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FORTBILDUNG
Verhindern Beta-Interferone Behinderungen bei Multipler Sklerose?
Kanadische Studie nährt Zweifel am langfristigen Nutzen der Interferontherapie
Bei schubförmiger multipler Sklerose werden sehr häufig Beta-Interferone verordnet. Sie reduzieren die Zahl der Krankheitsschübe und hemmen die Entwicklung neuer Hirnläsionen. Doch fanden kanadische Wissenschaftler in einer retrospektiven Analyse keine Hinweise dafür, dass Beta-Interferone die Progression der Behinderung bremsen.
JAMA
Die multiple Sklerose (MS) ist eine chronische Erkrankung, die häufig relativ junge Menschen befällt. Oft kommt es im Krankheitsverlauf zu zunehmenden Behinderungen. BetaInterferone sind die am häufigsten verschriebenen krankheitsmodifizierenden Medikamente; sie sind von der USamerikanischen Food and Drug Administration (FDA) für die Behandlung der schubförmig remittierenden MS – der häufigsten MS-Form – zugelassen. In Studien wurde gezeigt, dass Beta-Interferone das Auftreten neuer Hirnläsionen wesentlich reduzieren (nachgewiesen mittels Kernspintomografie) und darüber hinaus die Schubfrequenz bei schubförmig remittierender MS um ein Drittel senken. Doch es gab bisher keine methodisch hochwertigen Longitudinalstudien, die den Effekt von Interferon beta auf die Progression der Behinderung untersuchten.
Merksätze
❖ In einer retrospektiven Kohortenstudie fanden kanadische Wissenschaftler keine Anhaltspunkte dafür, dass Beta-Interferone bei MS-Patienten die Progredienz der Behinderung bremsen.
❖ Die Autoren räumen allerdings ein, dass eine bestimmte Subgruppe von MS-Patienten möglicherweise von Interferon beta profitiert; diese Subgruppe konnte in der vorliegenden Analyse jedoch nicht identifiziert werden.
❖ Die Ergebnisse der kanadischen Studie werden unter Experten lebhaft diskutiert. Möglicherweise liegt ein sogenannter «indication bias» vor, oder die Patientenzahl war zu gering, um signifikante Effekte der Beta-Interferone nachzuweisen.
Um den Zusammenhang zwischen einer Interferon-betaTherapie und der Progredienz der Behinderung bei schubförmig verlaufender MS zu untersuchen, verwendete das Forscherteam um Afsaneh Shirani von der Universität Vancouver eine Datenbank von MS-Fällen aus der kanadischen Provinz British Columbia.
Studiendesign Bei der kanadischen Studie handelt es sich um eine retrospektive Kohortenstudie, in der prospektiv gesammelte Daten der British-Columbia-Multiple-Sclerosis-(BCMS-) Datenbank aus den Jahren 1985 bis 2008 ausgewertet wurden. Die Analyse umfasste insgesamt 2656 Patienten mit schubförmiger MS, die folgenden Gruppen zugeordnet waren: ❖ Patienten, die von 1995 bis 2004 mit Interferon beta be-
handelt wurden (n = 868, mediane Nachbeobachtungszeit: 5,1 Jahre) ❖ Patienten, die im selben Zeitraum (1995–2004) nicht mit Interferon beta behandelt wurden (n = 829, mediane Nachbeobachtungszeit: 4,0 Jahre; kontemporäre Kontrollgruppe) ❖ Patienten, die vor der Zulassung von Interferon beta erkrankten (1985–1995) und deshalb kein Interferon beta erhielten (n = 959, mediane Nachbeobachtungszeit: 10,8 Jahre; historische Kontrollgruppe).
Die Wissenschaftler untersuchten unter anderem, wie viele Patienten auf der Expanded Disability Status Scale (EDSS; Bereich: 0–10; je höher der Score, desto ausgeprägter die Behinderung) einen Behinderungsscore von 6 erreichten. Der EDSS-Score musste dauerhaft bei 6 liegen und durfte bei einer Kontrolluntersuchung nach > 150 Tagen keine messbare Besserung zeigen. Ein EDSS-Score von 6 bedeutet, dass eine Gehstrecke von etwa 100 m nur mittels einer Gehhilfe – beispielsweise mit einem Stock – bewältigt werden kann. Der durchschnittliche Baseline-EDSS-Score lag in der Interferon-beta-Kohorte bei 2,1 und in den beiden unbehandelten Vergleichskohorten bei 2,0.
Ergebnisse Einen EDSS-Score von 6 erreichten 10,8 Prozent der Patienten, die mit Interferon beta behandelt worden waren, 5,3 Prozent aus der kontemporären Kontrollgruppe und 23,1 Prozent aus der historischen Kontrollgruppe. Nachdem eine Adjustierung auf verschiedene potenzielle Confounder («Störfaktoren») wie Geschlecht, Alter, Erkrankungsdauer und EDSS-Score erfolgt war, liess sich für die Interferon-
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FORTBILDUNG
Neurologen werden bei MS vermutlich weiterhin Interferon verordnen
Verschiedene kontrollierte Therapiestudien haben konsistent gezeigt, dass immunmodulatorische Therapieoptionen wie Interferon beta bei MS die Schubfrequenz senken sowie die mit den Schüben zusammenhängende Progredienz der Behinderung und die Entzündungsaktivität reduzieren können, schreiben Neurologen vom Universitätsspital Basel in einem Editorial zu der kanadischen Studie. Diese früheren Studien erstreckten sich über zwei bis drei Jahre, aber viele Experten gingen bisher davon aus, dass MS-Patienten auch auf Dauer von Interferon beta profitieren und dass sich langfristig Behinderungen verhindern oder hinauszögern lassen.
Afsaneh Shirani und Kollegen konnten in ihrer Studie einen solchen Nutzen nicht nachweisen. Bedeutet das, dass die Therapie mit Interferon beta bei MS-Patienten unter «Real-World-Bedingungen» versagt hat? Nicht unbedingt: Nicht randomisierte Beobachtungsstudien müssen vorsichtig interpretiert werden. So können bestimmte Selektionskriterien zu einem «Bias» führen, also die Studienergebnisse verzerren. Die kontemporäre Kontrollgruppe der kanadischen Studie bestand aus MS-Patienten, die nicht mit Interferon beta behandelt wurden, obwohl dieses Medikament zur Verfügung stand. Und es spricht einiges dafür, dass die Patienten aus der kontemporären Kontrollgruppe nicht so
schwer erkrankt waren wie diejenigen aus der Interferongruppe: Sie wiesen initial niedrigere EDSS-Scores auf und hatten eine geringere jährliche Schubrate – und bekamen wahrscheinlich deshalb keine Interferontherapie. Dies lässt einen «indication bias» vermuten.
Darüber hinaus weisen die Editorialisten aus Basel darauf hin, dass die kanadische Studie von der Patientenzahl her wahrscheinlich zu klein war. In ihren Berechnungen gingen die kanadischen Wissenschaftler von einer 40-prozentigen Risikoreduktion durch Interferon aus. In den Zulassungsstudien, die mit Interferon beta bei schubförmiger MS durchgeführt wurden, ist jedoch nur eine Risikoreduktion von 30 Prozent beschrieben.
Es ist wahrscheinlich, dass sich Neurologen auch in Zukunft auf die verfügbare Evidenz aus kontrollierten Studien verlassen, die einen kurzfristigen Nutzen von Beta-Interferonen belegen, insbesondere bei Patienten in der Frühphase der Erkrankung, und weiterhin Interferon beta und andere Interferone verschreiben. Allerdings unterstreicht die kanadische Studie nach Ansicht der Schweizer Editorialisten, dass der Zusammenhang zwischen Interferontherapie und langfristiger Behinderung nicht bewiesen ist – auch wenn er plausibel erscheint.
Tobias Derfuss et al.: Evaluating the potential benefit of interferon treatment in multiple sclerosis. JAMA 2012; 308(3): 290–291.
behandlung kein statistisch signifikanter Nutzen in Bezug auf das Fortschreiten der Erkrankung (Erreichen eines EDSSScores von 6) nachweisen. Die Hazard Ratio (HR) für Interferon versus kontemporäre Kontrollgruppe lag bei 1,30 (95%-Konfidenzintervall 0,92–1,83; p = 0,14), die HR für Interferon versus historische Kontrollgruppe betrug 0,77 (95%-Konfidenzintervall 0,58–1,02; p = 0,07).
gungen unternommen werden, neue Ansätze für die MS-
Therapie zu entwickeln.
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Andrea Wülker
Afsaneh Shirani et al.: Association between use of interferon beta and progression of disability in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis. JAMA 2012; 308(3): 247–256.
Kommentar der Studienautoren Bei Patienten mit schubförmiger MS war die Behandlung mit Interferon beta nicht mit einer Reduktion der Progredienz der Behinderung assoziiert, so das Fazit der Autoren der kanadischen Studie. Wichtigstes Ziel der MS-Therapie ist es, langfristige Behinderungen zu verhindern oder hinauszuzögern. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie lassen Zweifel am routinemässigen Einsatz von Interferon beta bei MS aufkommen. Die Studienautoren räumen jedoch ein, dass es möglicherweise eine Subgruppe von MS-Patienten gibt, die von einer Interferon-beta-Therapie profitiert und die in der kanadischen «Real-World-Studie» nicht identifiziert werden konnte. Es sind weitere Forschungsarbeiten erforderlich, um diese Patientengruppe zu charakterisieren. Dabei könnten Pharmakogenomik- oder Biomarkerstudien hilfreich sein, die den Weg für eine individuell zugeschnittene, personalisierte Therapie ebnen. Darüber hinaus sollten Anstren-
Interessenlage: Einige Autoren geben an, von verschiedenen Pharmaunternehmen Referenten- bzw. Beraterhonorare oder Forschungsstipendien erhalten zu haben. Die Studie wurde von den Canadian Institutes of Health Research und von der National Multiple Sclerosis Society unterstützt.
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