Transkript
FORUM
Die dezentrale vernetzte Landarzt-Gruppenpraxis
Modell zur mittel- und langfristigen Sicherstellung der hausärztlichen Notfall- und Grundversorgung in ländlichen Gebieten
JÜRG WEBER
Es wird ein Modell dargestellt, das derzeit im Notfallkreis Thurtal-Untersee
(Praxen der Gemeinden F e l b e n - We l l h a u s e n , Müllheim, Wigoltingen, Steckborn, Berlingen, Ermatingen) in Umsetzung und Realisierung begriffen ist. Die 10 beteiligten Praxen mit 15 Hausärzten (davon 7 mit Teilzeitpensen) versorgen in einem Einzugsgebiet von rund 10 × 10 km2 grob geschätzt etwa 1/10 der Fläche sowie 1/10 der Wohnbevölkerung des Kantons Thurgau.
Problemstellung Das bisherige Grundversorgungsnetz soll erhalten bleiben. Es ist gefährdet wegen der zunehmenden Rekrutierungsschwierigkeiten von Nachfolgern für altershalber ausscheidende Kollegen in den Land- und Einzelpraxen. Der kontinuierliche, bisher ungebremste Reallohnverlust bei Ärzten in freier Praxis ist ebenso ein Grund für die mangelnde Attraktivität des Einstieges in den Hausarztberuf wie der durch den Numerus clausus künstlich beschränkte Nachschub potenzieller Interessenten. Die nächste Hausarztgeneration steht bereit. Eine Anpassung der Rahmenbedingungen an die Vorstellungen und Bedürfnisse derselben ist aber unumgänglich. Die nächste Hausärztegeneration ist charakterisiert durch: ❖ Feminisierung ❖ Teilzeitpensen ❖ verstärkte Gewichtung einer aus-
geglichenen Work-Life-Balance
Unser Lösungsansatz Generelle Lösungsansätze für «Grundversorgerproblem» sind: ❖ zentrale und (neu) dezentrale
Gruppenpraxen ❖ Tarifkorrekturen
(Tarmed, AL, DMA-Marge) ❖ Human resources/
Nachfolgerekrutierung
das
In ländlichen Regionen, wo ein noch funktionierendes Netz etablierter Praxen besteht, muss alles daran gesetzt werden, dieses Netz aufrechtzuerhalten. Basis unseres neuen Lösungsansatzes ist das freiwillige Ausnützen von Synergien und Kooperation in Form der dezentralen vernetzten Landarzt-Gruppenpraxis. Es müssen keine neuen Strukturen geschaffen werden, sondern es soll auf der Basis des Bestehenden und Funktionierenden ärzteseits mitgeholfen werden, die eingangs erwähnte Problematik zu lösen. Hierfür sind wir aber auch auf die politische/ ideelle Unterstützung regional, kantonal, auf Bundesebene sowie vonseiten der künftigen Kreditgeber angewiesen.
A. Ziele und Eckwerte Ziele und Eckwerte der dezentralen vernetzten Landarzt-Gruppenpraxis: ❖ Erhalt der Grundversorgerpraxen in
den Dörfern ❖ Nachfolgerekrutierung «aus eigener
Kraft» ❖ Entlastung im Alltag (gegenseitig,
PA, MPA) ❖ Mittelweg zwischen Autonomie und
Teamwork/Vernetzung ❖ Förderung der Unterstützung durch
politische Instanzen und Kreditgeber
Generell wollen wir dies Erreichen durch Förderung der Attraktivität und Akzeptanz des Landarztberufes in eigener Praxis, durch gezielte Nachwuchs-
förderung in Form von Studentenunterricht und Praxisassistentenausbildung sowie durch Kooperation mit den lokalen und regionalen Behörden, damit der Hausarztnachwuchs und die Besetzung der Landpraxen nicht dem Zufall überlassen wird, sondern optimal koordiniert und gesteuert wird.
B. Konkretes Vorgehen Zwei Projektleiter teilen die organisatorische, administrative und koordinative Arbeit, getrennt in «Inneres» (interne Organisation, Abläufe, innere Vernetzung) und «Äusseres» (Vernetzung nach aussen, Politisches, Information). Die Detailprojekte werden auf die beteiligten Ärzte verteilt. Jeder betreut mindestens ein Detailprojekt ehrenamtlich in Eigenverantwortung und stellt die damit verbundenen (Dienst-) Leistungen den daran Interessierten zur Verfügung. Gemeinsame Basis sind der Wille und die Bereitschaft zur Sicherstellung des hausärztlichen Notfalldienstes 7 × 24 Stunden in den eigenen Praxen mit Hausbesuchen im ganzen Einzugsgebiet. Jede Praxis bestimmt, an welchen zusätzlichen Projekten modulartig und flexibel aktiv oder passiv teilgenommen wird. Die Teilnahme soll freiwillig sein, beziehungsweise auf Überzeugung basieren. Die einzelnen Praxen bleiben wirtschaftlich und juristisch autonom, zudem soll nur eine minimale zusätzliche Administration entstehen.
C. Detailprojekte Aus generell gegen 20 Modulen können je nach regionalen Bedürfnissen die erwünschten und prioritär zu bewirtschaftenden Module ausgewählt und umgesetzt werden. Die wichtigsten Module scheinen uns die Gewährleistung der Notfallversorgung mit hausärztlichem Notfalldienst (gegenseitige Vertretung bei kurzfristiger Abwesenheit) mit bestmöglicher Rücksichtnahme bei der Dienstverteilung auf die privaten Bedürfnisse sowie die bestmögliche regionale Koordination der Sprechstundenvertretung bei längeren Abwesenheiten und bei Ferien zu sein. Das ursprünglich beabsichtigte Festhalten am 24-Stunden-Notfalldienst in/ aus den Einzelpraxen wird mittelfristig nicht aufrechtzuerhalten sein, sodass die Notfallversorgung ausserhalb der Sprechstundenzeiten, wie vielerorts be-
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reits üblich und offenbar bewährt, über die Notfallpraxen an den Spitälern abgewickelt werden wird, an deren Betrieb sich unser Kollektiv beteiligt. Möglichst viele Praxisinhaber sollen als Lehrärzte der universitären Institute für Hausarztmedizin tätig sein und Praktikumsplätze anbieten für die Ausbildung von Studenten in Hausarztmedizin. Kurz- und mittelfristig noch effektiver sollte das Modul Praxisassistenz sein, indem möglichst viele Praxen Stellen für die Ausbildung von Praxisassistenten über 3, 6 oder 12 Monate anbieten. Bewähren dürfte sich auch das Modul MPA-Wesen, wo vermehrte Entlastung des Arztes durch Förderung der MPAs wie auch regional optimierte Personalpolitik angestrebt werden kann. Ein Kollege setzt sich spezifisch intensiv mit den Belangen von EDV, elektronischer KG und e-health auseinander und informiert die übrigen Mitglieder über neue Entwicklungen und Erkenntnisse. Weitere Module sind «Spezialisierung» der Ärzte und gegenseitige Zuweisung, strukturierte Fortbildung im Qualitätszirkel, hiermit verbunden die Optimierung der Zusammenarbeit mit Spezialisten und Spitälern. Einer für alle. Dieses Prinzip wird den Modulen Fortbildungsreview, Pressespiegel, Standespolitik zugrunde gelegt,
wo jemand die eingehenden Informationen sichtet und für die Übrigen zusammenfasst. Ein weiteres Projekt ist eine gemeinsame Praxisinformationsschrift mit allgemeinem und praxisspezifischem Teil. Ein Mitglied betreut das Ressort Praxisapotheke/direkte Medikamentenabgabe/ Selbstdispensation, wo wir uns standespolitisch für den Erhalt der SD, aber auch für eine korrekte Tarifgestaltung im Tarmed und bei der AL einsetzen. Nach aussen soll die dezentrale vernetzte Landarzt-Gruppenpraxis in Erscheinung treten gegenüber den lokalen Behörden zwecks Verankerung der Praxen als zentrale Anlaufstelle für alle Fragen der Gesundheitsversorgung in den Gemeinden. Neben der Information der Behörden über Berufstheorie, Tätigkeit und Leistungsspektrum der Landarztpraxen soll insbesondere eine gemeinsame koordinierte Zukunftsplanung erfolgen. Daneben soll aber auch Goodwill geschaffen und grösseres Vertrauen bei den Banken als Kreditgeber gewonnen werden mit der Konsequenz attraktiver Konditionen und massvoller Unterstützung der nächsten Hausärztegeneration. Unabhängig von der Studentenausbildung und allfälligen Studien ist der Kontakt mit den Hausarztinstituten der Universitäten zu fördern mit dem
Ziel des koordinierten und starken Ein-
satzes für die Hausarztmedizin, aber
auch mit dem Einsatz für Forschung in
der Hausarztpraxis.
Mit diesem Beitrag möchte ich sowohl
die Ärzteschaft als auch die Gemeinde-
behörden speziell in ländlichen Regio-
nen ermuntern, sich frühzeitig lokal
und regional zusammenzusetzen und
abzusprechen, um absehbare (Pensio-
nierung, Pensumsreduktion), speziell
aber auch unerwartete und plötzliche
Engpässe (Krankheit, Todesfall) mit
Hilfe des dargestellten Modells auffan-
gen und überbrücken zu können, ohne
dass bewährte Land- und Dorfpraxen
geschlossen werden müssen.
❖
Kontaktadresse/Anforderungen für den detailllierten Modellbeschrieb: Dr. med. Jürg Weber Facharzt FMH für Allgemeinmedizin Lehrbeauftragter der Universität Bern für Allgemeinmedizin Grundstrasse 3 8556 Wigoltingen E-Mail: juerg.weber@hin.ch
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