Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
ARSENICUM
Friedensnobelpreiswürdige
A m Jahresende reden alle immer von Frieden: Auf Erden. Und den Menschen ein Wohlgefallen. Gleichzeitig herrschen allüberall Konflikte und Krieg. Man streitet sich, wie dies zu beenden wäre. Nicht einfach, wenn man keine Gewalt einsetzen will. In Schaffhausen haben wir den «Frieden». Seit 1445, als Gasthaus. Die Bombardierung vom 1. April 1944 hat er überlebt. Man kann in den getäferten Stuben oder im Sommer unter der Pergola wieder bei einem Gläschen über ihn nachdenken. Erfreulicherweise ist Frieden für das EDA ein Thema, welches das friedliche Zusammenleben der Völker als eines der fünf Ziele der schweizerischen Aussenpolitik definiert und eine lesenswerte Website hat. Auffällig ist der Gender-Gap: Die friedlichsten Menschen sind laut Forschung ältere Frauen. Es gibt «Frauen für den Frieden», aber keine analoge Männerorganisationen. In über 100 Jahren Friedensnobelpreisgeschichte haben nur 15 Frauen die Auszeichnung erhalten. Maren Haartje sagte dazu: «Frauen arbeiten für den Frieden, Männer werden dafür honoriert.» Aber ist der Friedensnobelpreis wirklich eine erstrebenswerte Ehrung, nachdem er seit 1901 schon öfters an Menschen verliehen wurde, deren Beitrag zum Frieden bestritten werden kann? Wir Hausärzte hätten ihn vermutlich auch verdient, denn unser Beitrag zum Seelenfrieden unserer Patienten, zum Landfrieden, Familienfrieden und Betriebsfrieden ist erheblich. Von inneren und äusseren Konflikten zerrissen und zermürbt kommen sie zu uns, unsere Patienten, unter dem Vorwand von Fusspilz und Myokardinfarkt. Nach wenigen Worten wissen wir: Es steckt mehr dahinter: die Reorganisation im Betrieb, der cholerische Chef, der lieblose Partner, die böse Schwiegermutter, der prügelnde Vater, die Seelennöte schlimmer Kindheiten. Der alltägliche Kampf, oft ab Geburt, hinterlässt Verwundete. Wir machen sie wieder fit, damit sie sich erneut
ins Getümmel stürzen können, oder nehmen sie weg von der Front. Oft fragt man sich: Muss diese tagtägliche Gewalt wirklich sein? Könnten Interessengegensätze nicht behutsamer angegangen werden? Und hat dann immer wieder unfriedliche Fantasien, was man den allgegenwärtigen destruktiven Tyrannen – siehe unvollständige Aufzählung oben – gerne antun würde … Friedenstiften ist anstrengend. Gelingt es einem, mit einem Paar in der Trennung zumindest ein glimpfliches Ende der Beziehung zu erarbeiten, ist man nachher erschöpft. Bringt man die Kommunikation zwischen zerstrittenen Nachbarn oder trotzigen Pubertierenden und hilflosen Eltern oder misstrauischen Arbeitgebern und erschöpften Arbeitnehmern wieder in Gang, ist man abends ausgelaugt. Aber glücklich. Die Riesenarbeit, die es braucht, um Frieden herzustellen und zu erhalten, die in keinem Verhältnis zur Einfachheit der Zerstörung steht, lässt sich nur rechtfertigen, weil Destruktion derartig schlimm ist. Wie viele Menschen braucht es, um einen Kriegstreiber, eine Intrigantin zu neutralisieren? «Vier!», meinte Theo, ein Achtjähriger, der in seiner Schule erfolgreich als Peacemaker arbeitet. «Mich, weil ich gut mit Leuten reden kann. Céline, die die Streitenden und ihre Freunde genau beobachtet. Miroljub, der starke Jugo, in dessen Gegenwart niemand wagt loszuprügeln. Und natürlich unser Vertrauenslehrer, der von oben aus dem Lehrerzimmer immer ein Auge auf den Schulhof hat.» Eine Ratio von 1:4, mit Verhandler, Beobachter und zwei Vertretern von Ordnungsmacht. Das ist machbar. Denn wollen wir nicht alle Frieden? Sind die Besonnenen, Freundlichen, Kompromissbereiten nicht in der Mehrzahl? Doch es ist nicht so einfach mit dem Frieden. «Wahrscheinlich hat sie ‹Peace› gesagt», sinnierte ein Kollege über die halbbatzige Entschuldigung seiner inkompetenten, aggressiven Chefin. «Aber vielleicht war es doch ‹Piss!› oder ‹Piece!›.» Nun, die Friedensbemühungen von uns allen werden Stückwerk bleiben. Aber bleiben wir dran. Auch wenn’s dem bösen Nachbarn nicht gefällt.
1312 ARS MEDICI 24 ■ 2012