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«Nicht ohne klinische Untersuchung direkt zum MRI»
Schulterschmerzen erfordern eine sorgfältige Funktionsdiagnostik
Fachtagung Schulterprobleme – Wege zum Erfolg «Schulterprobleme – was ist häufig, was selten?», Vortrag von Dr. Ulrich W. Böhni, Facharzt FMH für Rheumatologie und Innere Medizin, Praxisgemeinschaft ZeniT, Schaffhausen, Rehaklinik Bellikon, 8. November 2012.
Schmerzsyndrome im Schulterbereich können auf sehr unterschiedlichen Ursachen beruhen. Hinweise gibt eine genaue Funktionsdiagnostik, wobei die bekannten Tests nur eine beschränkte Sensitivität und Spezifität aufweisen. Interventionen müssen auf einer durch sorgfältige klinische Untersuchung gestützten Diagnose basieren.
HALID BAS
Bei Schmerzsyndromen im Bereich der Schulter ist immer an die regionale Konvergenz der Afferenzen aus Haut, Muskeln, Wirbelsäule, Gelenken, inneren Organen und weiteren Strukturen
weise um einen neurogenen (radikulären oder peripheren) Schmerz handelt. «Der lokale Schmerz ist also unspezifisch bezüglich der Lokalisation der Schmerzquelle und auch unspezifisch hinsichtlich der Ursache», sagte Dr. Ulrich W. Böhni, Praxisgemeinschaft ZeniT, Schaffhausen. Myofasziale Schulterschmerzen sind häufig und gehen mit Triggerpunkten in den M. pectoralis major oder minor, M. infra- oder supraspinatus, M. teres major oder minor beziehungsweise M. subscapularis einher.
Nicht immer ist es die Schulter Eine typische Quelle für Schulterschmerzen kann eine aktivierte Spondylarthrose der Halswirbelsäule (C3/C4) sein. In solchen Fällen ist nicht weiter verwunderlich, dass subakromiale Injektionen nutzlos bleiben. Anamnese respektive sorgfältige Untersuchung auch der Halswirbelsäule sind dann wegweisend, denn der Schulterschmerz lässt sich durch Kopfdrehung provozieren. Für den in die Schulter fortgeleiteten Schmerz sind der Plexus brachialis sowie die regionalen Hautdermatome wichtig, die ± ein Dermatom zur nozizeptiven Quelle umfassen, also C3/4
«Der lokale Schmerz ist unspezifisch bezüglich der Lokalisation der Schmerzquelle und auch unspezifisch hinsichtlich der Ursache.»
zu denken, deren Signale sich schon auf Rückenmarksebene vereinigen und dann Richtung Gehirn weitergeleitet werden. Dies bedeutet, dass ein Schmerz in der Schulter artikulär, myofaszial oder neuromeningeal sein kann, und es bleibt vorerst offen, ob die Schmerzquelle tatsächlich lokal ist, oder ob es sich um einen fortgeleiteten oder möglicher-
bis Th1/2. Ausserdem sind die Verbindungen zum sympathischen Grenzstrang an der oberen Brustwirbelsäule ausgeprägt. «Ein Schulterschmerz kann auch Ausstrahlung einer HWS-Pathologie sein, eine zervikale Diskushernie kann einen primären Skapula-Schulterschmerz als radikuläres Symptom unterhalten», präzisierte Dr. Böhni.
Untersuchung immer mit Blick auf alle beteiligten Strukturen Kein anderes Gelenk kennt so viele Freiheitsgrade. Entsprechend komplex sind die artikulären Strukturen im Schulterbereich: ❖ Glenohumerales Gelenk zwischen
Humeruskopf und Schulterblatt ❖ Subakromiales Gleitlager («subdel-
toid joint») ❖ Akromioklavikulares (AC-)Gelenk ❖ Sternoklavikulares (SC-)Gelenk ❖ Skapulothorakales «Gelenk» (bzw.
Gleitlager).
Wichtig für die Abduktion sind die Rotation der Skapula (u.a. durch den M. deltoideus) sowie die Zentrierung des Humeruskopfs durch die stabilisierende Rotatorenmanschette. Eine maximale Abduktion benötigt neben der Hebermuskulatur auch eine freie Skapulabeweglichkeit und eine optimale muskuläre Stabilisierung des Schulterblatts. Bei der Abklärung helfen einige allgemeine Schlüsselfragen (Kasten). Zur Untersuchung gibt es eine Fülle von Methoden, wobei einzelne Tests isoliert eine relativ geringe Sensitivität und Spezifität besitzen, wie Dr. Böhni mahnte. Bei der Testung von Infraspinatus und Subskapularis ist die Sensitivität oft mässig, die Spezifität jedoch besser, sofern ein positiver Befund vorliegt. Hier ist die Abschwächung der Muskelkraft ein wesentlich besseres Kriterium als die Schmerzauslösung, denn diese unterliegt Fehlerquellen, etwa durch myofasziale Befunde, welche auch bei isometrischer Anspannung schmerzauslösend sein können. In der Praxis sieht man viele Patienten nach Stürzen auf die Schulter. «Solche Patienten muss man ernst nehmen und sorgfältig abklären, um Verletzungen nicht erst verspätet zu erkennen», sagte
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Kasten:
Schlüsselfragen bei Schulterproblemen
❖ Glenohumeral frei?
❖ Humeroskapulärer Rhythmus: Impingement? (echtes oder funktionelles OutletImpingement?)
❖ Stabilität der Schulter? (vordere/hintere Instabilität; Bandlaxitätssyndrom)
❖ Wirbelsäulenfehlform/-fehlhaltung? (zervikothorakaler Übergang, BWS)
❖ Humeroskapulärer Rhythmus (Glenohumeral-, Skapulothorakal-, AC- und Sternoklavikular [SC-]Gelenk; thorakale und BWS-Bewegung)
❖ Akuter Schmerz: – subakromial («Bursitis»/«Tendinitis calcarea»?) – glenohumeral: Arthritis – «Frozen shoulder» – akute Schulteramyotrophie (selten)
❖ Rotatorenmanschetten-Muskel-Testung (Abschwächung/Ruptur?, Schmerz bei resistiver Anspannung, palpatorische Suche nach myofaszialen Triggerpunkten)
❖ Schmerzprojektion aus anderer Region bzw. anderen Strukturen? (radikulär, «referred pain» C3/C4 od. myofaszial, DD «Thoraxschmerz»)
❖ Unfall bei jüngeren Patienten: – Mechanismus? – Luxation mit spontaner Reposition? – Limbusverletzungen? Instabilität? – Ausrisse der Rotatorenmanschettenmuskeln?
❖ Unfall bei älteren Patienten: – Rotatorenmanschettenläsion bei degenerativen Veränderungen? – (oft vorher asymptomatisch) – subkapitale Humerusfraktur?
Dr. Böhni. Bei Unfällen ist das Alter des Patienten wichtig, denn Junge und Alte erleiden unterschiedliche Läsionen (Kasten).
«Frozen shoulder» Ein bekanntes Krankheitsbild ist die idiopathische globale Limitierung der humeroskapulären Beweglichkeit, die «Frozen shoulder». Sie ergibt sich aus einer Kontraktur und einem Verlust der Dehnbarkeit der glenohumeralen Gelenkkapsel. Davon abzugrenzen ist die «Stiff shoulder», bei der die Einschränkung der Beweglichkeit nach Trauma oder repetitiven Mikrotraumata mit Kontraktur von Strukturen entsteht, die Teil der glenohumeralen beziehungsweise humeroskapulären Bewegungsflächen sind. Bei der Untersuchung fällt die reine Einschränkung der glenohumeralen Beweglichkeit (Rotation) auf. Dies kann bei unexakter Bewegungsprüfung aber übersehen werden.
Die «Frozen shoulder» tritt nach Stürzen, akuter «Periarthritis humeroscapularis», nach Ruhigstellung oder Schonung, aber auch spontan auf. Betroffen sind beide Geschlechter in ähnlichem Ausmass zwischen 40 und 60 Jahren. Prädisponierend können Traumata und Operationen (besonders in Axilla, im Halsbereich und im Thoraxraum, z.B. Herzkatheteruntersuchung) sein. Unterschieden werden drei Phasen: 1. Schmerz mit Immobilisierung 2. «Frozen shoulder» 3. Rückbildung.
In der ersten Phase besteht ein heftiger chronischer, nicht aktivitätsabhängiger Schmerz, besonders nachts, und der noch schmerzfreie Bewegungsumfang wird zunehmend kleiner. Meist halten die Betroffenen die Schulter in Innenrotation und Adduktion. Diese Phase dauert 2 bis 9 Monate. Während der «eingefrorenen» zweiten Phase lassen die Schmerzen nach, aber
durch die starke Einschränkung der noch schmerzfreien Beweglichkeit ergeben sich ausgeprägte Behinderungen. Diese Phase dauert 3 bis 12 Monate, kann aber auch chronifizieren. Während der Rückbildungsphase von 12 bis 48 Monaten nehmen die Beweglichkeit zu und die Schmerzen ab. Im unbehandelten Endstadium sind die Patienten oft schmerzfrei, verfügen aber nur über einen eingeschränkten Bewegungsumfang. Persistierende Symptome kommen bei 5 bis 70 Prozent vor. Bei Diabetes mellitus und bei Begleitverletzungen ist die Prognose schlechter. Eine Prophylaxe der «Frozen shoulder» stellt die Frühmobilisation dar. Therapeutisch sind Schmerzmittel indiziert, wobei zwischen den Medikamenten keine deutlichen Unterschiede gefunden wurden, wie Dr. Böhni sagte. Analgetisch wirksame Präparate erlauben einen schnelleren Aufbau der Physiotherapie. Im schmerzhaften Stadium können intraartikuläre Kortikosteroidinjektionen den Schmerz vermindern (und dadurch eine Physiotherapie oft erst ermöglichen), ändern aber an der Bewegungseinschränkung zunächst nichts Grundlegendes. Triggerpunktinjektionen bleiben ohne deutliche Wirkung. Kombinierte subakromiale und intraartikuläre Injektionen sind bei subakromialer Problematik indiziert. Die Physiotherapie soll das humeroskapuläre Gleitlager mobilisieren. Sie ist unbedingt mit täglichen, kontinuierlich durchzuführenden, alle vier Quadranten der Gelenkkapsel einbeziehenden Übungen als Heimprogramm zu kombinieren. Bis vor einer guten Dekade war die Mobilisation unter Narkose bei «Frozen shoulder» Therapie der Wahl. Allerdings vermochte sie die posteriore Kapsel nicht zu öffnen, und Komplikationen (Rotatorenmanschettenrupturen, Humeruskopf- oder -schaftfrakturen, Luxationen) belasteten den Eingriff. Heute ist man daher wesentlich zurückhaltender geworden und behält operative Eingriffe (offen oder arthroskopisch) verlaufsresistenten und posttraumatischen Fällen vor. Die «Frozen shoulder» ist meist eine selbstlimitierende Erkrankung und hat langfristig eine gute Prognose. «Sie braucht aber von Arzt und Patient viel Geduld», betonte Dr. Böhni.
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Anatomisches oder funktionelles Impingement? Oft wird (zu) rasch von einem «Impingement» gesprochen, wenn ein Engpasssyndrom vermutet wird. Diese Einengung im Bereich der Rotatorenmanschette kann tatsächlich durch anatomische Gegebenheiten wie Akromionsporn, degenerative Osteophyten am AC-Gelenk oder persistierenden Kalk («Tendinitis calcarea») verursacht sein. Wichtig ist aber, auch ein relatives, funktionelles Impingement in
nur in sehr geübten Händen einen zuverlässigen Aufschluss, die präziseste Darstellung bietet das Arthro-MRI. Bei der häufigen rezidivierenden Schmerzsymptomatik einer «Bursitis subacromialis» beziehungsweise Tendinopathie der Supraspinatussehne können Kortikoidinjektionen lindernd sein, dürfen aber nicht die stabilisierende Physiotherapie mit Verbesserung der Zentrierung des Humeruskopfs und Stabilisierung der Skapula zu ersetzen versuchen.
«Degenerative Veränderungen der Rotatorenmanschette können versicherungsmedizinische Fragen aufwerfen, da eine Ruptur bei Vorschädigung schon durch ein leichtes Trauma ausgelöst werden kann.»
Betracht zu ziehen, entstehend aus einer ungenügenden Zentrierung des Humeruskopfs wegen Rotatoren(teil)ruptur oder -insuffizienz respektive Haltungsinsuffizienz mit Schwächung der Rotatorenmanschette bei Hyperkyphosierung oder beruhend auf einem generellen Bandlaxitätssyndrom. Die Diagnostik der Rotatorenmanschettenruptur stützt sich auf Anamnese und klinischen Untersuchungsbefund mittels der sorgfältig durchgeführten Abduktionstests. Die Sonografie ergibt
Degenerative Veränderungen der Rotatorenmanschette können versicherungsmedizinische Fragen aufwerfen, da eine Ruptur bei Vorschädigung schon durch ein leichtes Trauma ausgelöst werden kann.
Tendinitis calcarea als Spezialfall eines Impingementsyndroms Die Hydroxyapatitablagerungen in der Rotatorenmanschette in Ansatznähe oder subakromial entstehen bei Tendinitis calcarea aus nicht sicher geklär-
ten Ursachen. Ein ätiologischer Teilaspekt dürfte in einer Reaktion auf chronischen subakromialen Stress durch Impingement zu suchen sein. Das Krankheitsbild hat eine hohe Spontanheilungsrate. Nicht jede Verkalkung macht Beschwerden, vielmehr haben bis zu 20 Prozent der asymptomatischen Personen radiologisch Kalk an dieser Stelle, der spontan resorbiert werden kann. Daher ist die Therapie primär konservativ mit subakromialer Infiltration und Physiotherapie. Nur bei chronischen oder rezidivierenden Verläufen stellt sich die Frage nach einer arthroskopischen Revision oder allenfalls einer Stosswellentherapie, deren Stellenwert aber nicht als gesichert gelten darf. In der Diskussion wurde von verschiedener Seite betont, wie wichtig die sorgfältige klinische Untersuchung auch heute noch ist. Es darf nicht sein, dass Patienten mit Schultersymptomatik ohne genaue körperliche Untersuchung direkt zum MRI geschickt werden. ❖
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