Transkript
BERICHT
Nutzen und Risiko verständlich machen!
Podiumsdiskussion am Schweizer Impfkongress 2012
VII. Schweizer Impfkongress Podiumsdiskussion «Entscheidungsprozesse bei Impffragen» Basel, 9. November 2012
Risiken und Nutzen adäquat zu kommunzieren, ist in der Praxis nicht immer einfach. Ein drastischer Fallbericht mag emotional überzeugen, ist letztlich jedoch manipulativ und alles andere als eine objektive Risiko-Nutzen-Darstellung. Doch es ist gar nicht so schwer, wissenschaftlich korrekt und verständlich zu kommunizieren.
RENATE BONIFER
Impfgegner gebe es schon so lange, wie es Impfungen gebe, sagte die Soziologin Prof. Dr. Claudine Burton-Jeangros, Universität Genf, und auch die Argumente hätten sich im Lauf der Jahrhunderte kaum geändert: Impfen verstosse gegen Gottes Willen und/oder die Natur, die Immunität sei nach Durchleiden der Krankheit besser, Impfen sei zu teuer und steigere nur die Profite der Pharmaindustrie, oder Impfen sei ein Eingriff in die persönliche Freiheit – um nur die Klassiker zu nennen. Wirklich harte Impfgegner gebe es gar nicht so viele, meinte Burton-Jeangros. Sie schätzte den Anteil auf zirka 5 Prozent der Bevölkerung, eine kleine, aber lautstarke Minderheit. Doch viele Menschen seien verunsichert, weil heutzutage die Impfnebenwirkungen als das grössere Risiko wahrgenommen würden. Das liege nicht zuletzt daran, dass kaum noch jemand Krankheiten wie Polio aus eigener Erfahrung kennt.
Praktiker wie die Kinderärztin Dr. med. Maura Zanolari Calderari, Lugano, eine der Teilnehmerinnen an der Podiumdiskussion zu den «Entscheidungsprozessen bei Impffragen», kennen das Phänomen, dass die Impfnachfrage regelmässig ansteigt, wenn in den Medien über schreckliche Krankheitsfälle
ter die Lupe, in denen beispielsweise zu lesen war, dass das Zervixkarzinom «selten» sei. Nach dem Lesen glaubten die Jugendlichen im Durchschnitt, dass 24 bis 35 von 100 (!) Frauen an Zervixkarzinom erkranken würden. Hier ist bei der Risikokommunikation offenbar etwas schiefgelaufen.
«Die Leute wollen nicht betrogen und nicht in die Irre geführt werden.»
berichtet wird, die man durch eine Impfung hätte vermeiden können. Sollte man also in der Impfberatung auf den Fallbericht setzen?
Mit Zahlen überzeugen ... Prof. Dr. Ingrid Mühlhauser, Universität Hamburg, bevorzugt die Überzeugungskraft der Zahlen – und zwar der absoluten, anschaulichen Zahlen – und nicht irgendwelche Prozentangaben relativer Risiken, die für viele (auch Ärzte!) die Realität eher vernebeln als erhellen. Auch Begriffe wie «häufig» oder «selten» sind wenig hilfreich, denn sie werden oft ganz anders interpretiert, als es in den Beipackzetteln gemeint ist. «Häufig» heisst gemäss juristisch einwandfreiem Pharmadeutsch 1 bis 10 Prozent, «selten» bedeutet 0,01 bis 0,1 Prozent. Im normalen Sprachgebrauch sieht das anders aus: So ergab eine 2002 publizierte Studie, dass «häufig» in der Bevölkerung mit zirka 45 Prozent assoziiert wird und «selten» mit etwa 8 Prozent. Eine massive Überschätzung der Risiken ist die Folge, wie beispielsweise eine Studie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zeigte. Die Zürcher Sprachforscher nahmen drei HPV-Informationsbroschüren un-
Wie man es besser machen kann, zeigt folgendes Beispiel. Frage: Wie gross ist das Risiko für Gebärmutterhalskrebs, wenn ich mich nicht impfen lasse? Antwort: Ohne Impfung werden von je 1000 Frauen im Laufe ihres Lebens etwa 10 an Gebärmutterhalskrebs erkranken und 3 daran sterben. Zum Vergleich: Von 1000 Frauen werden etwa 400 Frauen im Laufe ihres Lebens an irgendeinem Krebs erkranken und 200 an dieser Erkrankung sterben, mehr als die Hälfte davon nach dem 70. Lebensjahr (Quelle: www.nationales-netzwerk-frauengesundheit.de). Schmunzeln mussten viele Kongressteilnehmer, als Mühlhauser mit einem Beispiel einmal mehr das Irreführungspotenzial relativer Risikoangaben illustrierte: Die WHO publizierte im letzten Jahr, dass Personen mit besonders intensiver Handynutzung ein um 40 Prozent erhöhtes Risiko für Gliome hätten. Das hörte sich bedrohlich an, doch es bedeutete in diesem Fall tatsächlich: Statt 10 von 10 000 Personen sind es 14 von 10 000, die innert 10 Jahren einen Hirntumor bekommen, und zwar im Vergleich zwischen 10 000 Personen, die nie ein Handy benutzen, und 10 000 Personen, die ständig mit dem Handy telefonieren. Man könnte es auch so sagen: Statt 9990 sind es 9986 von
1316 ARS MEDICI 24 ■ 2012
BERICHT
Argumentationshilfen gefordert
Es sei zwar schon so, dass die meisten
ihrem Arzt vertrauten und sich impfen
liessen, sagte Dr. med. Gaudenz Bach-
mann, Gesundheitsdepartement St. Gal-
len. Aber der Anteil der Impfgegner
wachse, und das Wissen, wie man mit
den kritischen Fragen umgehen kann,
Prof. Dr. Claudine Burton-Jeangros Prof. Dr. Ingrid Mühlhauser
Dr. med. Gaudenz Bachmann
sei in der Ärzteschaft zu wenig verbreitet. Leider fänden sich in den offiziellen
Impfempfehlungen keine klaren,
schlüssigen Argumentationshilfen für
die Diskussion mit Impfgegnern. Man
müsse deren Argumente und Fragen
ernst nehmen und beantworten.
Doch ist es allein die Aufgabe von Ärz-
tinnen und Ärzten, die Menschen vom
Nutzen einer Impfung zu überzeugen?
Dr. med. Maura Zanolari Calderari Dr. Virginie Masserey Spicher
Roger Staub
Nein, meinte Roger Staub. Es brauche vielmehr den gesellschaftlichen Kon-
sens, das Impfen zu fördern: «Der Arzt
soll nicht einen Job machen müssen,
der nicht seiner ist.»
10 000, die über 10 Jahre keinen Hirn- Roger Staub vom BAG äusserte sich Auch Claudine Burton-Jeangros be-
tumor bekommen. Oder: Für 9996 von optimistischer: Als ehemaliger Lehrer tonte die gesellschaftlichen Aspekte der
10 000 ist es egal, ob sie Handys nutzen glaube er schon, dass man allen alles er- Impfdiskussion. Man lebe zwar in einer
oder nicht, da sie über 10 Jahre ohne- klären könne. Vor allem aber müsse Gesellschaft, in der alle möglichen Risi-
hin keinen Hirntumor bekommen wür- man in der Impfdiskussion weg von ken minimiert oder gar ausgeschlossen
Begriffen wie «Gegner» oder «Feind». werden sollen, aber je nach sozialem
«Die Menschen trauen Menschen,
Als pragmatische Lösung, eine Impfdis- Umfeld könne das Impfen heissen oder kussion in der Praxis nicht bei jedem eben auch Nichtimpfen. Den oft gehör-
die sie kennen.»
fälligen Termin erneut führen zu müs- ten Vorwurf, die Medien seien schuld, sen, schlug Staub vor, dass man den weil sie die Risiken der Impfung über-
Impfplan einmal besprechen soll und betonten, teilte Burton-Jeangros nicht.
den, oder sie würden einen Hirntumor sich dann das Einverständnis für den Die Medien müssten alle Sichtweisen
bekommen, obwohl sie keine Handys ganzen Plan «bis auf Widerruf» geben zeigen. Überdies sei nach wie vor der
benutzt haben.
«Die Leute wollen nicht betrogen und
nicht in die Irre geführt werden. Sie möchten verstehen, was der mögliche Nutzen und was der mögliche Schaden
«Das Wissen, wie man mit den kritischen Fragen umgehen kann, ist in der Ärzteschaft zu wenig verbreitet.»
ist. Es ist eigentlich gar nicht schwer,
das so darzustellen, dass die Leute es
verstehen können, es wird nur nicht ge- lasse. Zu diesem Zweck fände er es gut, persönliche Rat viel überzeugender als
macht», sagte Mühlhauser. Risiken im wenn es abgestufte Impfpläne gebe, Medienberichte oder das Internet,
Arzt-Patienten-Gespräch verständlich von einer Minimal- bis zu einer Maxi- meinte die Lausanner Soziologin: «Die
zu kommunizieren, sei aber auch nicht malversion.
Menschen trauen Menschen, die sie
so zu verstehen, dass der Arzt den Rat- Empathie sei unter Umständen wichti- kennen.» Arzt oder Ärztin seien immer
suchenden nun mit Zahlen überhäufen ger als Information, gab Maura Zano- noch wichtige Vertrauenspersonen.
solle, sondern dass er diese parat haben lari Calderari zu bedenken, zumal nicht Wichtig für einen überzeugenden Rat
müsse, um gegebenfalls darauf zurück- die kleinen Kinder das Problem seien, sei es aber, dass man die Patienten di-
zugreifen.
sondern die Jugendlichen: «Die fallen rekt, gleich und ernsthaft anspreche
eher durch die Maschen.»
und die Impfung nicht nur nebenbei
... oder mit dem Gefühl?
Ehrlichkeit in der Kommunkation for- empfehle.
❖
Zahlen seien aber nicht jedermanns derte Dr. Virginie Masserey Spicher,
Sache, ihre übrigens auch nicht, meinte BAG. Man müsse das Vertrauen in die Renate Bonifer
dazu eine Hausärztin aus dem Audito- Institionen stärken, und dazu gehöre
rium. Da setze sie doch lieber auf den auch, dass man ehrlich sagen müsse,
Fallbericht, um die Leute zu einer Imp- wenn es zu einer bestimmten Frage
fung zu bewegen.
noch keine definitive Antwort gebe.
ARS MEDICI 24 ■ 2012 1317