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FORTBILDUNG
Sekundärprävention nach Schlaganfall oder TIA – eine Übersicht
In einem Übersichtsartikel erläutern australische Wissenschaftler die Vorgehensweise zur Evaluierung eines Schlaganfalls oder einer transienten ischämischen Attacke und geben evidenzbasierte Empfehlungen zur Sekundärprävention weiterer vaskulärer Ereignisse.
NEW ENGLAND JOURNAL OF MEDICINE
Fallvignette: Eine 62-jährige Frau wird eine Woche nach einem Schlaganfall untersucht. Sie hatte zunächst wegen Dysphasie und einer rechtsseitigen Schwäche ein anderes Krankenhaus aufgesucht. In der Magnetresonanztomografie (MRT) zeigte sich ein kurz zurückliegender Infarkt im linken parietalen Kortex. In der Computertomografie-Angiografie (CTA) waren eine hochgradige Stenose der linken proximalen Arteria carotis interna und normale intrakraniale Gefässe erkennbar. Die Patientin erhielt intravenös rekombinanten Gewebeplasminogenaktivator und wurde nach Hause entlassen, wo sie mit einem Statin und Azetylsalizylsäure (ASS) weiterbehandelt wurde. Die Frau leidet noch unter einer geringfügigen restlichen Ungeschicklichkeit ihrer rechten Hand.
Schlaganfall und TIA Der Schlaganfall ist weltweit nach dem Herzinfarkt die zweithäufigste Todesursache und eine der Hauptursachen einer erworbenen Behinderung. In manchen Regionen übertrifft die kombinierte Inzidenz an Schlaganfällen und tran-
Merksätze
❖ Nach einem Schlaganfall ist das Risiko für weitere vaskuläre Ereignisse besonders hoch.
❖ Die Ermittlung der Ätiologie und die Einleitung präventiver Massnahmen erfolgen so schnell wie möglich nach Schlaganfall oder TIA.
❖ Blutdrucksenkung, Cholesterinsenkung und Antikoagulation reduzieren das Risiko für weitere vaskuläre Ereignisse.
❖ Empfehlungen zur Lebensweise gehören zum Routinemanagement.
sienten ischämischen Attacken (TIA) die Häufigkeit koronarer vaskulärer Ereignisse. Mehr als 85 Prozent aller tödlichen Schlaganfälle ereignen sich in Ländern mit mittlerem oder geringem Einkommen. Bei Schlaganfallpatienten besteht ein hohes Risiko für weitere vaskuläre Ereignisse wie einen erneuten Schlaganfall, einen Herzinfarkt oder Tod mit vaskulärer Ursache. Da das Schlaganfallrisiko kurz nach einem aktuellen Ereignis am höchsten ist, sind rasche und individuell angepasste Präventionsstrategien von höchster Bedeutung. Aus einer Metaanalyse geht hervor, dass das Risiko bei einer Notfallversorgung in einem speziellen Schlaganfallzentrum am geringsten ist. Experten schätzen, dass mindestens 80 Prozent aller erneuten Ereignisse durch eine Kombination aus Ernährungsumstellung, Bewegung, Blutdrucksenkung, Antikoagulation und Cholesterinsenkung verhindert werden könnten. Die American Stroke Association und die European Stroke Organization haben Richtlinien zur Sekundärprävention nach einem Schlaganfall veröffentlicht. Die Empfehlungen dieses Übersichtsartikels stimmen weitgehend mit den dort aufgeführten Empfehlungen überein.
Evaluierung Beim Schlaganfall unterscheidet man den ischämischen Schlaganfall (80%), einen Schlaganfall aufgrund intrazerebraler Blutungen (15%) und einen Schlaganfall aufgrund subarachnoidaler Blutungen (5%). Eine TIA wird konventionell als kurze neurologische Episode vaskulären Ursprungs mit einer Dauer von weniger als 24 Stunden definiert. Seit Kurzem wird die TIA auch als vorübergehendes neurologisches Ereignis ohne Anzeichen eines akuten Infarkts in der bildgebenden Untersuchung beschrieben. Diese Neudefinition basiert auf der Erkenntnis, dass zahlreiche Schlaganfälle, die bei der Bildgebung sichtbar werden, weniger als 24 Stunden andauern oder klinisch unauffällig sind. Zur Konzeption der Sekundärprävention ist die Identifizierung der Pathogenese von grosser Bedeutung, vor allem zum Nachweis klinisch signifikanter kardialer oder arterieller Ursachen, zu deren Behandlung individuell angepasste Strategien erforderlich sind. In der klinischen Praxis hat sich die Klassifizierung der Trial of Org 10172 in Acute Stroke Treatment (TOAST) auf der Basis klinischer Befunde und Untersuchungen als nützlich erwiesen. Die TOAST-Klassifizierung unterscheidet folgende ätiologische Gruppen: ❖ Kardioembolien (meist aufgrund von Vorhofflimmern) ❖ Makroangiopathien ❖ Verschluss kleiner Gefässe (lakunäre Schlaganfälle)
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❖ Schlaganfall anderer Ätiologie (z.B. arterielle Dissektion, Schlaganfall im Zusammenhang mit Drogenkonsum, hyperkoagulable Störung)
❖ Schlaganfall ungeklärter Ursache (≥ 2 bestimmbare Ursachen oder unvollständige Evaluation)
Auch bei vollständiger Untersuchung bleiben bis zu 30 Prozent aller zerebralen Ischämien ungeklärt (kryptogener Schlaganfall). Nach einem Schlaganfall ist eine möglichst frühzeitige Evaluierung notwendig, da viele Rezidive kurzfristig eintreten. Die bildgebende Untersuchung des Gehirns ist zur Diagnose, zur Klassifizierung und für das Management zwingend erforderlich. Zur Diagnose einer akuten Ischämie ist die MRT wesentlich sensitiver als die CT, Letztere ist jedoch häufiger verfügbar. Meist ist auch eine bildgebende Untersuchung der Arterien mit einer Dopplersonografie der Karotis, einer CTA oder einer Magnetresonanzangiografie (MRA) erforderlich. In vielen Zentren wird die CT mit der CTA kombiniert. Die Echokardiografie wird routinemässig durchgeführt. Um paroxysmales Vorhofflimmern zu erkennen, ist ein ambulantes Monitoring von Nutzen. Eine Ultraschalluntersuchung des Brust- und Bauchraums wird häufig zur Ermittlung anderer kardialer Emboliequellen als des Vorhofflimmerns durchgeführt. Routinemässige Blutuntersuchungen können auf prädisponierende Ursachen wie Polyzythämie, eingeschränkte Nierenfunktion, Störungen des Elektrolythaushalts oder Hyperglykämie hinweisen.
Management Bei allen Patienten sind Empfehlungen zum Lebensstil und ein konsequentes Management der Risikofaktoren erforderlich. Aus Beobachtungsstudien zur Sekundärprävention geht hervor, dass eine gesunde Lebensweise mit regelmässiger Bewegung und Rauchabstinenz die Mortalität senkt. In der INTERSTROKE-Fall-Kontroll-Studie zu Patienten mit einem ersten Schlaganfall waren folgende 10 Risikofaktoren für 90 Prozent des Schlaganfallrisikos verantwortlich: ❖ Bluthochdruck ❖ Rauchen ❖ hohes Taille-Hüfte-Verhältnis ❖ hohes ernährungsbedingtes Risiko ❖ mangelnde körperliche Bewegung ❖ Diabetes mellitus ❖ übermässiger Alkoholkonsum ❖ psychosozialer Stress oder Depressionen ❖ kardiale Ursachen (z.B. zurückliegende Herzinfarkte oder
Artrialfibrillation) ❖ hohes Verhältnis von Apolipoprotein B zu Apolipoprotein A1
Blutdrucksenkung Der Blutdruck ist der wichtigste modifizierbare Risikofaktor zur Primär- und Sekundärprävention des Schlaganfalls. Ergebnisse aus Beobachtungs- und klinischen Studien unterstützen für die Sekundärprävention eine Blutdrucksenkung unabhängig vom Ausgangswert. Hinsichtlich des wirksamsten Zielwerts oder des Ausmasses der Reduzierung ist die Datenlage nicht ausreichend, die absolute Reduzierung des Werts um etwa 10/5 mmHg ist jedoch mit einem Nutzen verbunden. Da eine sofortige Senkung des Blutdrucks nach einem Schlaganfall mit Risiken verbunden sein kann, ist in der Akutversorgung Vorsicht geboten. In einem systematischen Review zur Sekundärprävention wurde mit Antihypertensiva verschiedener Klassen eine Reduzierung sämtlicher Schlaganfälle, tödlicher Schlaganfälle, der Herzinfarkte und der vaskulären Ereignisse erzielt. Das Ausmass der Reduzierung des Schlaganfallrisikos stand hier in direktem Zusammenhang mit dem Ausmass der Senkung des systolischen Blutdrucks. Ob der Nutzen der Blutdrucksenkung mit einer speziellen Klasse an Antihypertensiva zusammenhängt oder einfach nur mit der Blutdrucksenkung an sich, wird kontrovers diskutiert. Die Evidenz spricht jedoch für Letzteres. In der Studie Perindopril Protection Against Recurrent Stroke (PROGRESS) war die Blutdrucksenkung mit einem ACE-Hemmer mit einer Reduzierung des Risikos für weitere vaskuläre Ereignisse verbunden. Eine noch ausgeprägtere Risikoreduzierung wurde im Rahmen dieser Studie bei einer Kombination des ACE-Hemmers mit einem Diuretikum beobachtet. In einer anderen Studie zur Sekundärprävention wurde mit einem Angiotensinrezeptorblocker eine ausgeprägtere Reduzierung der Inzidenz von Schlaganfällen und TIA erreicht als mit einem Kalziumkanalblocker, trotz vergleichbarer Blutdrucksenkung.
Cholesterinsenkung Die zur Reduzierung des primären Schlaganfallrisikos wirksame Cholesterinsenkung mit Statinen wie Simvastatin (Zocor® und Generika) oder Atorvastatin (Sortis® und Generika) hat sich auch zur Reduzierung des Risikos für einen zweiten Schlaganfall als wirksam erwiesen. In Richtlinien zur Sekundärprävention wird die Statinbehandlung ab einem Cholesterinwert von 100 mg/dl (2,6 mmol/l) oder höher empfohlen. Das Ziel besteht in einer Senkung des Werts um mindestens 50 Prozent oder bis zu einem Wert von weniger als 70 mg/dl (1,8 mmol/l). Trotz ihres Gesamtnutzens sind Statine jedoch auch mit einem leicht erhöhten Risiko für intrazerebrale Blutungen verbunden, sodass sie bei Patienten mit einer entsprechenden Vorgeschichte kontraindiziert sind.
Diabetes mellitus und das metabolische Syndrom kommen bei Patienten mit einem Schlaganfall oder einer TIA häufig vor, beide Erkrankungen bleiben jedoch oft lange undiagnostiziert. Zur Sekundärprävention sind für nahezu alle Patienten eine Senkung des Blutdrucks und der Cholesterinwerte sowie eine Antikoagulation (ausser bei Patienten, die bereits antikoagulierende Medikamente erhalten) geeignet. Weitere Behandlungsmassnahmen richten sich nach der Ursache des Schlaganfalls.
Thrombozytenaggregationshemmer Zur Sekundärprävention sollten Schlaganfallpatienten auch Thrombozytenaggregationshemmer erhalten – ausgenommen dann, wenn bereits eine Antikoagulation indiziert ist. In Studien mit Hochrisikopatienten (inklusive Patienten, die bereits einen Schlaganfall erlitten hatten) reduzierte ASS (Aspirin® und Generika) das Risiko für weitere vaskuläre Ereignisse um rund ein Viertel. Niedrige ASS-Dosierungen (75–325 mg/Tag) sind zur Reduzierung des Schlaganfallrisikos vermutlich ebenso wirksam wie höhere, sind aber mit
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Kasten:
Evidenzbasierte Strategien zur Sekundärprävention des Schlaganfalls (modifiziert nach Davis)
Routine ❖ Senkung des Blutdrucks ❖ Senkung des Cholesterinwerts ❖ Antikoagulation (ausser wenn zuvor bereits indiziert)
Azetylsalizylsäure (first-line), Clopidogrel, Azetylsalizylsäure plus Dipyridamol
Symptomatische hochgradige Stenose ❖ Karotisendarterektomie
Vorhofflimmern ❖ Warfarin, Dabigatran, Rivaroxaban, Apixaban
einem geringeren Risiko für gastrointestinale Toxizitäten verbunden. Aktuelle Richtlinien weisen darauf hin, dass ASS oder Clopidogrel (Plavix® und Generika) als Einzelsubstanzen sowie ASS in Kombination mit Dipyridamol (Asantin®) geeignete First-Line-Optionen zur Sekundärprävention eines Schlaganfalls sind.
mit dem Eingriff (vor allem Tod und ein Schlaganfallrezidiv innerhalb von 30 Tagen) im Rahmen des Karotis-Stentings signifikant höher sind als bei der Karotisendarterektomie. Studiendaten weisen darauf hin, dass der Nutzen und die Risiken des Verfahrens auch mit dem Alter in Verbindung stehen. Bei Patienten über 70 Jahre scheint die Karotisendarterektomie das geeignetere Verfahren zu sein, während bei jüngeren Personen die Risiken beider Operationen vergleichbar sind.
Vorhofflimmern und Antikoagulation Vorhofflimmern verursacht mindestens 15 Prozent aller ischämischen Schlaganfälle. Bislang ist Warfarin (nicht im AK der Schweiz) in angepasster Dosierung der Eckpfeiler der Therapie. Aus einer Metaanalyse zum Vergleich von Warfarin mit Plazebo oder mit Aspirin geht eine Reduzierung des Schlaganfallrisikos um 60 Prozent beziehungsweise 40 Prozent hervor. Allerdings handelte es sich hierbei vorwiegend um Studien zur Primärprävention. Warfarin hat sich bei Patienten mit Vorhofflimmern zur Sekundärprävention des Schlaganfalls zudem als wirksamer im Vergleich zu ASS oder ASS plus Clopidrogel erwiesen. Zu neueren oralen Antikoagulanzien, bei denen kein Monitoring erforderlich ist, gehören Dabigatran (Pradaxa®), Rivaroxaban (Xarelto®) und Apixaban (Eliquis®). Diese Medikamente könnten Warfarin möglicherweise in einigen Fällen bald ersetzen.
Karotisendarterektomie und Karotis-Stenting Eine Karotisendarterektomie ist bei Patienten mit hochgradiger Karotisstenose (70–99%) oder – in ausgewählten Fällen – bei Personen mit mittelgradiger Stenose (50–69%) indiziert, die bereits eine TIA oder einen ischämischen Schlaganfall erlitten haben, der nicht mit einer Behinderung verbunden ist. Das Timing der Karotisendarterektomie nach TIA oder Schlaganfall beinhaltet eine Abwägung des Risikos für frühzeitige Rezidive mit dem Risiko einer Perfusionsverletzung und einer hämorrhagischen Transformation. Derzeit wird eine frühzeitige Intervention, innerhalb von 2 Wochen nach Einsetzen der Symptome, empfohlen, da der Operationsnutzen im weiteren Verlauf nach dem ischämischen Ereignis rasch abnimmt. Das Karotis-Stenting als Alternative zur Karotisendarterektomie wird kontroverser diskutiert. Dieser Eingriff ist weniger invasiv als die Karotisendarterektomie und zudem mit einer schnelleren Wiederherstellung und einem geringeren Risiko für Lähmungen der Kranialnerven verbunden. Aus Studien geht jedoch hervor, dass die Risiken in Verbindung
Schlussfolgerungen und Empfehlungen für die Patientin
Die in der Fallvignette beschriebene Patientin hat einen isch-
ämischen Schlaganfall erlitten, und zudem liegt eine hoch-
gradige Karotisstenose vor. Die Autoren empfehlen, die Frau
zur sofortigen Durchführung einer Karotisendarterektomie
zu überweisen, ein Karotis-Stenting wäre angesichts ihres
Alters jedoch ebenfalls möglich. Zudem empfehlen die Auto-
ren eine Fortsetzung der Statinbehandlung, den Beginn einer
niedrig dosierten ASS-Behandlung (z. B. 81 mg/Tag) und eine
Senkung des Blutdrucks mit einem ACE-Hemmer und einem
Diuretikum. Die Patientin sollte zudem über relevante
Lebensstilfaktoren informiert sowie auf die Bedeutung der
Rauchabstinenz, der Vermeidung von Übergewicht und
regelmässiger Bewegung hingewiesen werden.
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Petra Stölting
Quelle: Davis SM, Donnan GA: Secondary prevention after ischemic stroke or transient ischemic attack. N Engl Med 2012; 366: 1914–1922.
Interessenkonflikte: Einer der Autoren hat Honorare von Boehringer-Ingelheim und Sanofi-Aventis erhalten, der andere von Bayer HealthCare.
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