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STUDIE REFERIERT
Östrogene bei Harninkontinenz
Bei postmenopausalen Frauen kann lokales Östrogen zur Behandlung einer Harninkontinenz von Nutzen sein. Systemisches Östrogen führt dagegen als Einzelsubstanz und auch in Kombination mit Progesteron im Vergleich zu Plazebo häufiger zu einer Verschlimmerung oder sogar zu einem Neuauftreten von Harninkontinenz.
COCHRANE DATABASE
Zahlreiche Frauen aller Altersstufen leiden unter Harninkontinenz. Der unfreiwillige Urinverlust ist zwar nicht lebensbedrohlich, kann aber Alltagsaktivitäten beeinträchtigen und ist manchmal mit sozialer Isolation verbunden. Die Behandlung kann auf den Symptomen basierend beginnen, möglicherweise könnte in einigen Fällen jedoch auch die Evaluierung der Ursache zur Auswahl der geeigneten Therapie von Nutzen sein. Der Stellenwert urodynamischer Untersuchungen im Management der Harninkontinenz muss sich noch zeigen. In den Geweben der Vagina, der Blase, der Urethra und des Beckenbodens wurden Östrogenrezeptoren identifiziert. Sexualhormone wie Östrogen haben
Merksätze
❖ Lokales Östrogen kann bei postmenopausalen Frauen die Beschwerden einer Harninkontinenz lindern.
❖ Mitunter kann die Harninkontinenz mit Beckenbodentraining besser kontrolliert werden als mit lokalem Östrogen.
❖ Systemisches Östrogen oder Östrogen/ Progesteron kann mit einer Verschlimmerung oder dem Neuauftreten einer Harninkontinenz verbunden sein.
somit einen bedeutenden Einfluss auf die Blase erwachsener Frauen, und Schwankungen der Hormonspiegel führen zu makroskopischen, histologischen und funktionellen Veränderungen. Demzufolge könnten Harnwegssymptome vor allem im Zusammenhang mit dem Menstruationszyklus, in der Schwangerschaft oder im Anschluss an die Menopause zu erwarten sein. Da die an der Kontinenz beteiligten Gewebe östrogensensitiv sind, könnte Östrogenmangel – etwa nach der Menopause – einen ätiologischen Faktor in der Entwicklung einer Harninkontinenz darstellen. Aus epidemiologischen Studien geht hervor, dass die höchste Prävalenz der Stressinkontinenz zum Zeitpunkt der natürlichen Menopause besteht, und etwa 70 Prozent der postmenopausalen inkontinenten Frauen berichten über einen Beginn der Beschwerden zum Zeitpunkt der letzten Menstruation. Zur Behandlung der Harninkontinenz stehen Beckenbodentraining, verschiedene Medikamente oder chirurgische Eingriffe zur Verfügung. Als medikamentöse Option wurde auch Östrogen als Einzelsubstanz oder in Kombination mit anderen Therapien angewendet. Die meisten Studien dazu wurden jedoch nur mit kleinen Teilnehmerzahlen durchgeführt. Einige postmenopausale Frauen erhalten Östrogene zur Prävention von Osteoporose und zur Behandlung menopausaler Beschwerden wie Hitzewallungen, Scheidentrockenheit oder Fatigue. Ob sich eine Hormonersatztherapie auch zur Behandlung einer Harninkontinenz eignet, ist bis anhin nicht bekannt. Synthetisches Östrogen kann in vielfältigen Darreichungsformen wie Vaginaltabletten, Cremes, Hautpflastern oder subkutanen Implantaten zugeführt werden, und die Applikation kann systemisch (oral oder transdermal) oder lokal (vaginal oder intravesikal) erfolgen. In einem Review evaluierte eine Arbeitsgruppe der Cochrane Collabora-
tion die gesamte Evidenz zur Behandlung der Harninkontinenz mit Östrogen. Dazu werteten sie randomisierte oder quasi-randomisierte Studien mit postmenopausalen Frauen aus, bei denen anhand der Symptome oder mit urodynamischen Untersuchungen eine Stress-, eine Drang- oder eine gemischte Harninkontinenz diagnostiziert worden war.
Ergebnisse In den Cochrane-Review wurden 34 Studien mit insgesamt 19 676 inkontinenten Frauen einbezogen, von denen 9599 mit Östrogen behandelt wurden. Bei 1464 Patientinnen wurde das Östrogen lokal vaginal appliziert. Die Teilnehmerzahl variierte in den Studien von 16 bis 16 117 Frauen. Die Studien wurden mit unterschiedlichen Östrogenen und in verschiedenen Dosierungen durchgeführt. Auch die Behandlungsdauer und die Follow-upZeiträume unterschieden sich. In einer Auswertung aller 6 Studien mit Teilnehmerinnen, die oral systemische Östrogene erhielten, zeigte sich eine Verschlimmerung der Inkontinenz im Vergleich zu Plazebo (Risk-Ratio [RR]: 1,32; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,17–1,48). Dieses Ergebnis wurde massgeblich durch zwei grosse Studien mit insgesamt 17 642 Teilnehmerinnen beeinflusst, in denen als wichtigste Endpunkte die Auswirkungen einer Hormonersatztherapie auf kardiovaskuläre Ereignisse, das Frakturrisiko und das Risiko für Brust- und Darmkrebs untersucht worden waren. Aus beiden grossen Studien geht hervor, dass sowohl eine Östrogenmonotherapie (bei Frauen nach Hysterektomie) als auch eine Östrogen-ProgesteronKombinationstherapie (bei Frauen mit intaktem Uterus) die Harninkontinenz verschlimmert. In beiden Studien wurden equine konjugierte Östrogene angewendet. Zudem war bei einer Untergruppe von Frauen (in einer der beiden grossen Studien), die bei Studienbeginn noch nicht unter Harninkontinenz gelitten hatten, nach einem Behandlungsjahr mit Östrogen im Vergleich zu Plazebo häufiger eine Harninkontinenz aufgetreten. Dies wurde bei Frauen mit intaktem Uterus beobachtet (Östrogen/Progesteron: RR: 1,39; 95%-KI 1,27–1,52) und auch bei Teilnehmerinnen, die sich
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einer Hysterektomie unterzogen hatten (Östrogen: RR: 1,53; 95%-KI 1,37–1,71). Lokale Östrogene (in Vaginalcremes oder Pessaren) waren in kleinen Studien konsistent mit einer Verbesserung der Harninkontinenz verbunden (RR: 0,74; 95%-KI: 0,64–0,86). Zusammengefasst wurden bei Frauen, die lokales Östrogen erhielten, eine Reduzierung um ein bis zwei Miktionen im Verlauf von 24 Stunden und ein weniger ausgeprägter Harndrang beobachtet. In 2 kleinen Studien zeigte sich allerdings, dass bei Stressinkontinenz mit Beckenbodentraining häufiger eine Verbesserung der Harninkontinenz erzielt wurde als mit der lokalen Östrogentherapie (RR: 2,30; 95%-KI: 1,50–3,52). Schwere unerwünschte Ereignisse wurden in den Studien nicht beobachtet, jedoch traten bei einigen Frauen vaginale Schmierblutungen (bei 1 von 4 behandelten Frauen), eine Tastempfindlichkeit der Brust (bei 1 von 5 behandelten Frauen) oder Übelkeit auf. Um weitere Aspekte der Östrogenbehandlung wie eine Kombination mit anderen Behandlungsoptionen oder eine Anwendung verschiedener Östrogenarten und unterschiedlicher Applikationsverfahren zu evaluieren, reichte die Datenlage nicht aus.
Fazit und Diskussion
Die Arbeitsgruppe kam zum Schluss, dass sich eine Harn-
inkontinenz durch die Anwendung lokaler Östrogene ver-
bessern kann. Allerdings weisen die Daten aus 2 kleinen
Studien darauf hin, dass Beckenbodentraining in manchen
Fällen erfolgreicher zur Kontrolle der Harninkontinenz sein
kann als eine lokale Östrogenbehandlung. Zudem ging aus
den Studien zum Verlauf der Harninkontinenz nach Beendi-
gung der Östrogenbehandlung nur eine geringe Evidenz
hervor, und zu den Langzeitauswirkungen der Behandlung
war keinerlei Information vorhanden.
Im Gegensatz zur lokalen Östrogenbehandlung kann eine
systemische Hormonersatztherapie mit konjugierten equi-
nen Östrogenen eine bestehende Harninkontinenz ver-
schlimmern oder zur Neuentwicklung beitragen. Postmeno-
pausale Frauen, die eine Hormonersatztherapie in Betracht
ziehen, sollten nach Meinung der Autoren auf diese poten-
zielle unerwünschte Wirkung aufmerksam gemacht werden.
Da bei der langfristigen Anwendung systemischer Östrogene
erhöhte Risiken für Krebserkrankungen des Endometriums
und der Brust sowie für Thrombosen, kardiovaskuläre Er-
krankungen oder Schlaganfälle bestehen, sollte die Behand-
lung nach Ansicht der Autoren zeitlich begrenzt und vor-
zugsweise mit lokalen Östrogenen durchgeführt werden.
Das gilt vor allem bei Frauen mit intaktem Uterus.
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Petra Stölting
Cody JD et al.: Oestrogen therapy for urinary incontinence in postmenopausal women. Cochrane Database Syst Rev 2012, 10:CD001405.
Interessenkonflikte: 2 der 5 Autoren waren an je einer der ausgewerteten Studien beteiligt. Die Datenextraktion erfolgte jedoch unabhängig.