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Titel
Arsenicum
Untertitel
Überraschung
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Wenn Sie mir etwas Gutes tun wollen, überraschen Sie mich bitte nicht. Nie. Das Leben des Grundversorgers ist nämlich bereits im Alltag überraschend genug. In seiner kargen Freizeit will er daher nur Ruhe und sehnt sich nach Vorhersehbarem. Noch nicht mal ein Kinder-Überraschungs-Ei würde mir ein Lächeln entlocken.
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Überraschung

W enn Sie mir etwas Gutes tun wollen, überraschen Sie mich bitte nicht. Nie. Das Leben des Grundversorgers ist nämlich bereits im Alltag überraschend genug. In seiner kargen Freizeit will er daher nur Ruhe und sehnt sich nach Vorhersehbarem. Noch nicht mal ein Kinder-Überraschungs-Ei würde mir ein Lächeln entlocken. Denn allzu häufig muss ich die überraschend kleinen Kleinteile aus Nasenlöchern und Gehörgängen schreiender Kinder mit der Hartmannzange (gross) herausknübeln, weil die beschenkten Kids auf ganz andere Art und Weise mit dem Inhalt des gelben Plastikinneneis spielten, als dies vom Schenker gewollt und vom Erfinder gedacht war. Der Warnhinweis, dass kleine Kinder nicht damit spielen dürfen, verfehlt seine Wirkung, weil die Zielgruppe noch nicht lesen kann. Überraschend ist eigentlich nur die Tatsache, dass nicht mehr von dem Zeug aspiriert wird. Die Überraschungen des Monats Januar reichen mir für das ganze Jahr 2013 aus. Nach dem Wasserrohrbruch, der während der Kälteperiode entstanden war, weil der Gärtner die Aussenleitung nicht abgelassen hatte, mit der er Ende Oktober die Rosen gewässert hatte, die er mir als Überraschung und Dank für langjährige Aufträge in den Vorgarten gepflanzt hatte, überraschte mich der Installateur/Spengler mit der Höhe des Rechnungsbetrags für die Reparatur der geplatzten Leitung. Das vermeintliche Lipom am Oberarm der fünfzigjährigen, neuen Patientin, welches sie auf mein Drängen hin resezieren liess, stellte sich zur Überraschung des Chirurgen und des Pathologen als Sarkom heraus. Ganz überraschend flatterte dann eine Kunstfehlerklage auf meinen Schreibtisch, da die Patientin augenscheinlich mir übel nahm, dass ihr langjähriger Hausarzt, wegen dessen Ruhestand sie vor zwei Wochen zu mir gewechselt hatte, ihren Tumor während dreier Jahre nicht hatte abklären lassen. Die Kollegen im Spital bescherten weitere Überraschungen: Der elektive, simple Nebenhöhleneingriff von Herrn A. wurde wegen einer aberrierenden Arterie zu einem Notfall, der in die nächste Universitätsklinik geflogen werden musste. Die Metallentfernung bei Frau B. zeigte sich intraoperativ als nicht indiziert, da uns der Radiologe im Dunklen gelassen hatte, dass die

Fraktur noch nicht zusammengewachsen war. Kind C fiel nach der Penizillininjektion in einen anaphylaktischen Schock, trotz vorheriger telefonischer und schriftlicher Information von mir und mündlichem Protest der Mutter. Dies überraschte mich aber kaum – dass Zuweisungsschreiben nicht gelesen werden, ist mir seit Langem bekannt. Positiv überrascht war ich hingegen, als Patient D. vom Spezialisten X. mit einem exzellenten Schreiben zurückkehrte und nicht stillschweigend in dessen Patientenkollektiv einverleibt wurde, es erinnerte mich an Einsteins Aperçu: «Nur wer von Herzen negativ denkt, kann positiv überrascht werden.» Psychologen halten fest, dass das Erleben unvorhergesehener Ereignisse oder Gefühle heftige Emotionen auslösen kann, die je nach Situation, Menschentyp, persönlicher Verfassung oder auslösender Person als angenehm oder unangenehm empfunden werden können. Wie wahr. Schon die Möglichkeit einer unangenehmen Überraschung, wie sie ein Einschreiben in sich trägt, löst bei mir Reflux aus. Voller Empathie lauschte ich der Schilderung des Hausarztkollegen B., wie ihm seine liebende Frau mit einer «Surprise-Party» den 49. Geburtstag verdarb. Als er todmüde nach Hause wankte, nur noch von der Hoffnung auf einen weichen Lehnstuhl, bequeme Finken und ein kohlehydratreiches Znacht aufrecht gehalten, erschrak er, als nach dem Betätigen des Lichtschalters alles dunkel blieb. Fluchend ging er in den Keller, riss einen Stapel alter Kartons um, sah beim Licht der Taschenlampe, dass alles mit der Sicherung in Ordnung war. Als er keuchend oben angelangt war, empfingen ihn gleissendes Licht, das gnadenlos Tränensäcke, beginnende Glatze und zerknitterte Kleidung ausleuchtete, und ein akustisches Inferno, als zirka 80 Freunde in leicht beschwipstem Zustand «Happy Birthday!» brüllten. «Bitte tu mir das nie an!», bat ich meine Frau auf dem Weg nach Hause. «Natürlich nicht!», beruhigte sie mich. «An deinem Geburtstag gehen wir zu ‹Chez Pepino› wie immer, du nimmst Napolitana, ich Margherita, dazu einen halben Liter Primitivo.» Derartig gestärkt, griff ich zum Portemonnaie und nach der Zeitschrift, die mir der Bärtige hinhielt. Denn «Surprise», das Strassenmagazin, ist die einzige Überraschung, die mich wirklich freut. Regelmässig und voraussehbar …

ARSENICUM

58 ARS MEDICI 2 ■ 2013