Transkript
Drehschwindel
10 Regeln für die Hausarztpraxis
FORTBILDUNG
Neben Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und grippalen Infekten stellt Schwindel ein häufiges Symptom dar, mit dem sich Patienten beim Hausarzt vorstellen. Im folgenden Beitrag soll speziell auf den Drehschwindel eingegangen und sollen einige grundsätzliche Regeln für den Umgang mit diesen Patienten in der hausärztlichen Praxis dargelegt werden.
Entsprechend ist eine bildgebende Untersuchung der Halswirbelsäule nicht erforderlich. Wenn eine Magnetresonanztomografie (MRT) der Halswirbelsäule angefertigt wird und sich hier degenerative Veränderungen zeigen, haben diese mit der Schwindelsymptomatik nichts zu tun.
Regel Nr. 2: Was häufig ist, ist häufig – was selten ist, ist selten.
PETER BERLIT
Die Mehrzahl aller Drehschwindelformen lässt sich mithilfe einer gründlichen Anamnese und einfachen klinischen Untersuchung richtig einordnen. Im Regelfall ist eine gezielte Behandlung auch ohne aufwendige apparative Diagnostik möglich.
Regel Nr. 1: Drehschwindel hat mit der Halswirbelsäule nichts zu tun!
Auch wenn Patienten oft davon überzeugt sind, dass ihr Schwindel von der Halswirbelsäule kommt, ist das so gut wie nie der Fall! Degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule können zu Nackenmyogelosen, zu Radikulopathien der oberen Extremitäten oder, wenn es zu einer Myelopathie kommt, auch zu einer Gangstörung führen – ein Drehschwindel wird jedoch nicht ausgelöst.
Merksätze
❖ Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel ist die häufigste Drehschwindelform im klinischen Alltag.
❖ Bei heftigem, über Stunden oder Tage anhaltenden Drehschwindel und bei Übelkeit ist an Morbus Menière zu denken.
❖ Ein Dauerschwindel, der auch in Ruhe besteht und vormittags zunimmt, ist Ausdruck eines somatoformen Schwindels.
❖ Der Ausfall eines Vestibularorgans kann durch eine kalorische Testung oder durch den Kopfimpulstest belegt werden.
❖ Mit der Frenzel-Brille lässt sich die Fixation des Patienten ausschalten und der Nystagmus besser beurteilen!
Die weitaus häufigste Drehschwindelform im klinischen Alltag ist der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei etwa 2,5 Prozent und steigt mit dem Lebensalter an (1). Ein gehäuftes Auftreten wird nach (auch bagatellartigen) Kopftraumen und nach peripher-vestibulären Erkrankungen beobachtet. Charakterisiert ist das Krankheitsbild durch bewegungsabhängig auftretende Drehschwindelattacken, welche von Oszillopsien (d.h. die Umwelt wird verwackelt wahrgenommen, vor allem beim Fixieren von Objekten oder während einer Eigenbewegung) und einem Nystagmus begleitet sind. Meist wachen die Patienten morgens mit dem Drehschwindel auf, nachdem sie sich im Bett gedreht haben. Weil das Krankheitsbild durch frei bewegliche Otolithenpartikel innerhalb eines Bogenganges ausgelöst wird, ist das Auftreten mit kurzer Latenz nach der auslösenden Bewegung ebenso typisch wie das rasche Abklingen innerhalb von Sekunden. Die Otolithenpartikel entstehen altersabhängig oder aufgrund von Bagatelltraumen, wobei am häufigsten der posteriore Bogengang betroffen ist. Durch Seitlagerung auf das betroffene Ohr lassen sich Schwindel und rotatorischer Nystagmus auslösen. Entscheidend ist es, dafür zu sorgen, dass das Otolithenmaterial aus dem betroffenen Bogengang herausgelangt, wofür es Deliberationsmanöver gibt, die am besten anhand von Lehrvideos einstudiert werden. Ein solches Video zum Epley-Manöver finden Sie hier: http://www.allgemeinarztonline.de/downloads/leserservice.html (Video etwas weiter unten auf der Liste). Die Verfahren nach Epley und nach Semont sind gleichwertig und sehr wirksam (2).
Regel Nr. 3: Der Patient
kann sich oft selbst behandeln.
Dem Patienten muss der Pathomechanismus erklärt werden, und er sollte die Technik zur Selbstbehandlung erlernen. Merkblätter hierzu gibt es unter anderem auf der Internetseite
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der Charité (www.charite.de/ch/neuro/klinik/patienten/krank heiten/schwindel_vertigo/vertigo. html). Bei sehr ängstlichen Kranken kann es sinnvoll sein, die Übungen zunächst unter krankengymnastischer Anleitung durchführen zu lassen. Medikamentöse Behandlungsstrategien sind in der Regel nicht erforderlich, umfassende apparative Untersuchungen überflüssig. Bei jedem zweiten Kranken mit gutartigem Lagerungsschwindel kommt es zu einem Rezidiv innerhalb der nächsten zehn Jahre, welches aber jeweils wieder erfolgreich mit einem Deliberationsmanöver behandelt werden kann.
Regel Nr. 4: Anhaltender Drehschwindel
kommt in der Regel vom Ohr!
Wenn über Stunden oder Tage ein heftiger Drehschwindel mit Übelkeit und Erbrechen auftritt, ist das fast immer ein vestibuläres Symptom. Beim Morbus Menière, welcher eine Lebenszeitprävalenz von etwa 0,5 Prozent hat (3), liegt den über Stunden anhaltenden Drehschwindelepisoden ein Endolymphhydrops zugrunde. Typischerweise haben die Patienten nicht nur einen heftigen Drehschwindel mit Übelkeit, Erbrechen und Spontannystagmus zur Gegenseite, sondern auch weitere Ohrsymptome wie Tinnitus, Ohrdruck oder Hypakusis. Die Drehschwindelepisoden wiederholen sich im Abstand von Wochen oder Monaten; eine effektive Prävention ist durch die hoch dosierte Gabe von Betahistin (72– 144 mg pro Tag; Betaserc® und Generika) möglich. Eine solche Therapie sollte mindestens über drei bis sechs Monate erfolgen. Wichtigste Differenzialdiagnose des Morbus Menière ist die Neuritis vestibularis. Der einseitige Ausfall der peripher vestibulären Funktion kommt durch einen viralen Infekt (vermutlich Herpes-simplex-Viren) zustande. Leitsymptom ist der akut einsetzende heftige Drehschwindel mit Spontannystagmus, Übelkeit und Erbrechen. Oft beginnt das Krankheitsbild subakut stotternd. Die akute Phase mit heftigem Schwindel, Übelkeit und Erbrechen klingt zumeist innerhalb von zwei bis drei Tagen ab; die Rekompensation kann einige Wochen in Anspruch nehmen. Durch die Gabe von Kortikosteroiden lässt sich der Krankheitsverlauf verkürzen (Beginn mit 100 mg Prednisolon, ausschleichendes Abdosieren über 10 Tage) (2). Sowohl beim Morbus Menière als auch bei der Neuritis vestibularis sollten Antiemetika (z.B. Dimenhydrinat 50 bis 300 mg täglich; z.B. Reisedragees Dropa®, Gem Voyage®, Swidro® oder Tesero Voyage® oder Trawell® KaugummiDragees) nicht länger als drei Tage gegeben werden, weil sonst die Kompensationsmechanismen behindert werden. Insbesondere bei der Neuritis vestibularis ist ein aktives Gleichgewichtstraining in Form von Blick- und Kopfbewegungen sowie Stand- und Gangübungen mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad unter Anleitung eines Physiotherapeuten sinnvoll (4).
Regel Nr. 5: Bei Dauerschwindel
an neurologische und psychiatrische
Erkrankungen denken!
Ein Dauerschwindel, der in Form eines Schwankschwindels bei Bewegungen auftritt, zu Gangunsicherheit führt und in Dunkelheit und auf unebenem Boden verstärkt vorhanden ist, sollte an eine bilaterale Vestibulopathie denken lassen. Sie ist Langzeitfolge nach Einsatz ototoxischer Medikamente, nach durchgemachten Innenohrerkrankungen oder bei Vitamin-B12-Mangel-Zuständen. Im höheren Lebensalter kann das Krankheitsbild auch degenerativ auftreten (5). Ein Dauerschwindel, der auch in Ruhe vorhanden ist und vormittags zunimmt, ist Ausdruck des somatoformen Schwindels. Die verstärkte Wahrnehmung physiologischer Körperschwankungen, welche den Kranken sehr beeinträchtigt, kann situativ verstärkt etwa beim Autofahren oder im Supermarkt zunehmen, die Symptome bessern sich oft bei körperlicher Bewegung (sportliche Aktivität). Bei diesem sogenannten phobischen Schwankschwindel muss der Patient am besten bereits vom Hausarzt darüber aufgeklärt werden, dass körperliche Gesundheit besteht und die Symptome durch eine bewusstseinsnahe Kontrolle der Gleichgewichtsfunktion entstehen. Da sich im Regelfall bereits ein Vermeidungsverhalten entwickelt hat, sollte der Patient gezielt ermuntert werden, auslösende Situationen schrittweise wieder aufzusuchen und dabei die bewusste Kontrolle zurückzudrängen. Sportliche Aktivität sollte gefördert werden, ohne dass ein gezieltes Schwindeltraining empfohlen wird. Gegebenenfalls können vorübergehend SSRI unterstützend verordnet werden.
Regel Nr. 6: Bei Schwindelbeschwerden
sind apparative Untersuchungen im Regelfall
nicht erforderlich!
Die Dysbalance oder der Ausfall eines Vestibularorgans kann durch eine kalorische Testung belegt werden – so lässt sich die Un- beziehungsweise Untererregbarkeit eines Vestibularorgans bei Morbus Menière oder bei der Neuritis vestibularis dokumentieren. Eine Hypakusis lässt sich audiometrisch dokumentieren, eine Leitungsstörung des N. vestibulocochlearis mittels akustisch evozierter Potenziale (AEP). Darauf, dass eine MRT der Halswirbelsäule immer überflüssig ist, wurde bereits hingewiesen. Nur einige seltene Differenzialdiagnosen erfordern eine kraniale Magnetresonanztomografie.
Regel Nr. 7: Bildgebende Diagnostik ist erforder-
lich beim abwendbar gefährlichen Verlauf.
Zu solchen Notfallsituationen zählen vertebrobasiläre Ischämien, welche in aller Regel aber nicht nur zu Schwindelbeschwerden, sondern auch zu Okulomotorikstörungen, Sensibilitätsstörungen, Koordinationsproblemen oder motorischen Ausfällen führen. Bei der Vestibularisparoxysmie werden Sekunden dauernde Drehschwindelattacken durch den pathologischen Kontakt zwischen einem arteriellen Gefäss und dem N. vestibulocochlearis im Hirnstammbereich ausgelöst. Der GefässNerv-Kontakt (wie bei der Trigeminusneuralgie) kann in der
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MRT nachgewiesen werden; die Behandlung erfolgt mit Carbamazepin.
Regel Nr. 8: Entscheidend für die Diagnose sind vier gezielte Fragen!
mit der Frenzel-Brille leichter erkennen. Die einzige Nystagmusform, die bei Fixation zu- und nicht abnimmt und damit ohne Frenzel-Brille besser zu sehen ist, ist der angeborene Fixationspendelnystagmus, der dem Untersucher eindrücklich erscheint, dem Patienten aber keinerlei Beschwerden macht.
Die erste Frage sollte stets die nach der Art des Schwindels sein: Handelt es sich tatsächlich um einen Drehschwindel (wie Karussell fahren) oder vielleicht um einen Schwankschwindel (wie an Bord eines Schiffes) oder um einen Benommenheitsschwindel? Die zweite Frage sollte die nach der Dauer des Schwindels sein: Handelt es sich um Schwindelattacken über Sekunden (benigner Lagerungsschwindel, Vestibularisparoxysmie), über Stunden (Morbus Menière oder Neuritis vestibularis) oder um einen Dauerschwindel (bilaterale Vestibulopathie, somatoformer Schwindel)? Die dritte Frage sollte die nach Begleitsymptomen sein: Treten gleichzeitig Hörprobleme oder ein Tinnitus auf (Morbus Menière), gibt es Kopfschmerzen (Migräne mit vestibulärer Aura), oder zeigen sich Leseschwierigkeiten beim Gehen (bilaterale Vestibulopathie)? Die vierte Frage schliesslich sollte die nach Auslösemechanismen sein: Treten die Beschwerden bei Bewegungen einschliesslich beim Umdrehen im Bett auf (benigner Lagerungsschwindel), zeigt sich der Schwindel beim Gehen (bilaterale Vestibulopathie), in bestimmten Situationen (Agoraphobie, Klaustrophobie, phobischer Schwankschwindel), oder spielen pressorische Manöver eine Rolle (Schwindel bei der seltenen Perilymphfistel)?
Regel Nr. 10: Der Kopfimpulstest nach Halmagyi ist eine einfache Untersuchungsmethode der peripher-vestibulären Funktion.
Sie bitten den Patienten, ein festes Ziel (am besten Ihre eigene
Nase oder Brille) zu fixieren. Den Kopf des Patienten bewe-
gen Sie dann mit hoher Beschleunigung und Geschwindigkeit
sowie geringer Auslenkung in der Horizontalebene. Wenn
der horizontale vestibulookuläre Reflex intakt ist, werden Sie
keine Nachstellbewegungen beobachten können. Wenn die
vestibuläre Funktion gestört ist, kommt es bei Kopfdrehung
in die betroffene Richtung zu Korrektursakkaden. Wenn Sie
diesen Test beherrschen, ist die Überweisung zur Kalorik oft
nicht mehr notwendig.
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Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Peter Berlit Direktor der Klinik für Neurologie Alfried Krupp Krankenhaus Alfried-Krupp-Strasse 21 D-45117 Essen E-Mail: peter.berlit@krupp-krankenhaus.de
Regel Nr. 9: Auch in der Hausarztpraxis
ist die Anschaffung einer Frenzel-Brille sinnvoll!
Mit der Frenzel-Brille lässt sich die Fixation des Patienten ausschalten und ein Nystagmus besser erkennen. Das gilt insbesondere für den Spontannystagmus beim Morbus Menière und bei der Neuritis vestibularis, aber auch für seltene Nystagmusformen wie den Downbeat- oder Upbeat-Nystagmus, welche bei neurodegenerativen Erkrankungen auftreten können. Auch der rotatorische Nystagmus des benignen Lagerungsschwindels lässt sich im Rahmen von Lagerungsmanövern
Interessenkonflikte: keine deklariert
Literatur: 1. Von Brevern M, Radtke A, Lezius F et al.: Epidemiology of benign paroxysmal positional
vertigo: a population based study. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2007, 78: 710–715. 2. Strupp M: Schwindel-Therapie. In: Leitlinien für die Diagnostik und Therapie in der
Neurologie. Thieme, Stuttgart, 2012; S. 636–647. 3. Neuhauser HK: Epidemiology of vertigo. Curr Opin Neurol 2007; 20: 40–46. 4. Strupp M, Arbusow V, Maag KP et al.: Vestibular exercises improve central vestibulo-
spinal compensation after vestibular neuritis. Neurology 1998; 51: 838–844. 5. Zingler VC, Cnyrim C, Jahn K et al.: Causative factors and epidemiology of bilateral
vestibulopathy in 255 patients. Ann Neurol 2007; 61: 524–532.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 18/2012. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. Kleine Anpassungen, wie das Auflisten der hier verfügbaren Produkte, erfolgten durch die Redaktion ARS MEDICI.
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