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FORTBILDUNG
Neue Richtlinie zur überaktiven Blase
In einer neuen Richtlinie hat die American Urological Association Empfehlungen zur Diagnose und Therapie der nicht neurologisch bedingten überaktiven Blase bei Männern und Frauen zusammengestellt. Die Empfehlungen richten sich an Allgemeinmediziner und Fachspezialisten.
AUA/SUFU
Eine überaktive Blase («over-active bladder», OAB) wird klinisch anhand charakteristischer Beschwerden diagnostiziert. Die Internationale Kontinenz-Gesellschaft (ICS) definiert eine OAB als imperativen Harndrang mit oder ohne Dranginkontinenz, der meist mit übermässiger Miktionshäufigkeit und Nykturie einhergeht, ohne dass Harnwegsentzündungen oder andere Pathologien vorliegen. Der imperative Harndrang gilt als Leitsymptom der OAB. Während der Wachzeiten entspricht definitionsgemäss eine Miktionshäufigkeit bis zu sieben Mal der Norm, und die Nykturie ist durch einoder mehrmaliges Wasserlassen bei Unterbrechung des Nachtschlafs gekennzeichnet. Die Dranginkontinenz wird von der ICS als unfreiwilliger Harnverlust im Zusammenhang mit imperativem Harndrang definiert. In populationsbasierten Studien variiert die Prävalenz der OAB bei Männern zwischen 7 und 27 Prozent und bei Frauen zwischen 9 und 43 Prozent. Häufigkeit und Schwere der OAB nehmen mit dem Alter zu. Etwa ein gutes Drittel
Merksätze
❖ Die Diagnose der OAB erfolgt anhand charakteristischer Harnwegssymptome.
❖ Die Behandlung der ersten Wahl besteht in einer Verhaltenstherapie mit oder ohne Antimuskarinikum.
❖ Second-Line-Option ist die Behandlung mit einem Antimuskarinikum.
❖ Ausgewählten Patienten kann eine sakrale Neuromodulation (SNS) oder eine Tibialnervstimulation (PTNS) als Third-LineOption angeboten werden.
(37–39%) der Betroffenen erreicht innerhalb eines Jahres eine Remission; bei den meisten Patienten bleiben die Beschwerden jedoch über Jahre bestehen. Die American Urological Association (AUA) hat im Jahr 2012 eine neue Richtlinie mit Empfehlungen zur Erkennung einer OAB, zur Durchführung eines validierten Diagnoseverfahrens und zur Therapie der nicht neurologisch bedingten OAB bei Männern und Frauen erstellt. Das Ziel der empfohlenen Strategien und Massnahmen besteht in einer maximalen Symptomkontrolle und der bestmöglichen Lebensqualität des Patienten bei gleichzeitiger Minimierung unerwünschter Ereignisse. Die in dieser Richtlinie empfohlenen Strategien und Vorgehensweisen stammen aus evidenz- und konsensbasierten Prozessen. Das Expertenpanel betont, dass die Richtlinie nicht starr interpretiert werden sollte. Die effektivste Vorgehensweise wird vorzugsweise individuell durch den Arzt und den betroffenen Patienten festgelegt. Das Dokument richtet sich an alle Beteiligten im Gesundheitswesen, die eine OAB evaluieren und behandeln, inklusive Allgemeinmediziner und Fachärzte.
Methodische Aspekte Die Primärquelle der Evidenz zur Erstellung der Richtlinie bildet ein systematischer Review der Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ) zur relevanten Fachliteratur aus dem Zeitraum von 1966 bis Oktober 2008. Ergänzend führte die AUA eine Literaturrecherche zu von der AHRQ nicht ausreichend berücksichtigten OAB-Therapien sowie zu neueren Publikationen aus dem Zeitraum zwischen Oktober 2008 und Dezember 2011 durch. Im Hinblick auf die Diagnose der OAB reichte die aktuelle Datenlage nicht aus, um evidenzbasierte Empfehlungen abgeben zu können. Dieser Teil der Richtlinie basiert daher auf klinischen Grundlagen und der Meinung von Expertengremien: ❖ Klinische Grundlage: Hier handelt es sich um ein State-
ment zu einem Aspekt der klinischen Versorgung, über den bei Urologen und anderen Fachärzten eine weitgehende Übereinstimmung besteht, wobei eine Evidenz aus der medizinischen Literatur zum jeweiligen Sachverhalt vorhanden sein kann oder auch nicht. ❖ Als Expertenmeinung wird ein Statement bezeichnet, das durch den Konsens eines Expertengremiums erzielt wurde, der wiederum auf der klinischen Ausbildung und der Erfahrung sowie auf den Kenntnissen und Beurteilungen der Mitglieder zur jeweiligen Sachlage ohne weitere Evidenz beruht.
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FORTBILDUNG
Anamnese und körperliche Untersuchung, Urinanalyse
Zeichen und Symptome der OAB, (-) mikroskopische Untersuchung des Urins
Diagnose unklar oder weitere Informationen erforderlich
Patientenschulung
– normale Funktion des Harntrakts – Nutzen/Risiken von Behandlungsoptionen – Vereinbarung von Behandlungszielen
Patient wünscht eine Behandlung, und/oder Behandlung ist in bestem Interesse des Patienten
Verhaltenstherapien Bei Teilerfolg Zugabe von Antimuskarinika erwägen
Behandlungsziele verfehlt; Patient wünscht weitere Behandlung, und/oder weitere Behandlung ist in bestem Interesse des Patienten
Antimuskarinika mit aktivem Management unerwünschter Wirkungen (z.B. Mundtrockenheit, Verstopfung); bei inakzeptablen Nebenwirkungen Dosismodifizierung oder Wechsel des Antimuskarinikums erwägen
Behandlungsziele verfehlt; Patient wünscht weitere Behandlung, und/oder weitere Behandlung ist in bestem Interesse des Patienten
Erneute Evaluierung und/oder Überweisung Urinkultur, Untersuchung des Restharns, Miktionstagebuch, Symptomfragebögen, andere diagnostische Verfahren zur differenzierten Diagnose erwägen
Symptome/Zeichen konsistent mit der Diagnose einer OAB
+/- Urinkultur, Restharn, Blasentagebuch, Symptomfragebögen
Zeichen/ Symptome der OAB
Keine OAB oder komplizierte OAB, behandeln oder überweisen
Follow-up bezüglich Wirksamkeit und unerwünschter Wirkungen
Behandlungsziele erreicht
In sehr seltenen Fällen künstlichen Blasenausgang oder Vergrösserungszystoplastik erwägen
Bei ausgewählten Patienten erwägen
(multiple Therapien, die jedoch nicht kombiniert werden sollten)
Mit FDA-Zulassung
Ohne FDA-Zulassung
– sakrale Neuromodulation (SNS) – Botulinumtoxininjektionen
– Tibialnervstimulation (PTNS)
in den Detrusor
Abbildung: Diagnose und Behandlungsalgorithmus gemäss AUA-Richtlinie zur nicht neurogenen OAB bei Erwachsenen
Bezüglich der Behandlungsoptionen entsprachen 151 Publikationen den Einschlusskriterien der Richtlinienarbeitsgruppe. Die jeweiligen Behandlungsverfahren wurden von der AUA folgenden Evidenzkategorien zugeordnet: ❖ Evidenzgrad A, hoch: gut durchgeführte randomisierte
kontrollierte Studien (RTC) oder besonders gute («strong») Beobachtungsstudien ❖ Evidenzgrad B, moderat: RTC mit Schwächen im Hinblick auf die Durchführung und die Verallgemeinbarkeit oder gute Beobachtungsstudien ❖ Evidenzgrad C, niedrig: inkonsistente Beobachtungsstudien mit kleinen Teilnehmerzahlen oder andere Gegebenheiten, die eine Interpretation der Ergebnisse erschweren ❖ Die Empfehlungen zu weiteren, zusätzlichen Behandlungsoptionen basieren bei unzureichender Evidenz – wie die
Empfehlungen zur Diagnosestellung – auf klinischen Grundlagen und Expertenmeinungen.
Empfehlungen zur Diagnose der überaktiven Blase In einem diagnostischen Prozess werden Symptome und Zeichen dokumentiert, die eine OAB charakterisieren (siehe Abbildung). Zudem werden andere Störungen ausgeschlossen, welche die Beschwerden verursachen könnten. Die Minimalanforderungen für die Diagnosestellung bestehen in einer sorgfältigen Anamnese, einer körperlichen Untersuchung und einer Urinanalyse (klinische Grundlage). Bei manchen Patienten können zum Ausschluss anderer Ursachen weitere Untersuchungen zur Validierung der Diagnose einer OAB und zur Erstellung eines geeigneten Behandlungsplans erforderlich sein. Entsprechend dem
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Ermessen des Arztes kann eine Urinkultur angelegt und/ oder eine Untersuchung des Restharns vorgenommen werden. Zusätzlich können Miktionstagebücher und/oder Symptomfragebögen als Informationsquellen herangezogen werden (klinische Grundlage). Urodynamische Untersuchungen, eine Zystoskopie und ein diagnostischer Ultraschall der Nieren und der Blase gehören in unkomplizierten Fällen nicht zur Erhebung des Erstbefunds (klinische Grundlage). Bei der OAB handelt es sich nicht um eine Erkrankung, sondern um einen nicht lebensbedrohlichen Symptomkomplex. Daher gehört die Entscheidung, keine Therapie durchzuführen, nach einer sorgfältigen Untersuchung und dem Ausschluss behandlungsbedürftiger Erkrankungen zu den akzeptablen Optionen (Expertenmeinung). Ärzte sollten ihre Patienten über die normale Funktionsweise der unteren Harnwege und über die OAB sowie über den Nutzen und die Risiken verfügbarer Behandlungsoptionen informieren. Zudem sollten Patienten darüber aufgeklärt werden, dass eine zufriedenstellende Symptomkontrolle manchmal erst nach mehreren therapeutischen Anläufen erreicht werden kann (klinische Grundlage).
Behandlungsoptionen der ersten Wahl Als erste Massnahme wird allen Patienten mit OAB eine Verhaltenstherapie mit individuell geeigneten Komponenten angeboten (siehe Abbildung). Dazu gehören Blasentraining, Strategien zur Blasenkontrolle, Beckenbodentraining und das Flüssigkeitsmanagement (Standardbehandlung, Evidenzgrad B). Die Verhaltenstherapie kann mit einer Antimuskarinikabehandlung kombiniert werden (Empfehlung, Evidenzgrad C).
Second-Line-Optionen Als Optionen der zweiten Wahl stehen orale Antimuskarinika wie Darifenacin (Emselex®), Fesoterodin (Toviaz®), Oxybutinin (Ditropan®, Kentera®, Lyrinel®), Solifenacin (Vesicare®), Tolterodin (Detrusitol®) oder Trospium (SpasmoUrgenin®) zur Verfügung. Die Medikamente wurden alphabetisch aufgelistet, eine therapeutische Hierarchie ergibt sich dadurch nicht (Standardbehandlung, Evidenzgrad B). Aus Studien geht hervor, dass alle Antimuskarinika eine vergleichbare Wirksamkeit aufweisen. Stehen schnell freisetzende und verzögert freisetzende Formulierungen zur Verfügung, sollten retardierte Formen bevorzugt werden, da es bei dieser Darreichungsform weniger häufig zu Mundtrockenheit kommt (Standardbehandlung, Evidenzgrad B). Auch transdermales Oxibutin (Pflaster oder Gel) kann angeboten werden (Empfehlung, Evidenzgrad C). Bei unzureichender Symptomkontrolle mit einem Antimuskarinikum und/oder bei unerwünschten Ereignissen kann eine Dosisanpassung vorgenommen oder das Präparat gewechselt werden (klinische Grundlage). Bei Patienten mit Engwinkelglaukom sollten Antimuskarinika nicht ohne die Zustimmung des Ophthalmologen angewendet werden. Extreme Vorsicht ist auch bei Patienten mit beeinträchtigter gastrischer Entleerung oder bei einer Urinretention in der Anamnese geboten (klinische Grundlage).
Bevor das Absetzen eines wirksamen Antimuskarinikums aufgrund von Nebenwirkungen wie Verstopfung und Mundtrockenheit in Erwägung gezogen wird, sollte zuerst ein Versuch unternommen werden, diese unerwünschten Ereignisse zu kontrollieren. Geeignete Massnahmen hierzu sind die Regulierung der Darmtätigkeit, das Management von Flüssigkeitsaufnahme und -ausscheidung sowie eine Dosismodifizierung oder ein Wechsel des Antimuskarinikums (klinische Grundlage). Bei Patienten, die weitere Medikamente mit anticholinergen Eigenschaften einnehmen, sind Antimuskarinika vorsichtig anzuwenden (Expertenmeinung). Auch bei gebrechlichen Patienten ist Vorsicht geboten (klinische Grundlage). Patienten, die auf verhaltenstherapeutische Massnahmen oder medikamentöse Therapien nicht ausreichend ansprechen, sollten dem Spezialisten überwiesen werden, wenn sie eine weitere Behandlung wünschen (Expertenmeinung).
Von der FDA zugelassene Third-Line-Optionen Ausgewählten Patienten mit schwerer refraktärer OAB oder Patienten, die auf Second-Line-Optionen nicht ansprechen und bereit sind, sich einem chirurgischen Eingriff zu unterziehen, kann eine sakrale Neuromodulation angeboten werden (Empfehlung, Evidenzgrad C). Auch die perkutane Tibialnervstimulation (PTNS) gehört zu den Behandlungsmöglichkeiten der dritten Wahl für ausgewählte Patienten (Option, Evidenzgrad C).
Von der FDA nicht zugelassene Third-Line-Optionen Ausgewählten Patienten, die auf First- und Second-LineOptionen nicht ansprechen, können nach ausführlicher Beratung auch Injektionen mit Botulinumtoxin A (Botox®) in den Detrusor angeboten werden. Patienten, die sich dafür entscheiden, müssen bereit sein, sich häufig einer Evaluierung des Restharns zu unterziehen und sich – wenn erforderlich – selbst zu katheterisieren (Option, Evidenzgrad C).
Zusätzliche Optionen Verweilkatheter werden wegen des Risiko-Nutzen-Verhältnisses – ausser als allerletzte Option bei einzelnen Patienten – für das Management der OAB nicht empfohlen (Expertenmeinung). In seltenen Fällen kann bei schwerer, komplizierter, refraktärer OAB eine Vergrösserungszystoplastik oder ein künstlicher Harnausgang in Betracht gezogen werden (Expertenmeinung).
Follow-up
Um die Wirksamkeit, die Compliance sowie Nebenwirkun-
gen und den Nutzen potenzieller Alternativen zu evaluieren,
sollte dem Patienten ein Follow-up angeboten werden (Ex-
pertenmeinung).
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Petra Stölting
Ann E Gormley et al.: Diagnosis and treatment of overactive bladder (non-neurogenic) in adults: AUA/SUFU guideline 2012. www.auanet.org/content/media/OAB_guideline.pdf.
Interessenkonflikte: keine deklariert
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