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Blasenfunktionsstörungen bei multipler Sklerose
Symptomatische Therapie steigert die Lebensqualität und hilft Komplikationen vermeiden
FORTBILDUNG
Neurogene Blasenfuntionsstörungen kommen im Verlauf der multiplen Sklerose sehr häufig vor. Trotz der für die Patienten sehr belastenden Symptome können mit einem individuellen, multimodalen und häufig interdisziplinären Management in vielen Fällen eine Symptomlinderung sowie relevante Verbesserungen der Lebensqualität erreicht werden.
SYLVAN J. ALBERT UND JÜRG KESSELRING
Man kann davon ausgehen, dass nach 5-jähriger Krankheitsdauer zirka 50 Prozent der Patienten davon betroffen sind, darunter auch Patienten mit im Übrigen vergleichsweise geringen körperlichen Folgen (1). Die Prävalenz nimmt bei MS-Patienten mit einem schwerwiegenden Krankheitsverlauf auf mehr als 90 Prozent zu. Detrusorhyperaktivität und die DetrusorSphinkter-Dyssynergie sind die häufigsten Blasenfunktionsstörungen bei MS, hypokontraktiler Detrusor und (seltener) ein hypoaktiver Sphinkter sind weitere Unterformen. Die Symptome einer neurogenen Blasenstörung haben für die Patienten grosse Auswirkungen auf Morbidität, Lebensqualität, Alltagsgestaltung und psychosoziale Faktoren. So wurde unter Anwendung der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) die ICF-Kategorie «urinary function» (b620) als hochgradig problematisch bei 94 von 101 MS-Patienten beschrieben. Auch in Anwendung der MS-spezifischen «ICF Core Sets» wurden Schwierig-
Merksätze
❖ Detrusorhyperaktivität und Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie sind die häufigsten neurogenen Blasenstörungen bei MS.
❖ Es ist unerlässlich, bei Patienten mit überaktivem Detrusor und Urgeinkontinenz abzuklären, ob auch eine Blasenentleerungsstörung (Restharn) vorliegt.
❖ Die Symptome können oft durch antimuskarinerge Medikamente gelindert werden.
❖ Die Verschlimmerung einer Blasenfunktionsstörung bei MS kann Ausdrucks eines Infekts, aber auch einer Verschlechterung der Grundkrankheit sein.
keiten im Bereich der ableitenden Harnwege als ausserordentlich relevant erkannt (2). Blasenfunktionsstörungen mit Inkontinenz gelten als besonders schwerwiegende Krankheitsfolge. Die psychosozialen Auswirkungen einer Inkontinenz wiegen bei Patienten mit einem niedrigen Behinderungsgrad und vielen sozialen Aktivitäten vergleichsweise schwerer als bei Patienten mit einem hohen Behinderungsgrad (3). Massnahmen zur Verbesserung der Blasenfunktionsstörungen bei MS haben sowohl in der allgemeinmedizinischen als auch in der fachärztlichen Betreuung einen hohen Stellenwert. Dies gilt auch für den ambulanten und stationären Bereich der MS-spezifischen Rehabilitation. Ein spezifisches Rehabilitationsprogramm bei Blasenfunktionsstörungen (mit vorangehender genauer Diagnostik des Subtyps der jeweiligen Störung) im Rahmen einer MS-spezifischen Rehabilitation hat sich in einer kontrollierten Studie mit signifikanten Verbesserungen hinsichtlich Symptomschwere und Einfluss auf die Lebensqualität als sehr wirksam erwiesen (2). Der Stellenwert spezifischer Massnahmen zur Verbesserung von Blasenfunktionsstörungen bei MS-Patienten wurde auch in weiteren Arbeiten (4) unterstrichen.
Pathophysiologie Die neurogene Blasensteuerung mit dem Ziel der Kontinenz sowie die koordinierte Miktion durch Kontrolle des Blasensphinkters und der Blasenwandmuskulatur (Detrusor) sind komplex und umfassen zentrale und periphere, afferente und efferente Verbindungen. Neben den übergeordneten kortikalen Blasenzentren hat das pontine Miktionszentrum eine besondere Funktion in der Verbindung und Steuerung der kortikalen, spinalen und schliesslich sakralen Segmente beziehungsweise peripheren Nerven. Die Koordination der einzelnen Blasenfunktionen hat ebenfalls eine grosse Bedeutung: Wenn der Detrusor (parasympathische, muskarinerge Rezeptoren) kontrahiert, kommt es physiologischerweise zu einer Hemmung des inneren Urethrasphinkters (im Blasenhals; Alpha-Rezeptoren), begleitet von einer Relaxation des M. sphincter urethrae externus (quergestreifte Muskulatur), sodass eine vollständige Blasenentleerung erfolgen kann. Wird der Sphinkter aber nicht ausreichend geöffnet, kann Restharn (Grenzwert bei ca. 100 ml) zurückbleiben. Besonders häufig und schwerwiegend sind neurogene Blasenstörungen bei MS, wenn eine spinale Beteiligung vorliegt (5). Es besteht eine starke Korrelation zwischen dem Auftreten von Blasenfunktionsstörungen und Störungen der sexuellen Funktion.
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Symptomatik und Komplikationen Die Detrusorhyperaktivität und die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie sind mit zirka 62 beziehungsweise 25 Prozent die häufigsten Blasenstörungen bei MS (6) (Abbildung). Hierbei spüren die Betroffenen einen häufigeren und rasch ansteigenden Harndrang (imperativer Harndrang), welcher im schlimmsten Fall in einen unwillkürlichen Urinverlust übergeht (Urgeinkontinenz) und mit einer erhöhten Miktionsfrequenz verbunden ist (Pollakisurie). Zu Beginn kann die eigentliche Inkontinenz meist noch verhindert werden.
Grundkrankheit sein, zum Beispiel bei einem spinalen Schub. Umgekehrt kann eine exazerbierte Blasenfunktionsstörung mit Harnwegsinfekt auch zu einer Verschlechterung der MS-Symptomatik in anderen Bereichen führen.
Zunächst Harnwegsinfekt abklären Im Anschluss an die Befragung und klinische Untersuchung besteht die erste Massnahme meist in der Abklärung eines möglichen urologischen Infekts, dies auch bei Verschlechterungen im Krankheitsverlauf von Patienten mit bekannter Blasenfunktionsstörung. Da es sich zumeist um komplizierte Harnwegsinfekte handelt, nicht selten mit bereits erfolgten antibiotischen Vorbehandlungen, sollte frühzeitig eine Materialgewinnung mit mikrobiologischer Kultur (einschliesslich nicht bakterieller Erreger wie Pilzen) und Antibiogramm erfolgen, um eine gezielte, resistenzgerechte Antibiotikatherapie zu ermöglichen. Bei häufigen Infekten kann eine pH-Wert-Modifikation des Urins erfolgen (Methionin [Acimethin®], Preiselbeer-/ Cranberrykapseln oder -saft u.a.). Gegebenenfalls muss auch das Kathetermanagement überprüft werden.
Abbildung: Schematische Darstellung der häufigsten Blasenstörungen bei multipler Sklerose a) Normal: ausreichend grosses Blasenvolumen; anatomische Strukturen:
(I.) Detrusor (muskarinerge Rezeptoren); (II.) innerer Urethrasphinkter im Blasenhals (Alpharezeptoren); (III.) M. sphincter urethrae externus (quergestreifte Muskulatur) b) Detrusorhyperaktivität: häufige und verstärkte Kontraktionen, verkleinertes Harnblasenvolumen, häufige Miktion c) Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie: wie b), zusätzlich eingeschränkte Koordination der Sphinkteröffnung mit schwächerem und unter Umständen fraktioniertem Harnstrahl sowie der Gefahr der inkompletten Blasenentleerung (Restharn)
Die Beschwerden kommen durch den raschen und verstärkten Tonusanstieg der Blasenwandmuskulatur eventuell in Kombination mit einem bereits verkleinerten Blasenvolumen zustande. Kommt es zusätzlich zu einer unvollständigen Sphinkteröffnung, wie bei der Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, droht ausserdem die Gefahr der Restharnbildung, was die Häufigkeit der Symptome noch verstärkt. Zusätzlich bemerken diese Patienten einen schwächeren und unter Umständen fraktionierten Harnstrahl sowie Startschwierigkeiten bei der Miktion. Wie eingangs erwähnt, können aber auch ein hypokontraktiler Detrusor (mit Retention) oder ein hypoaktiver Sphinkter vorkommen oder Kombinationen aus verschiedenen Pathologien. Die Inkontinenz beziehungsweise Notwendigkeit einer häufigen Miktion hat grosse Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen. Dazu können aber je nach Subtypus der Blasenfunktionsstörung individuell weitere Komplikationen auftreten, besonders häufig bei einer Kombination mit Restharn: vermehrte Harnwegsinfekte sowie die Gefahr des Refluxes über die Urether mit der Gefahr einer renalen Schädigung. Die Verschlimmerung einer Blasenfunktionsstörung kann Ausdruck eines Infekts, aber auch einer Verschlechterung der
Wie gross ist die Menge an Restharn? Bei Patienten mit überaktivem Detrusor und Urgeinkontinenz muss unbedingt abgeklärt werden, ob auch eine Blasenentleerungsstörung (Restharn) vorliegt. Spontan berichten Betroffene seltener über Restharn als über die Symptome einer Detrusorhyperaktivität. Einige Patienten bemerken zwar Restharn, schildern dies aber erst auf auf gezielte Nachfrage hin, sodass man dies in der Anamnese berücksichtigen sollte. Jedoch spüren bei Weitem nicht alle Patienten das Vorliegen von Restharn in ausreichendem Mass, sodass Zusatzuntersuchungen nötig sind. Eine einfach durchzuführende und nicht invasive Untersuchung ist die Restharnbestimmung mittels Sonografie nach Miktion. Auch durch Einmalkatheterisierung kann man Restharnmengen bestimmen beziehungsweise den Verlauf der Restharnmengen im Lauf der Zeit verfolgen.
Nicht medikamentöse Massnahmen Bei Blasenentleerungsstörungen beziehungsweise Startschwierigkeiten bei der Miktion profitieren manche Patienten von taktilen Stimulationen, etwa auch durch Vibrationsstimulatoren. Häufig muss jedoch bei zu hohen Restharnmengen eine Katheterisierung erfolgen. Hilfreich für die Evaluation sind entsprechende Miktions- und Trinkprotokolle. Durch ein Training der Beckenbodenmuskulatur und eventuell ein Blasentraining können einige Patienten besser mit den Symptomen der Urgeinkontinenz umgehen oder die Funktion eines hypoaktiven Sphinkters kompensieren.
Medikation bei Detrusorhyperaktivität und intermittierender Selbstkatheterisierung Die Minderung der Detrusorhyperaktivität ist das häufigste Ziel einer medikamentösen Intervention. Sie kommt in Betracht, wenn das Restharnvolumen unter 100 ml liegt (oder wenn katheterisiert wird). Hierfür sind verschiedene antimuskarinerge Rezeptorantagonisten verfügbar (Tabelle). Auch wenn in der Blasenmuskulatur überwiegend M2-Rezeptoren vorkommen, spielt beim Gesunden die Funktion
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Tabelle:
Antimuskarinerge Substanzen mit Zulassung in der Schweiz zur Hemmung des überaktiven Detrusors
Substanz Darifenacin Fesoterodin Oxybutynin
Solifenacin Tolterodin Trospiumchlorid Quelle: modifiziert nach (5)
Handelsname Schweiz
Emselex® Toviaz® Ditropan® Lyrinel® Oros® Kentera® (Matrixpflaster) Vesicare® Detrusitol® SR Spasmo-Urgenin® Neo
Dosierung
1 × 7,5 mg (15 mg) 1 × 4 mg (8 mg) 3 × 5 mg 1 × 5 mg (10/15/20 mg) 1 × 3,9 mg/24 h 1 × 5 mg (10 mg) 1 × 4 mg (2 mg) 2 × 20 mg
Rezeptorsubtyp
selektiv M3 nicht selektiv nicht selektiv nicht selektiv nicht selektiv selektiv M3 nicht selektiv nicht selektiv
Halbwertszeit (h)
13–18 ca. 7 2, 3 – – 40–68 2, 4 20
der M3-Subrezeptoren eine wichtige Rolle, wobei die genaue klinische Relevanz dieser unterschiedlichen M-Subtypen für die medikamentöse Therapie teilweise noch offen ist. In jüngerer Zeit wurden neben unselektiven auch selektive, das heisst vor allem an M3-Rezeptorsubtypen ansetzende Substanzen eingeführt. Ein weiterer Punkt, der bedacht werden muss, ist die Wirkdauer und erforderliche Häufigkeit der Applikation. Hier gibt es teilweise Galenikformen mit verlängerter Wirkdauer. Typische Nebenwirkungen sind durch die systemische parasympathische Wirkungsweise bedingt und umfassen unter anderem Mundtrockenheit, Müdigkeit, Akkommodationsstörungen sowie gastrointestinale Nebenwirkungen. Die Verschreibung von anticholinergen Substanzen bei älteren Menschen oder auch MS-Patienten mit neurokognitiven Störungen sollte mit Bedacht erfolgen. Potenziell kann sich die neurokognitive Funktion verschlechtern beziehungsweise ein prodeliranter Effekt auftreten. Man nimmt an, dass Substanzen wie Tolterodin und Trospiumchlorid, die weniger lipophil sind als andere Anticholinergika, die Blut-HirnSchranke schlechter passieren können und somit auch weniger zentrale anticholinerge Nebenwirkungen mit Hinblick auf die Kognition verursachen. Alphablocker sollten die Sphinkteröffnung bei einer Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie erleichtern. Die Wirksamkeit in der Praxis ist aber leider unter den Erwartungen geblieben (5). In Einzelfällen oder bei Männern, bei welchen eine benigne obstruktive Prostataerkrankung als Kofaktor vorliegt, kann ihr Einsatz indiziert sein.
Wann zum Spezialisten? In unklaren oder schwierigeren Situationen, beispielsweise bei häufigen Infekten oder weiterhin bestehenden Beschwerden sowie häufig für das Kathetermanagement, sollte ein in neurologischen Fragestellungen erfahrener Urologe hinzugezogen werden. Zusätzliche Untersuchungen umfassen gegebenenfalls eine Urethrografie/Zystoskopie, Abklärungen von Begleiterkrankungen (etwa bei Männern die obstruktiven Erkrankungen der Prostata) sowie funktionelle Untersuchungen im Sinne
der Videourodynamik. Schliesslich verfügt die Neuro-Urologie mit der Methodik der intravesikalen Botulinumtoxinbehandlung (siehe unten) über eine weitere effiziente Behandlungsmethode. In schweren Fällen einer Nykturie kann im Einzelfall beim sonst kardiovaskulär Gesunden ohne Ödeme (unter 65-jährig) unter Kontrolle der Elektrolyte eine Desmopressinbehandlung (synthetisches antidiuretisches Hormon) indiziert sein.
Dauerkathether Eine dauerhafte Katheterisierung ist bei Patienten erforderlich, bei denen eine intermittierende Katheterisierung nicht möglich ist, beispielsweise weil sie sich wegen eingeschränkter Feinmotorik nicht mehr selbst katheterisieren können und/oder eine intermittierende Fremdkatheterisierung nicht infrage kommt. Der transurethrale Dauerkatheter ist häufig nur eine vorübergehende Lösung. Besonders bei länger dauerender Anwendung kann es beim Mann zu einer Verletzung der distalen Urethra durch den Katheterzug kommen und bei der Frau zu einer Urethra- und Blasenhalsverletzung (5). Zusätzlich beklagen Patienten häufig Beschwerden durch den Katheterverlauf selbst. Ein suprapubischer Katheter wird demgegenüber oberhalb der Symphyse durch die Bauchdecke in die Blase eingeführt und sollte nur durch einen Urologen oder erfahrenen Arzt gelegt werden. Neben einer Beutelableitung ist für bestimmte Patienten seltener auch die Verwendung eines Katheterventils eine Option, wobei eine Leerung meist nach drei bis vier Stunden beziehungsweise nach individueller Festlegung zu empfehlen ist, zumal viele Patienten bereits ein reduziertes Harnblasenvolumen aufweisen. Ein regelmässiger Wechsel des suprapubischen Katheters, zumeist alle sechs Wochen, sollte vorgenommen werden.
Botulinumtoxin In Fällen einer Detrusorhyperaktivität mit unzureichendem Ansprechen auf antimuskarinerge Medikation oder beim Auftreten von nicht tolerablen Nebenwirkungen kann im
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Rahmen einer Zystoskopie die intravesikale Injektion von Botulinumtoxin erwogen werden (7). Hierbei konnte in kontrollierten Studien zuerst bei Patienten mit spinalen Verletzungen, später auch für Patienten mit MS eine deutliche Minderung der Überaktivität der Blase nachgewiesen werden (8). Heute kann diese Massnahme bei Verwendung von flexiblen Endoskopen für die Zystoskopie in vielen Fällen unter Sedation, aber ohne Allgemeinnarkose erfolgen. Es werden je nach Botulinumtoxinsubtyp beispielsweise für das Präparat Botox® 100 bis 300 Einheiten verteilt auf zirka 20 bis 30 Injektionspunkte unter Aussparung des Trigonums appliziert (7). Für den Fall einer begleitenden Hyperaktivität des Sphinkters ist eine intermittierende Selbstkatherisierung weiterhin nötig. Diese kann sogar nach einer Botulinumtoxinbehandlung bei einem Teil der Patienten überhaupt erst nötig werden. Diese Nebenwirkung wurde in einer Evaluation (8) aufgrund der guten Wirkung auf die Detrusorhyperaktivität jedoch nicht als negativ hinsichtlich der Lebensqualität beurteilt. Die intravesikale Botoxbehandlung wurde in der Schweiz kürzlich als Indikation im Sinne einer erstattungsfähigen Behandlungsmöglichkeit bei neurogenen Blasenstörungen mit Detrusorhyperaktivität anerkannt und ist somit keine «Off-label»-Behandlung mehr. Der Effekt kann zirka 4 bis 9 Monate anhalten.
Zusammenfassung Trotz Fortschritten in der medikamentösen immunmodulatorischen beziehungsweise -suppressiven Behandlung der schubförmig verlaufenden MS in den letzten Jahren haben die symptomatischen Therapieansätze im klinischen Alltag ihren herausragenden Stellenwert für die Betreuung der Patienten behalten. Generell ist das Ziel der symptomatischen Therapie eine Symptombeseitigung oder zumindest -linderung sowie die Vermeidung sekundärer Schäden. Hierbei sind das Management und die Behandlung neurogener Blasenfunktionsstörungen sehr bedeutsam und eine der häufigsten Fragestellungen. Weitere wichtige Bereiche sind Störungen der Motorik (Spastik, Ataxie, Tremor), der Funktionen der Hirnnerven und des Hirnstamms (Augenbewegungsstörungen, Doppelbilder), Sprech- und Schluckstörungen, neurokognitive Defizite, motorische und psychische Fatiguesymptomatik, Thermosensitivität, neuropathische und sekundäre Schmerzen, anfallartige Symptome sowie weitere vegetative Funktionsstörungen; neben den hier besprochenen Blasenfunktionsstörungen unter anderem Darm- und Sexualfunktionsstörungen. Detrusorhyperaktivität und Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie sind die häufigsten neurogenen Blasenstörungen bei MS, besonders wenn eine spinale Beteiligung vorliegt. Nach gründlicher Abklärung, darunter auch der Feststellung der Restharnmenge nach der Miktion, können die Symptome häufig mit antimuskarinergen Medikamenten gelindert werden. Bei pathologischen Restharnmengen ist das Management der Wahl – soweit durchführbar – die intermittierende Selbstkatheterisierung. In komplexeren Situationen ist die
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interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Allgemeinmedi-
ziner, Neurologen und in neurologischen Fragestellungen
erfahrenen Urologen sehr wichtig, wobei ein detailliertes
Miktions- und Flüssigkeitsmanagement, Kathetermanage-
ment, Infektprophylaxe und -behandlungen sowie gegebe-
nenfalls intravesikale Botulinumtoxininjektionen wichtige
Themen sind.
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Korrespondenzadresse: Dr. med. Sylvan J. Albert, MSc Leitender Arzt Klinik für Neurologie und Neurorehabilitation Rehabilitationszentrum Valens 7317 Valens E-Mail: sylvan.albert@kliniken-valens.ch
Die Autoren weisen darauf hin, dass für Angaben zu Medikamenten und Dosierungen trotz sorgfältiger Prüfung keine Haftung übernommen werden kann.
Interessenkonflikte: Die Autoren haben im Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenkonflikte zu deklarieren.
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