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BERICHT
Management der Hyperglykämie bei Typ-2-Diabetes: das ADA/EASD-Positionspapier
Zielwerte und Therapien individualisieren
48. Jahreskongress der EASD European Association for the Study of Diabetes, Berlin, 1. bis 5. Oktober 2012 Vortrag: «Management of type 2 diabetes: the ADA/EASD position statement», EASD 2012, Berlin.
Das glykämische Management von Typ-2-Diabetes mellitus wird zunehmend komplexer und auch umstrittener. Gründe hierfür sind etwa die Vielzahl verfügbarer pharmakologischer Wirkstoffe sowie wachsende Bedenken bezüglich potenzieller Nebenwirkungen einer zu aggressiven Senkung des HbA1c. Experten der American Diabetes Association (ADA) sowie der European Association for the Study of Diabetes (EASD) haben daher Empfehlungen für die antihyperglykämische Therapie bei erwachsenen Patienten mit Typ-2-Diabetes zusammengestellt. Wir berichten über die Vorstellung des Positionspapiers am EASD-Kongress 2012 in Berlin.
LYDIA UNGER-HUNT
Welche Faktoren beeinflussten die Aufstellung der neuen Richtlinien? Prof. Dr. David Matthews vom Oxford Centre für Endokrinologie, Diabetes und Metabolismus fasst zusammen: ❖ Es gibt immer mehr verfügbare
Wirkstoffe, manche davon potenziell schädlich; ❖ Studien stellen zunehmend die «simplistische» Ansicht in Frage,
wonach der HbA1c umso besser ist, je niedriger er liegt; Evidenz, dass zu aggressive Behandlung potenziell schädlich ist; ❖ wachsende Sorge hinsichtlich eines Universalkonzepts («one size fits all») der Betreuung; ❖ Kosten gelten mittlerweile als signifikanter Aspekt und werden dementsprechend ebenfalls erwähnt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Diskurs über die patientenzentrierte Behandlung. In die Behandlungsentscheidungen sollte die Patientenmotivation einfliessen, ausserdem sein Risiko für Hypoglykämien, die Lebenserwartung, Komorbiditäten und auch die jeweils verfügbaren Ressourcen. «Die patientenzentrierte Behandlung ist bei chronischen Erkrankungen so viel wichtiger als bei akuten Therapien, denn einen Grossteil der Behandlung muss der Patient hier selbst durchführen», erklärt der Experte. «Diese Form der Therapie verbessert die Compliance und ist damit auch kosteneffektiver.»
Medikamentöse Therapie Diesen Teil des Positionspapiers bespricht Co-Autor Dr. Silvio Inzucchi von der Universität Yale. Zu den Fragen, die im Positionspapier angesprochen werden, zählen: ❖ Welcher Wirkstoff ist für die Ein-
leitung am besten geeignet? ❖ Was tun bei unzureichender
Glukosekontrolle? ❖ Was ist die optimale Sequenz? ❖ Wann ist Insulin zu geben? ❖ Welche Patientencharakteristika
dienen als Richtschnur der Therapie?
Besondere Rücksicht ist grundsätzlich bei der älteren, multimorbiden Bevölkerung angezeigt, was die Belastung durch die Therapie angeht. Hier
braucht es eine minimal störende Medizin, sonst könnte die Therapie schlimmere Folgen als die Krankheit selbst haben», erklärt Inzucchi. Als Basis der antiglykämischen Therapie gilt nach wie vor die Optimierung des Lebensstils, also Gewichtsverlust, Umstellung der Ernährung und vermehrte körperliche Aktivität. Die wichtigsten pharmakologischen Klassen sind neben den unterschiedlichen Insulinformen bekanntermassen Metformin, Sulfonylharnstoffe, Glitazone (Thiazolidindione, TZD), DPP-4-Inhibitoren und GLP-1-Analoga. «Alle Kategorien haben ihren ganz eigenen Wirkmechanismus und unterschiedliche Vorteile bezüglich Minimierung der Hypoglykämie beziehungsweise der Gewichtszunahme. Manche Vorteile sind noch nicht ganz klar: So könnte ein Wirkstoff etwa LDL oder Triglyzeride senken, wir wissen allerdings derzeit nicht, ob und wie sich diese schwach ausgeprägten extraglykämischen Effekte auf das Patientenleben auswirken werden.»
HbA1c-Senkung ähnlich – Evidenz klinischer Outcomes mangelhaft Eine Basis der Richtlinien war die «extrem wichtige» Arbeit von Bennett et al. (Ann Intern Med 2011), in der die Vorund Nachteile von Metformin, Sulfonylharnstoffen der zweiten Generation, Thiazolidindionen, DPP-4-Inhibitoren und GLP-2-Analoga in Monotherapie und in Kombination verglichen wurden. Diese Studie wies darauf hin, dass die meisten Wirkstoffe zu einer ähnlichen Senkung des HbA1c führen, nämlich um etwa 1 Prozent; die Evidenz unterstützt Metformin als Erstlinienwirkstoff in der Behandlung des Typ-2Diabetes mellitus. Und: Die meisten Doppel-Wirkstoffkombinationen führen zu einer ähnlichen Senkung des
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Die wichtigsten Eckpunkte des ADA/EASD-Positionspapiers
❖ Glykämische Zielwerte und glukosesenkende Therapien sind zu individualisieren. Kommentar von Prof. Matthews: «Dies bedeutet nicht, dass der HbA1c-Wert ohne Bedeutung ist! Wir wissen, dass mit höheren HbA1c mehr mikrovaskuläre Endpunkte auftreten, der Wert ist selbstverständlich niedrig zu halten. Die Individualisierung ist kein Rezept für ‹laissez-faire›.»
❖ Basis jedes Typ-2-Diabetes-Behandlungsprogramms sind Ernährung, Bewegung und Aufklärung.
❖ Metformin ist der Wirkstoff der ersten Wahl (ausser bei Kontraindikationen).
❖ Nach Metformin ist die Datenlage begrenzt. Die Kombinationstherapie mit zusätzlich 1 bis 2 oralen oder injizierbaren Wirkstoffen ist angemessen, wobei wenn möglich auf eine Minimierung der Nebenwirkungen zu zielen ist.
❖ Schliesslich benötigen viele Patienten zur Wahrung der Glukosekontrolle eine Insulintherapie, entweder allein oder in Kombination.
❖ Alle therapeutischen Entscheidungen sind nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit dem Patienten und unter Berücksichtigung seiner Vorlieben, Bedürfnisse und Werte zu treffen.
❖ Ein wichtiger therapeutischer Fokus ist die umfassende kardiovaskuläre Risikosenkung.
HbA1c, doch erhöhen manche das Risiko für Hypoglykämie und andere unerwünschte Ereignisse. «Wir stellten allerdings auch fest, dass die Evidenz bezüglich langfristiger klinischer Outcomes wie Gesamtmortalität, kardiovaskuläre Erkrankungen, Nephropathie und Neuropathie von niedriger Stärke oder unzureichend war», so Inzucchi. Bei allen Wirkstoffen gibt es Non-Responder; einige randomisiert-kontrollierte Trials haben Hinweise auf mögliche Prädiktoren eines therapeutischen Ansprechens gegeben, doch seien die Unterschiede bislang recht gering. «Was wir sehr wohl sagen können, ist, dass viele der alten Lehren wahrscheinlich nicht korrekt sind, etwa ‹Metformin für Übergewichtige› oder ‹Sulfonylharnstoffe für Schlanke› – dafür ist Diabetes eine viel zu heterogene Erkrankung», gibt Inzucchi zu bedenken. Hinsichtlich der therapeutischen Entscheidungen sei die Neigung von Patienten, gewisse Nebenwirkungen zu entwickeln oder diese zu tolerieren, wahrscheinlich einer der wichtigsten Faktoren. «Die alte Methode des ‹trial and error› ist nach wie vor Standard und auch ein sehr vertretbarer Ansatz», fasst Inzucchi zusammen.
Kritik der Richtlinien Dr. Amanda Adler vom Addenbrooke’s Hospital in Cambridge/GB kritisiert in ihrem Kommentar die «patientenzentrierte Betreuung», die im Papier umfassend abgehandelt wird. «In den Richtlinien wird zwar von ‹guter Evidenz› gesprochen, die das gemeinsame Entscheiden unterstützen würde.» Tatsächlich basiere die Evidenz allerdings lediglich auf einer Pilotstudie, «die zwar zum Schluss kommt, dass die gemeinsame Entscheidung für Patienten und Ärzte akzeptabel ist und die effiziente Wissensvermittlung erlaubt – die eigentlichen kurzfristigen Outcomes werden dadurch aber nicht beeinflusst», so Adler. Es gebe keine Beweise dafür, dass die patientenzentrierte Behandlung zu besserer Gesundheit und weniger Komplikationen führe. Widerspruch kommt von der Diabetologin auch bezüglich der Wirksamkeit der meisten Arzneimittel: «Ich stimme hier nicht mit Silvio Inzucchi überein, ganz im Gegenteil! Die meisten Wirkstoffe wirken eben nicht bei den meisten Menschen.» Zudem würde zu viel Fokus auf der Einleitung und zuwenig Fokus auf dem Ausschleichen von Medikamenten, etwa bei Therapieversagen, liegen. Sie stimme allerdings
dem Fokus auf den Kosten zu: «Grundsätzlich würde ich sagen, wir haben alle eingeschränkte Ressourcen – bei möglicher Auswahl sind grundsätzlich die kostengünstigeren Wirkstoffe zu wählen.» Und sei etwa ein neues Insulin doppelt so teuer wie ein altes, «muss es auch doppelt so effektiv sein».
Entscheidung wieder
in die Hände der Ärzte legen
Also – werden die Richtlinien einen Un-
terschied in der täglichen Betreuung
von Diabetespatienten herbeiführen?
Amanda Adler: «Einerseits nein. Denn
Menschen hören nicht auf Richtlinien.
Andrerseits ja: Wenn Kliniker keinen
Zugang zu den aktuellsten Informatio-
nen haben und sich an diese Richtlinien
wenden; wenn es Forschung inspiriert,
wenn das Papier tatsächlich gelesen,
verstanden und diskutiert wird.» Sie
habe zudem die beiden Co-Autoren
Prof. Matthews und Dr. Inzucchi um
die Beantwortung dieser Frage gebeten.
Deren Erwiderung:
Dr. Inzucchi: «Die ‹key message› ist
sicher, dass Kliniker wirklich über das
Ziel und die Strategie nachdenken müs-
sen, die für den Patienten am besten ist.
Der Patient kann entscheiden, wie weit
er sich einbringen möchte.»
Prof. Matthews: «Es gibt kein System,
das eine Beurteilung des Erfolges der
Richtlinien messen könnte. Ich würde
einfach nur hoffen, dass wir damit
einen Rückgang der Dummheit sehen –
der Dummheit von Organisationen, die
sagen, ‹man muss auf einen einzigen
HbA1c-Wert für alle abzielen›. Wir
möchten die Entscheidungen wieder in
die Hände der Ärzte legen, damit sie
diese umfassend mit den Patienten
erörtern können.»
❖
Lydia Unger-Hunt
Inzucchi SE et al.: Management of hyperglycaemia in type 2 diabetes: a patient-centered approach. Position statement of the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD). Diabetologia 2012; 55: 1577–1596.
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