Transkript
«Der entfesselte Geist»
Stellungnahme zum Editorial in ARS MEDICI 23/2012
ECHO
BENEDIKT BUCHER
In diesem Editorial steht, neben viel Bedenkenswertem, auch ein Gedanke, der nicht unwidersprochen bleiben darf. Wenn der Autor – zugegeben indirekt und vielleicht unbeabsichtigt – impliziert, zum Zweck der Unterdrückung ihres natürlichen Freiheits- und Bewegungsdrangs würden 6 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter Methylphenidat gesetzt, verkennt er erstens die ADHS-Problematik und diskreditiert diejenigen, die an ADHS leiden.
Zweitens bleibt eine solch kurzschliessende Behauptung, wenn sie in einer qualitätsvollen Ärztezeitschrift zu lessen ist, vielleicht nicht folgenlos: Thesen dieser Art (und das sich daraus natürlich ergebende Unbehagen) werden immer wieder von selbsternannten (und vor allem selbstgerechten) Gesundheitsexperten aus der Politik und aus der Gesellschaft benützt, die
medienwirksam das Gespenst einer ärztlichen Drogenverabreichung an die Jugend beschwören. Oder sie können solchen Kreisen frommen, für die ADHS eh ein suspekter Euphemismus für schlechte Erziehung ist und die deshalb im Schulalltag wieder die gute alte Knüppelstrategie aufleben lassen möchten: mit potenziell verhängnisvollen Folgen für die betroffenen Kinder.
Wir Kinderärzte sind beileibe keine Ritalin-Freaks. Die Abkürzung «ADHS» umschreibt nach unserer Erfahrung keineswegs nur «Hyperaktivität», sondern bei vielen Kindern ein vielschichtiges, profundes Leiden. Wir kennen die aufrichtige Verzweiflung der Patienten, angesichts des immer wieder reissenden «roten Fadens» beim Schulunterricht, angesichts der wahrhaften Überwältigung durch Frustration, Zorn und Trauer, angesichts des sich selbst verstärkenden Schuldgefühls, mit ihnen «stimme etwas nicht», da sie «immer etwas falsch machen». Ihre Selbstachtung ist sehr tief.
Manchen dieser Kinder hilft die Einnahme von Stimulanzien dabei, wieder ein wenig auf ihre Ressourcen bauen zu können und dem Wechselbad der negativen Kompulsionen nicht mehr so hilflos ausgesetzt zu sein. Im Übrigen wird ihr häufig origineller Esprit durch die Therapie nicht beeinflusst. Selbstverständlich wird die Pharmakotherapie durch psychologische und pädagogische Massnahmen ergänzt; manchmal macht sie Letztere erst möglich.
Darum also geht es bei einer korrekt
durchgeführten Therapie mit Methyl-
phenidat, nicht um die «Ruhigstellung»
der Kinder. Das ist seit Langem bekannt;
warum sagt es kein Journalist?
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Dr. med. Benedikt Bucher, Agno
ARS MEDICI 1 ■ 2013
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