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BERICHT
Gegen Muskelschwund, Stürze und Frakturen im Alter
Was braucht es alles für eine gute Muskelfunktion?
Bild: H.B.
80. Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGIM)
Muskelmasse und Muskelkraft als Schlüsselfaktoren für ein gesundes Alter Symposium der Firma Abbott AG, 24. Mai 2012, Basel
Stürze und Frakturen im Alter müssen nicht Schicksal sein. Sowohl Muskeln wie Knochen profitieren von Vitamin D, und ein spezifisches Krafttraining mit gleichzeitig gesteigerter Proteinzufuhr kann der gefährlichen Gebrechlichkeit entgegenwirken, berichteten Prof. Reto W. Kressig, Basel, und Prof. Heike Bischoff-Ferrari, Zürich, am SGIM-Jahreskongress in Basel.
HALID BAS
«Heute nimmt in der Geriatrie das Konzept der ‹Frailty› einen wichtigen Platz ein», sagte Prof. Reto W. Kressig, Chefarzt Geriatrie, Universitätsspital Basel. Der Begriff lässt sich nicht einfach ins Deutsche übersetzen, aber mit Fragilität oder Vulnerabilität umschreiben. Dabei handelt es sich um ein Stadium physiologischer Verletzlichkeit, verursacht durch reduzierte homöostatische Reserven mit verminderter Stressresistenz. Frailty hat vielfältige negative Auswirkungen. So erfolgt die Erholung nach einer akuten Erkrankung, beispielsweise einer Pneumonie, nur sehr langsam und unvollständig. Zudem ist bei Frailty die Lebenserwartung parallel zu deren Ausmass reduziert. Fünf Kriterien werden zur Definition der Frailty herangezogen:
Prof. Heike Bischoff-Ferrari (links) und Prof. Reto W. Kressig
❖ ungewollter Gewichtsverlust ❖ empfundene Erschöpfung ❖ reduzierte körperliche Aktivität ❖ verlangsamte Ganggeschwindigkeit ❖ verminderte Handschluss-(Griff-)kraft.
Treffen drei oder mehr Kriterien zu, dann zeigt ein alter Patient Frailty, bei einem bis zwei Kriterien liegt ein Intermediärzustand vor, fehlen die Kriterien, ist von einem fitten Senior auszugehen.
Muskelschwund und Muskelkraft Jeder dritte Senior über 65 Jahre stürzt mindestens einmal pro Jahr. «Stürze sind ein Zeichen von Frailty», betonte Prof. Kressig. Wichtigster Risikofaktor für Stürze ist eine Muskelschwäche. Diese lässt sich in der Praxis mit dem «Timed Up and Go»-Test relativ einfach erfassen. Gelingen das Aufstehen vom Stuhl, der Gang für zirka drei Meter, die Umkehr und das Absitzen
auf dem Stuhl in weniger als 20 Sekunden, ist von einer guten Mobilität auszugehen. Wird dieser Mobilitätstest in weniger als 14 Sekunden absolviert, besteht kein Sturzrisiko. Eine Folge des Alterns ist der Schwund der Muskelmasse (Sarkopenie), der sich auch computertomografisch gut darstellen lässt und bis ins Alter von 85 Jahren gegenüber jungen Jahren eine Reduktion der Muskelmasse von 30 bis 50 Prozent ausmacht. Davon betroffen sind besonders die sich schnell kontrahierenden Typ-II-Muskelfasern. Die Vorbeugung und/oder Therapie der Sarkopenie ist selbst im hohen Alter möglich. Begünstigt wird die Sarkopenie durch Defizite in der Ernährung. Im Alter besteht ein verminderter Energiebedarf, aber ein gleichbleibender oder teilweise sogar erhöhter Nährstoffbedarf. Gesteigert ist im Alter der Bedarf an Proteinen, Kalzium sowie den Vitaminen
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Take Home Messages
❖ Der altersbedingte Muskelverlust (Sarkopenie) führt zu Kraftverlust, Mobilitätsund Funktionalitätsabbau, Frailty hat einen erhöhten Bedarf an Nährstoffdichte zur Folge.
❖ Eine erfolgreiche Sarkopenieprävention beziehungsweise Therapie stützt sich auf Muskeltraining (unter besonderer Berücksichtigung der Schnellkraft), hohe Nährstoffdichte (insbesondere Molkenproteine, essenzielle Aminosäuren/Leucin-Derivat HMB) und Vitamin D.
❖ Die Vitamin-D-Supplementation zur Osteoporose- beziehungsweise Sturzprävention ist evidenzbasiert und gründet auf einem wichtigen Doppeleffekt an Knochen und Muskeln.
❖ Eine Zufuhr von 800 IE Vitamin D pro Tag bewirkt etwa eine 20-prozentige Risikoreduktion.
❖ Die Vitamin-D-Supplementation soll täglich, wöchentlich oder monatlich erfolgen; hohe Bolusgaben in längeren Abständen sind obsolet.
❖ Als anzustrebender optimaler 25-Hydroxy-Vitamin-D3-Blutwert gelten heute 75 nmol/l (30 ng/ml).
D, B6, B12 und C. Erniedrigte Serumalbuminwerte und Vitamin-D-Spiegel korrelieren mit der verminderten Mobilität im Alter.
Krafttrainung plus Nahrungsergänzung Die Muskelkraft lässt sich bei Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern durch Krafttraining steigern. Noch besser wirkt aber die Kombination von Krafttraining und Nahrungsergänzung mit gewissen Proteinen. Zu einer besonders ausgeprägten Eiweissanreicherung im Muskel kommt es unter Zufuhr von Molkenproteinen oder essenziellen Aminosäuren aus Molke, während nichtessenzielle Aminosäuren keinen Einfluss haben. «Molkenproteine oder spezielle Aminosäureabkömmlinge wie das Leucinderivat 3-Hydroxy-3-Methylbuttersäure (HMB) haben einen positiven Effekt auf Muskelmasse und -kraft, müssen aber mit Krafttraining kombiniert werden», betonte Prof. Kressig. Konventionelles Krafttraining bewirke aber in der Sturzprävention wenig oder nichts, sagte der Basler Geriater mit Hinweis auf einen Cochrane-Review (1). Diese inzwischen erweiterte Auswertung (2) von 120 Studien mit über 6000 älteren Teilnehmern ergab zwar eine Zunahme der Muskelkraft durch Krafttraining, aber keine signifikante Reduktion der Stürze.
Worauf es im Alter bei der Kontrolle der Fortbewegung ankommt, ist nicht nur die Muskelkraft, sondern ebenso die Muskelschnellkraft. Auch diese kann durch spezifische Übungen gefördert werden, bei denen gegen einen relativ geringen Widerstand eine möglichst rasche Bewegung ausgeführt wird.
Stürze und Frakturen «Bei der Prävention von Stürzen und Frakturen im Alter spielt auch Vitamin D neben seinen Auswirkungen auf die allgemeine Gesundheit eine wichtige Rolle», ergänzte Prof. Heike BischoffFerrari, Leiterin des Zentrums für Alter und Mobilität, Universität Zürich. Daher empfehlen heute die Richtlinien verschiedener einschlägiger Organisationen (Schweizer Vereinigung gegen Osteoporose [SVGO], Institute of Medicine [IOM], International Osteoporosis Foundation [IOF], Endocrine Society) generell ab 70 Jahren eine Versorgung mit 800 IU Vitamin D pro Tag (die IOF sogar bereits ab 60 Jahren). «Wenn Sie den Vitamin-D-Spiegel zur Abschätzung der Vitamin-D-Versorgung messen wollen, bestimmen Sie immer das 25-Hydroxy-Vitamin-D3, da das 1,25-Dihydroxy-Vitamin-D3 nur die Nierenfunktion widerspiegelt», riet Prof. Bischoff-Ferrari. Inzwischen gibt es genügend gute Studien zur Beziehung zwischen Vitamin-
D-Zufuhr und Frakturprävention, um evidenzbasiert die Versorgung mit 800 IE Vitamin D pro Tag zu empfehlen. In unseren Breitengraden reicht dazu das Sonnenlicht von November bis Mai nicht aus, zudem wird ein umfassender Sonnenschutz propagiert, ausserdem nimmt die Vitamin-D-Produktion in der Haut mit dem Alter ab. Die Vitamin-D-Produktion im Sommer reicht wegen der Halbwertszeit nicht aus, um den sonnenlosen Winter zu überbrücken. Auch die Quellen aus der Nahrung sind keineswegs ausreichend, da für eine Versorgung im heute geforderten Umfang täglich zwei Portionen fetten Fisches verzehrt werden müssten, weshalb eine Supplementation notwendig und sinnvoll ist, so Prof. Bischoff-Ferrari. Bei Patienten mit Hüftfrakturen liessen sich besonders tiefe Vitamin-D-Spiegel nachweisen, es sind also gerade die Risikopatienten, die besonders schlecht versorgt sind. Aber auch bei Kindern werden in bis zu 50 Prozent tiefe Vitamin-D-Spiegel gefunden, dies besonders bei Kindern mit Migrationshintergrund und oft dunklerem Teint, der die Vitamin-D-Produktion in der Haut verlangsamt und verringert. In solchen Fällen empfiehlt sich somit eine Vitamin-D-Bestimmung. Ein generelles Vitamin-D-Screening ist nicht sinnvoll, bei Patienten, bei denen man eine optimale Vitamin-D-Versorgung sicherstellen will, ist die Messung jedoch angebracht.
Heute gilt ein höherer Vitamin-DBedarf als gesichert Aus doppelblinden, randomisierten Studien ergibt sich, dass keine Reduktion des Frakturrisikos resultierte, wenn der Vitamin-D-Spiegel nur auf 50 nmol/l gesteigert wurde. In drei Studien, in denen 75 nmol/l oder mehr erreicht wurden, resultierte hingegen eine rund 20-prozentige Frakturreduktion. «Kalziumsupplemente ohne Vitamin D führen zu keiner Frakturreduktion und sollten in dieser Indikation nicht mehr gegeben werden», mahnte Prof. Bischoff-Ferrari. Mit dem Kalziumsupplement wird das Hüftfrakturrisiko angehoben. Kalziumkarbonat und -zitrat, so die Vermutung, behindert die intestinale Phosphataufnahme, dies bei in der Risikopopulation ohne-
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hin nicht ausreichender Phosphatversorgung. Letztlich wird aber das Kalzium-Phosphat-Produkt in den Knochen eingebaut. «Wenn Sie Vitamin D geben, fördern Sie neben der Aufnahme von Kalzium auch diejenige von Phosphat. In Milchprodukten ist beides schon zusammen vorhanden», so Bischoff-Ferrari. «Wenn wir uns im Badeanzug an den Strand legen, produzieren wir in der Haut 10 000 bis 14 000 Einheiten Vitamin D. Die international akzeptierte sichere Obergrenze von neu 4000 IE pro Tag passt gut in diesen Kontext», stellte die Vitamin-D-Expertin mit Blick auf das Risiko der Vitamin-D-Supplementation fest. Nicht mehr empfohlen wird jedoch die Bolusgabe von sehr hohen Dosen (z.B. 500 000 IE einmal pro Jahr). Einerseits gibt es für dieses Vorgehen keine doppelblinden, kontrollierten Studien mit positivem Ergebnis, andererseits scheint eine massive Vitamin-D-Zufuhr im sehr hohen Alter zu einem höheren Sturzrisiko zu führen.
Um einen Vitamin-D-Spiegel oberhalb der Vitamin-D-Mangel-Grenze von 50 nmol/l zu erreichen, braucht es ungefähr 800 IE pro Tag, strebt man einen Vitamin-D-Wert von 75 nmol/l an, für den eine Frakturreduktion belegt ist, braucht es zirka 1600 IE pro Tag. In zwei kleineren Studien bewirkte eine Vitamin-D-Verabreichung eine relative Vermehrung von Anzahl und Grösse der Typ-II-Muskelfasern in Muskelbiopsien. Dazu passen auch doppelblinde, klinische Studien mit sorgfältiger Erfassung der Stürze, die eindeutig zeigen, dass tägliche Vitamin-D-Dosen zwischen 700 und 1000 IE zu einer 34-prozentigen Sturzreduktion führten, während tiefere Dosen ohne präventive Wirkung blieben. Wie Prof. Bischoff-Ferrari in der Diskussion präzisierte, wird Lebertran heute nicht mehr als geeignete Vitamin-D-Quelle angesehen, da er auch Retinol in zu hoher Dosierung enthält, das zu einer Steigerung des Hüftfrakturrisikos führen kann. Patienten, die nicht täglich Vitamin D schlucken
wollen, können ihre Tropfen auch
gefahrlos in längeren Abständen, etwa
wöchentlich oder monatlich (z.B. ein
halbes Fläschchen mit 45 000 IE) oder
zweimonatlich (ein ganzes Fläschchen),
zu sich nehmen.
❖
Halid Bas
Referenzen: 1. Latham N et al.: Progressive resistance strength trai-
ning for physical disability in older people. Cochrane Database Syst Rev 2003; (2): CD002759. 2. Liu C-j, Latham NK: Progressive resistance strength training for improving physical function in older adults. Cochrane Database Syst Rev 2009; (3): CD002759.
BEKANNTMACHUNG
Palliativ-Basiskurs für Ärztinnen und Ärzte
16. und 17. August und 13. bis 14. September 2013, Rorschacherberg (CH), Seminarhotel Schloss Wartegg
Der Kurs umfasst 2 Module an den genannten 4 Tagen (jeweils Freitag 14 Uhr bis Samstag 17 Uhr). Er richtet sich an niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sowie Spitalärztinnen und Ärzte mit unterschiedlichem Weiterbildungsstand. Der Inhalt orientiert sich an den nationalen Empfehlungen zur Aus- und Weiterbildung in Palliative Care (palliative ch, 2002) und am Basiscurriculum der European Association for Palliative Care (EAPC, 1993 und 2006). Das Programm beinhaltet somit die wesentlichen Punkte, die von der palliative.ch (Schweizerischen Gesellschaft für Palliativpflege Medizin und Begleitung) als Niveau A (Basisausbildung) empfohlen werden. Zu den Themen gehören neben allgemeinen Aspekten der Palliativmedizin als grösster Teil des Kursprogramms die Differenzialdiagnose und Therapiestandards der wichtigsten Symptome: Schmerz (Schwerpunkt Opioide), Atemnot, Nausea, Erbrechen, Verwirrung, Ernährungsprobleme, Notfälle etc. Darüber hinaus geht es um Lösungsstrategien strittiger Themen wie Flüssigkeitssubstitution, das Erfassen und Behandeln der wichtigsten psychischen Symptome, die Wege der Integration der Angehörigen in den Behandlungs- und Betreuungsplan, die Koordination in einem multiprofessio-
nellen Team, die Hilfen für den Umgang mit Sterben und Tod und strukturell-organisatorische Aspekte von Palliative Care. Die Teilnehmerzahl ist auf maximal 22 Personen beschränkt. Die Anmeldungen werden in der Reihenfolge des Eingangs berücksichtigt. Die Kosten betragen 1000 Franken exkl. Unterkunft, Verpflegung und Seminarpauschale.
Leitungsteam: Dr. med. Daniel Büche MSc Leiter, Palliativzentrum, Kantonsspital St.Gallen Dr. med. Steffen Eychmüller Ärztlicher Leiter, Palliativzentrum, Inselspital Bern Dr. med. Susanne Hartmann Oberärztin Palliativzentrum, Kantonsspital St.Gallen Elke Rey-Burg Pflegefachfrau, Palliativzentrum, Palliativstation Spital Flawil
Information und Anmeldung: Herr Benjamin Rhyner, E-Mail: benjamin.rhyner@kssg.ch Tel. 071-494 35 50, Fax 071-494 62 55 Kantonsspital St.Gallen Palliativzentrum Rorschacherstrasse 95, 9007 St.Gallen
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