versehen wer-
den. Bei der Herzinsuffizienz kann zunächst nur ein Bein ver-
sorgt werden und im Intervall das zweite. Bei Sensibilitäts-
störungen muss der Strumpf immer wieder abgelegt werden,
um Druckstellen auszuschliessen, die durch fehlende Sensibi-
lität nicht bemerkt werden. In diesem Fall könnte auf eine ge-
ringere Kompressionsklasse zurückgegriffen werden.
Absolute Kontraindikationen sind die sehr fortgeschrittene
periphere arterielle Verschlusskrankheit mit einem Ver-
schlussdruck am Knöchel unter 80 mm Hg, sowie eine akute
bakterielle Entzündung der Haut am Bein.
❖
Dr. med. Erika Mendoza Fachärztin für Allgemeinmedizin Vorsitzende der dt. Gesellschaft für CHIVA Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Dt. Gesellschaft für Phlebologie Speckenstrasse 10, D-31515 Wunstorf E-Mail: erika.mendoza@t-online.de
Interessenskonflikte: keine
Im Rahmen dieser Serie, die auf Anregung der Firma Sigvaris entstand, kommen verschiedene Experten zu Wort. Deren Angaben sind als Empfehlungen und nicht als Richtlinie zu verstehen. Sie dienen als Hilfestellung für die Therapieentscheidung, basieren auf der aktuellen Studienlage und Erfahrungswerten aus der Praxis.
Kompression hat eine lange Geschichte
Die Ursprünge der Kompression vermutet man in den Anfängen der Menschheit, schreiben Partsch
et al. in ihrem Buch «Kompression der Extremitäten». Erste Abbildungen von Beinverbänden stam-
men aus den Jahren 5000 bis 2500 vor Christus – nicht eindeutig zu interpretieren ist jedoch, ob es
sich damals um rituelle oder therapeutische Bandagen handelte. Nach den alten Hebräern, Griechen
und Römern, die Kompression zur Behandlung von Ulzera einsetzten, beschrieb Hippokrates in «de
medici officina» sowohl Stoff- als auch Klebeverbände, die das Blut nach oben trieben, damals noch
vorzugsweise in Ruhe und Unbeweglichkeit.
Trotz zwischenzeitlicher Überlegungen, dass die «Varizen die schädlichen Säfte» aus den edlen Teilen des Körpers fernhalten und ein Ulkus das
«schlechte Blut» letztlich ausstosse, fand die Kompression immer mehr Anerkennung. Lange Zeit waren Binden mit oder ohne die verschie-
densten Auflagen die Basis der Kompression. Aber die oftmals über längere Zeit erforderliche Behandlung war nicht immer einfach: Ob nun
Patienten die Binden nicht richtig anlegten oder der Verband einfach nicht schön aussah – der Wunsch, ihn durch etwas in der richtigen Form
zu ersetzen, das einfacher anzulegen wäre, wurde bereits im 17. Jahrhundert beschrieben. Ohne elastische Materialien jedoch kamen nur
Gamaschen oder Schnürstrümpfe in Frage (siehe Abbildung), wie man sie damals aus dünner Hundehaut herstellte. Neue Perspektiven eröff-
neten ab 1846 elastische Binden, die durch das Einweben von Kautschukfäden hergestellt werden konnten.
1848 wurde das Patent Nr. 12294 «for elastic stockings» an den Engländer William Brown vergeben. Es folgte ein Patent zur Umspinnung dieser
elastischen Fäden, da die Gummifäden direkt auf der Haut unangenehm waren. Ab 1861 war die Verarbeitung auf Handwirkstühlen mit
verschiedenen anatomischen Beinformen möglich, heisst es bei Partsch et al. weiter. Mit deren technischer Verbesserung begann in England,
später in Belgien und 1874 auch in Deutschland die handwerkliche Produktion von Kompressionsstrümpfen.
Mü❖
Partsch H, Rabe E, Stemmer R: Compression. Kapitel 2. In: Kompression der Extremitäten. Editions Phlébologiques Françaises, Paris, 1999; 5–10.
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