Transkript
FORTBILDUNG
Starke Kopfschmerzen
Abklärung und Therapie in der Hausarztpraxis
Kopfschmerzen gehören zum täglichen Brot der Allgemeinmediziner; die Prävalenz ist hoch, die volkswirtschaftlichen Kosten sind es ebenso. Die Unterscheidung zwischen lebensbedrohlichen und «harmlosen» Kopfschmerzen ist essenziell. Deshalb ist es hilfreich, wenn der Allgemeinmediziner die wichtigsten Warnsymptome kennt, um die Patienten im entscheidenden Moment weiterzuweisen. Aber auch in der täglichen Betreuung der grossen Anzahl Patienten mit Migräne und anderen primären Kopfschmerzformen spielen die Hausärzte eine wichtige Rolle, und Grundkenntnisse der evidenzbasierten Therapie sollten jedem Hausarzt geläufig sein.
Merksätze
❖ Mithilfe von Anamnese und klinischer Untersuchung lassen sich die meisten Kopfschmerzen diagnostizieren.
❖ Warnsymptome müssen früh erkannt und weiter abgeklärt werden, da ihnen potenziell tödliche Erkrankungen zugrunde liegen können.
❖ Die Migräne ist eine komplexe Erkrankung mit grosser Heterogenität; häufig ist ein multimodales Therapiekonzept mit medikamentösen und nicht medikamentösen Massnahmen nötig.
❖ Viele Patienten mit Spannungskopfschmerzen und/oder Migräne leiden an chronischen Kopfschmerzen, diese erfordern wegen des hohen Leidensdrucks und der drohenden Arbeitsunfähigkeit besondere Aufmerksamkeit.
❖ Clusterkopfschmerzen gehören zu den stärksten Schmerzsyndromen überhaupt und sollten einem Kopfwehspezialisten zugewiesen werden.
❖ Erstlininentherapie bei der Trigeminusneuralgie ist immer noch Carbamazepin; eine Vielzahl weiterer medikamentöser wie auch interventioneller Therapieoptionen stehen zur Verfügung.
❖ Aufklärung, restriktive Analgetikaverordnung sowie der frühe Einsatz von Prophylaktika in der Therapie von gehäuft auftretenden Kopfschmerzen kann der Entwicklung eines Medikamentenübergebrauchskopfschmerzes vorbeugen.
SIVAN SCHIPPER UND ANDREAS R. GANTENBEIN
Kopfschmerzen sind häufig und verursachen Leid und Erwerbsunfähigkeit. Mehr als 50 Prozent der Erwachsenen geben an, im letzten Jahr an Kopfschmerzen gelitten zu haben. Die Prävalenz der Migräne beträgt 8,4 bis 18 Prozent, bei Spannungskopfschmerzen 16 bis 30 Prozent, und 3 Prozent der Bevölkerung leiden an chronischen Kopfschmerzen (> 180 Tage pro Jahr) (1). Die Prävalenz des Medikamentenübergebrauchskopfschmerzes beträgt etwa 1 bis 2 Prozent. Clusterkopfschmerz hat eine Lebenszeitprävalenz von 0,2 bis 0,3 Prozent (2). Eine hausärztliche Praxis mit 1000 Patienten behandelt somit durchschnittlich 150 Erwachsene und 25 Kinder mit quälender Migräne, 30 Personen mit chronischen Kopfschmerzen und 2 bis 3 Patienten mit Clusterkopfschmerzen. Kopfschmerzen gehören zu den Krankheiten mit den höchsten volkswirtschaftlichen Kosten in Europa und den USA. Ein Fünftel der Arbeitsausfälle erfolgt aus diesem Grund. Migränekopfschmerzen alleine generierten in den USA in den 1990er Jahren geschätzte direkte Kosten von 1 Milliarde US-Dollar pro Jahr und indirekte jährliche Kosten von 13 Milliarden US-Dollar durch Verlust der Produktivität (3). Die grosse Mehrheit der Kopfschmerzpatienten wird durch die Grundversorger behandelt. Es gibt jedoch Situationen, in denen eine Zuweisung an einen Neurologen oder Kopfwehspezialisten empfohlen ist: Bei Auftreten von Warnsymptomen («Red Flags», siehe Tabelle 1), bei chronischen oder therapieresistenten Kopfschmerzen und bei seltenen und komplexen Formen (z.B. Hemicrania continua, Clusterkopfschmerz).
Differenzialdiagnostik Die Anamnese ist entscheidend in der Diagnosefindung, sowohl in der breiten Differenzialdiagnose der primären und sekundären Kopfschmerzen wie auch zum Aufdecken von Warnsymptomen für gefährliche, sekundäre Kopfschmerzen. In Tabelle 1 sind die «Red Flags» und ihre möglichen Ursachen aufgelistet. Die Schlüsselfragen, welche zu jeder Kopfschmerzanamnese gehören und systematisch abgefragt werden sollten, finden sich in Tabelle 2. Eine genaue Diagnose ist unbedingt erforderlich, da verschiedenen Kopfschmerzphänotypen häufig verschiedene pathophysiologische Mechanismen zugrunde liegen, die jeweils unterschiedlicher Therapieregime bedürfen. Bevor eine Therapie eingeleitet wird, sollte darum unbedingt eine Diagnose vorliegen.
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Tabelle 1:
Warnsignale, die eine Zuweisung an eine Notfallstation oder einen Spezialisten erfordern
Symptom
«Thunderclap Headache» (perakut aufgetretene heftige Kopfschmerzen) Neu aufgetretene Kopfschmerzen bei > 50-Jährigen oder < 10-Jährigen Neu aufgetretene Kopfschmerzen bei Malignompatienten Neu aufgetretene Kopfschmerzen bei HIV-Patienten Über Wochen zunehmende Kopfschmerzen, therapierefraktäre Kopfschmerzen Kopfschmerz mit Fieber, Nackenstarre, Erbrechen Kopfschmerzen mit neurologischen Zusatzsymptomen Kopfschmerzen, ausgelöst durch Valsalvamanöver Lageabhängige Kopfschmerzen, Papillenödem Temporalschmerz mit Claudicatio masticatorica Kopfschmerz mit Augenrötung
möglicher Hinweis auf Subarachnoidalblutung Zerebrale Raumforderung Hirnmetastasen Intrakranielle Infektionen wie Toxoplasmose, Kryptokokkenmeningitis Intrazerebrale Raumforderung, Sinusvenenthrombose
Meningitis, Hirnabszess Intrazerebrale Raumforderung, Gefässdissektion, Hirnschlag Arnold-Chiari-Malformation, Liquorunterdrucksyndrom Erhöhter intrakranieller Druck (Tumor, Pseudotumor cerebri) Arteriitis temporalis Akutes Glaukom
Tabelle 2:
Schlüsselfragen in der Kopfschmerzanamnese
Fragen Warum kommen Sie jetzt gerade zu mir?
Wo tut es weh? Wie ist die Schmerzqualität? Haben Sie Zusatzsymptome? Wann haben die Symptome angefangen? Wie oft kommen die Symptome? Wie lange halten die Schmerzen jeweils an? Wie stark sind die Schmerzen? Wie ist der Zeitverlauf der Schmerzepisoden? Was hatten Sie schon für Therapien? Was wurde schon abgeklärt? Was tun Sie gegen die Schmerzen? Wie viele Tabletten nehmen Sie pro Monat? Wie beeinträchtigen die Kopfschmerzen Ihren Beruf und Ihr Privatleben? Was sind Ihre Erwartungen?
mögliche Antworten
Noch nie dagewesene Kopfschmerzen, Veränderung des Kopfschmerzcharakters ... Linksseitig, rechtsseitig, frontal, temporal, nuchal ... Drückend, stechend, pulsierend, vernichtend, brennend ... Übelkeit, Erbrechen, Licht-/Lärmempfindlichkeit Vor Tagen, Wochen, Monaten, Jahren, Jahrzehnten Monatlich, wöchentlich, täglich, stündlich, minütlich Sekunden, Minuten, Stunden, Tage Von 1 bis 10 auf der visuellen Analogskala (VAS) Episodisch, chronisch, nachts, tagsüber ... NSAR, Paracetamol, Triptane, Akupunktur ... MRI des Schädels, Lumbalpunktion ... Schmerzmittel, Lifestyle ... 2, 5, 10, 30, 100 … Gar nicht, ein bisschen, sehr ... Heilung, Besserung um 50% ...
Sämtliche Kopfschmerzdiagnosen (über 150) wurden von der Internationalen Kofpschmerzgesellschaft (IHS) in einem übersichtlichen und hierarchisch geordneten Katalog klassifiziert. Dieser ist in deutscher Sprache unter www.ihs-classi fication.org/de/ aufzufinden. Im klinischen Alltag wird man die Klassifikation bei einer eindeutigen Migräne oder einem Kopfschmerz vom Spannungstyp nicht benötigen. Sie ist aber dann nützlich, wenn die Diagnose unsicher ist. Gelegentlich kann ein Patient auch mehrere Diagnosen gleichzeitig haben.
Zum Beispiel eine Migräne ohne Aura (ICHD-II 1.1), eine Migräne mit Aura (ICHD-II 1.2), einen häufigen episodischen Kopfschmerz vom Spannungstyp (ICHD-II 2.2) oder aber zusätzlich einen Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch (ICHD-II 8.3). In Tabelle 3 sind die wichtigsten Kopfschmerzerkrankungen und ihre Symptome dargestellt. Ein Kopfwehkalender über mindestens vier Wochen kann dazu beitragen, das zeitliche Muster der Kopfschmerzen abzubilden, und damit wichtige Hinweise zur Differenzialdiagnose
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Tabelle 3:
Die wichtigsten Kopfschmerzentitäten und ihre Erscheinungsformen
Migräne
Clusterkopfschmerz
Trigeminusneuralgie Medikamentenübergebrauchskopfschmerz Spannungskopfschmerz
20% mit Aura, 80% ohne Aura pulsierende, meist einseitige Kopfschmerzen Schmerzzunahme bei körperlicher Aktivität Zusatzsymptome (Übelkeit, Phono-/Foto-/Osmophobie)
80 bis 90% episodisch, 10 bis 20% chronisch heftige, unilaterale Kopfschmerzattacken, Dauer 15 bis 180 Minuten ipsilaterale autonome Symptome: Rhinorrhö, Lakrimation, Augenrötung, Ptose Agitation während Kopfschmerzattacke
wenige Sekunden dauernde, unilaterale, heftige Schmerzattacken Triggerung durch Kauen, Zähneputzen
chronische Kopfschmerzen heterogener Phänotyp Schmerzverstärkung seit häufiger Einnahme von Schmerzmitteln
leichte bis mittelschwere drückende Kopfschmerzen keine Zusatzsymptome Besserung durch körperliche Aktivität
primärer Kopfschmerzen liefern. Der Kalender kann zudem helfen, allfällige Triggerfaktoren zu identifizieren und auch einen Medikamentenübergebrauch zu entdecken. Ein Kopfschmerzkalender kann zum Beispiel unter www. headache.ch/ kopfwehkalender2 heruntergeladen werden. Nach der sorgfältigen Erhebung der Anamnese folgt die körperliche (internistische und neurologische) Untersuchung. Wenn der Verdacht auf einen sekundären Kopfschmerz besteht, sollten weiterführende Abklärungen (MR-/CT-Bildgebung, Lumbalpunktion u.a.) beziehungsweise eine Zuweisung an einen Neurologen oder Kopfwehspezialisten erfolgen. Im Folgenden gehen wir auf die Diagnosekriterien und Therapieempfehlungen der fünf oben erwähnten Kopfschmerzsyndrome ein. Die Spannungskopfschmerzen sind zwar keine starken Kopfschmerzen und weichen somit vom Schwerpunkt dieses Artikels ab, jedoch seien sie der grossen Häufigkeit und Relevanz vor allem der chronischen Spannungskopfschmerzen wegen dennoch kurz erwähnt.
Migräne mit und ohne Aura Die Migräne ist eine neurovaskuläre Krankheit mit einer genetischen Disposition, wobei die Patientengehirne für eine ganze Reihe endogener und exogener Triggerfaktoren empfänglich sind. Der Migränekopfschmerz entsteht wahrscheinlich durch die Aktivierung von Nozizeptoren in den Meningen und den zerebralen Gefässen mit sekundärer peripherer sowie zentraler Sensitisierung (4). In der ICHD (International Classification of Headache Diseases, s. oben) werden die folgenden Merkmale als charakteristisch für eine Migräne ohne Aura definiert: ❖ 4 bis 72 Stunden währende Kopfschmerzattacken ❖ einseitige, pulsierende Schmerzen von mittlerer bis starker
Intensität ❖ Verstärkung durch körperliche Routineaktivitäten (z.B.
Gehen oder Treppensteigen) ❖ Zusatzsymptome wie Übelkeit, Erbrechen, Fotophobie
und Phonophobie.
Zirka ein Fünftel der Migränepatienten hat Migräne mit Aura. Auraphänomene sind reversible neurologische Symptome, wahrscheinlich ausgelöst durch eine transitorische und langsam fortschreitende Hemmung des neuronalen Metabolismus, der «cortical spreading depression». Typischerweise beginnt diese im grössten Kortexareal, nämlich okzipital, weshalb visuelle Auren am häufigsten sind. Es kann aber auch zu sensorischen oder motorischen (z.B. hemiplegische Migräne), aber auch zu Schwindel, Aphasie und Verwirrtheit kommen (5). Auraphänomene dauern typischerweise 5 bis 60 Minuten, können aber bis zu 24 Stunden anhalten, danach folgen in der Regel, aber nicht immer, Kopfschmerzen. Migräneattacken bei Kindern dauern weniger lang (meist 1 bis 2 h), die Begleitsymptome sind anders und umfassen Syndrome wie abdominelle Migräne, akute konfusionelle Migräne oder zyklisches Erbrechen.
Therapie bei Migräne Die Therapie der Migräne teilt sich auf in akute und prophylaktische Therapie: In der Akuttherapie sind NSAR, Paracetamol, Acetylsalicylsäure oder Kombinationspräparate (z.B. NSAR/Antiemetika, Paracetamol/Coffein) sehr gebräuchlich und je nach Wirksamkeits-Nebenwirkungs-Profil individuell einzusetzen. Zudem haben die Triptane einen hohen Stellenwert. Triptane sollten früh in der Attacke eingenommen werden, aber nicht während der Auraphase. Um einen Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (MÜKS) zu verhindern, sollte ein Patient fähig sein, zwischen Migräne und Spannungskopfschmerz zu unterscheiden. Einige Studien weisen darauf hin, dass die Kombination von NSAR und Triptan der alleinigen Gabe einer der beiden Substanzen überlegen ist (6). Bei Übelkeit kann das Analgetikum in Kombination mit Metoclopramid oder anderen Antiemetika eingenommen werden. Falls das Triptan wirkt und der Kopfschmerz nach einigen Stunden wieder auftritt, so ist die erneute Einnahme eines Triptans indiziert. Falls das Triptan jedoch primär nicht wirksam ist, ist eine erneute Einnahme meist auch nicht wirksam.
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Grundsätzlich sind Migränepatienten in der Hausarztpraxis gut aufgehoben. Der Patient sollte an einen Spezialisten zugewiesen werden, wenn die Migräne in einen chronischen und/oder therapierefraktären Kopfschmerz transformiert, wenn der Kopfschmerz mit einer schweren Depression oder sonstigen psychiatrischen Komorbiditäten einhergeht oder wenn ein MÜKS besteht. Eine prophylaktische Pharmakotherapie soll erwogen werden, wenn mindestens drei Attacken monatlich auftreten, wenn die Gefahr der Entstehung eines MÜKS besteht oder wenn die Lebensqualität der Patienten durch die Attacken erheblich beeinträchtigt ist. Realistisches Ziel einer prophylaktischen Therapie ist die Halbierung der Attackenfrequenz. Die Wahl des Prophylaktikums sollte anhand evidenzbasierter Daten, aber auch anhand von Nebenwirkungsprofil, Komorbiditäten und Wirksamkeit erfolgen. Betablocker (Metoprolol und Propranolol) und Antiepileptika (Topiramat und Valproat) sowie Flunarizin sind gemäss den EFNSLeitlinien (European Federation of Neurological Societies) erste Wahl, Zweitlinienprophylaktika sind Amitriptylin und Venlafaxin, und Drittlinientherapeutika sind Magnesium, Riboflavin, Gabapentin, Lisinopril und Candesartan (vergleiche auch www.headache.ch/Therapieempfehlungen) (7). Zur Behandlung bei Migräne mit Aura werden Lamotrigin (8) oder Flunarizin empfohlen. In Metaanalysen besteht eine Übereinstimmung, dass sowohl Entspannungsverfahren (z.B. progressive Muskelrelaxation nach Jacobson) als auch verschiedene Biofeedbackverfahren im Mittel eine Reduktion der Migränehäufigkeit von zirka 40 Prozent erreichen, eine Wirkstärke vergleichbar mit der von Propranolol (9). Die Migräne steigert das Risiko einer nachfolgenden depressiven Episode, und eine schwere Depression (major depression) steigert wiederum das Risiko einer nachfolgenden Migräneattacke. Die Depression ist somit ein entscheidender Chronifizierungsfaktor bei Kopfschmerzen und sollte früh angegangen werden. Die kognitive Verhaltenstherapie ist mit einer klaren Symptomverbesserung assoziiert (10). Ein gesunder Lebensstil sowie regelmässiges aerobes Ausdauertraining (Schwimmen, Joggen, Nordic Walking usw.) haben nachgewiesen positive Effekte auf die Migräne. Bei Kindern besteht einzig für Ibuprofen 10 mg/kg Körpergewicht und Paracetamol 15 mg/kg Körpergewicht ein evidenzbasierter Nutzen. Domperidon ist das Antiemetikum der Wahl bei Kindern. Bei einer klar diagnostizierten menstruellen Migräne kann unter Berücksichtigung der Nebenwirkungen Naproxen (250 mg, 2 × täglich) 5 Tage vor bis 3 Tage nach Einsetzen der Menstruation gegeben werden. Migräne mit Aura, nicht aber Migräne ohne Aura ist mit einem leicht erhöhten kardiovaskulären Risiko verbunden, vor allem in Kombination mit der Einnahme östrogenhaltiger Antibabypillen, Nikotinkonsum, Übergewicht und positiver Familienanamnese (11). Eine Umstellung auf ein rein gestagenhaltiges Präparat sowie optimalerweise ein Rauchstopp sind anzustreben. Ein offenes Foramen ovale (PFO) ist ein bekannter Risikofaktor für einen zerebrovaskulären Insult und scheint mit Migräne mit Aura assoziiert zu sein, jedoch konnte weder die Risiko- noch die Kopfschmerzreduktion durch einen
PFO-Verschluss bisher in klinischen Studien nachgewiesen werden.
Clusterkopfschmerzen Clusterkopfschmerz ist eine seltene und äusserst schmerzhafte Krankheit, die meist erst sehr spät erkannt wird. Oft liegen Jahre zwischen dem ersten Auftreten und der gesicherten Diagnose. Clusterkopfschmerzen gehören zu den invalidisierendsten Schmerzsyndromen überhaupt. Die Schmerzen werden als extrem stark beschrieben, sind immer einseitig, stechend-brennend, meist retro-/periorbital und temporal lokalisiert. Die Attacken dauern kurz (15 bis 180 min), können mehrmals täglich (1× alle 2 Tage bis 8× pro Tag) auftreten und sind obligat von ipsilateralen trigeminoautonomen Zusatzsymptomen (konjunktivale Injektion, nasale Kongestion, Rhinorrhö, Lidödem, Schwitzen im Gesicht, Miosis und/oder Ptosis) oder von körperlicher Unruhe und Agitiertheit begleitet. Häufig treten die Attacken nachts, meist ein bis zwei Stunden nach dem Einschlafen, auf. Man unterscheidet zwischen der episodischen Form (80–90%), bei der die Attacken über 4 bis 12 Wochen auftreten, um dann über mehrere Monate (bis Jahre) in Remission zu gehen, sowie der chronischen Form (ca. 10%), bei der keine Remissionsphasen bestehen. Die beiden Formen können auch ineinander übergehen. Die Erkrankung beginnt meist in der dritten Lebensdekade. Männer sind zirka siebenmal häufiger betroffen als Frauen. Pathophysiologisch geht man von einer Fehlfunktion im Hypothalamus mit sekundärer Aktivierung des trigeminalen Schmerzsystems aus (12). Ein häufiger Triggerfaktor ist der Alkoholkonsum, dieser sollte während der Clusterepisoden vermieden werden. Die allermeisten Clusterpatienten sind Raucher oder Exraucher, der pathophysiologische Zusammenhang bleibt jedoch ungeklärt. Der Clusterkopfschmerz ist von den seltener auftretenden trigeminoautonomen Kopfschmerzformen, der paroxysmalen Hemikranie, dem SUNCT Syndrom («short-lasting unilateral neuralgiform headache with conjunctival injection and tearing») sowie von der verwandten Hemicrania continua abzugrenzen. Eine Überweisung an einen Spezialisten ist sowohl bei Clusterkopfschmerz als auch in den genannten Fällen empfohlen.
Therapie bei Clusterkopfschmerz Prophylaktika und Akutmedikamente kommen zum Einsatz. Eine hervorragende, nach Vollständigkeit des aktuellen Wissensstands strebende Informationsseite über Clusterkopfschmerzen findet sich unter www.ck-wissen.de. Erstlinienakutmedikament ist die Inhalation von 100-prozentigem Sauerstoff via Hochkonzentrationsmaske für 10 bis 15 Minuten, vorzugsweise mit Reservoirbeutel und Rückschlagventil, mit einer Flussrate von 10 bis 15 l/min. Druckgasflaschen sowie Zubehör können über die Lungenliga bezogen werden. Zirka 60 Prozent der Patienten erfahren eine relevante Schmerzreduktion durch die nebenwirkungsfreie Sauerstoffinhalation. Bei fehlender Wirksamkeit kommen Triptane zum Zuge. Die Injektion von Sumatriptan 6 mg führt bei 75 Prozent der Patienten innert 15 Minuten zu Schmerzfreiheit (13). Alternativ kann Sumatriptan oder Zolmitriptan als Nasenspray verwendet werden, die Wirkung tritt etwas langsamer ein. Orale Triptane wirken meist zu langsam.
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Verapamil ist erste Wahl zur Prophylaxe (14). Die therapeutische Dosierung liegt normalerweise bei 240 bis 480 mg täglich, in Einzelfällen sind bis 960 mg täglich erforderlich. Regelmässige EKG-Kontrollen (QT-Zeit) sind erforderlich. Vorsicht ist bei Herzinsuffizienz, höhergradigem AV-Block und Komedikation mit Betablockern geboten. Prednison kann bei episodischem Clusterkopfschmerz übergangsmässig eingesetzt werden, bis andere Prophylaktika wirken. Ein mögliches Therapieregime ist 100 mg/Tag Prednison für fünf Tage, danach folgt ein schrittweises Ausschleichen über zwei Wochen. Weitere Prophylaktika sind Lithium, Methysergid (via internationale Apotheke), Topiramat und Valproat. Eine weitere Option ist die Infiltration des N. occipitalis major mit einer Lidocain-Steroid-Mischung, welche bei etwa 60 Prozent der Clusterpatienten für mindestens drei bis vier Wochen Wirkung zeigt und bei Rückfällen wiederholt werden kann (15). Bei therapieresistenten Fällen (ca. 10% der chronischen Clusterkopfschmerzpatienten) können die Implantation eines Occipitalisstimulators sowie weitere operative Verfahren evaluiert werden.
Trigeminusneuralgie Die Trigeminusneuralgie (TN) zeichnet sich aus durch stereotype, heftig elektrisierende, kurz dauernde Schmerzattacken, meist im Versorgungsgebiet des zweiten oder dritten Trigeminusasts. Die Attacken werden oft durch Stimuli (Kauen, Gesichtsberührung, Sprechen, Zähneputzen, kalter Wind) ausgelöst, können jedoch auch spontan auftreten. Im Gegensatz zum Clusterkopfschmerz respektive dem SUNCT-Syndrom treten keine trigeminoautonomen Begleitsymptome auf. Häufig lässt sich ein neurovaskulärer Kontakt zwischen einer zerebellären Arterie und dem Nervus trigeminus im Bereich des Hirnstamms in gezielten MR-Aufnahmen nachweisen.
Therapie bei Trigeminusneuralgie Die Therapie sollte rasch erfolgen, da eine prolongierte Symptomatik das Risiko eines persistierenden Hintergrundschmerzes sowie des Verlustes der Sensibilität im Trigeminusbereich bergen kann. Grundsätzlich kann die Trigeminusneuralgie pharmakologisch oder interventionell angegangen werden. Erstlinientherapeutikum bleibt Carbamazepin, die NNT (number needed to treat) beträgt lediglich 1,7 (16). Limitierender Faktor sind jedoch die Nebenwirkungen, die NNH (number needed to harm) beträgt 3,4. Die Initialdosis liegt zwischen 200 und 400 mg täglich. Es folgt eine Steigerung von 100 mg alle zwei Tage bis zu einer befriedigenden Analgesie beziehungsweise bis zum Auftreten von Nebenwirkungen. Dosen von bis zu 2400 mg täglich können in Einzelfällen notwendig sein. Leberwerte und Natriumspiegel sind regelmässig zu kontrollieren. Alternativ kann Oxcarbazepin verwendet werden, welches grundsätzlich besser toleriert wird. Bei fehlender Wirksamkeit können eine Reihe weiterer Medikamente probiert werden: Gabapentin, Pregabalin, Lamotrigin, Baclofen, Valproinsäure, Phenytoin (siehe auch www.headache.ch/Therapieempfehlungen). Bei schwierigen Fällen sollte die Zuweisung an einen Spezialisten erfolgen. Bei zirka einem Drittel der Patienten ist die medikamentöse Therapie nicht effektiv. Bei diesen Patienten wird eine interventionelle Therapie erwogen. Die chirurgische mikrovasku-
läre Dekompression nach Jannetta ist die effektivste, jedoch auch invasivste Methode. Zirka 90 Prozent der Fälle haben ein initial gutes Ansprechen, und immerhin 73 Prozent sind nach fünf Jahren weiterhin schmerzfrei (16). Aber auch lokale Radiochirurgie oder eine Thermokoagulation des Nervs sind mögliche Optionen. Bei allen interventionellen Möglichkeiten sind natürlich die teilweise irreversiblen Komplikationen zu bedenken: Sensibilitätsverlust und Dysästhesie («Anaesthesia dolorosa») bis zum einseitigen Hörverlust durch Verletzung des Nervus cochlearis.
Medikamentenübergebrauchskopfschmerzen Wie es der Name sagt, entstehen Medikamentenübergebrauchskopfschmerzen (MÜKS) sekundär und sind relativ. Definiert als chronische Kopfschmerzen (15 oder mehr Tage pro Monat), bei gleichzeitiger Einnahme von Ergotaminen/Triptanen/Opioiden an 10 oder mehr Tagen monatlich beziehungsweise anderer Analgetika an 15 oder mehr Tagen, entstehen sie meist aus einer episodischen Migräne, häufig aber auch aus Spannungskopfschmerzen (17). Bei Eintreten eines MÜKS wird der Phänotyp diffus und heterogen und der Einsatz sowohl von Prophylaktika als auch von Akutanalgetika meist wirkungslos. Zu beachten ist, dass kopfschmerzanfällige Patienten auch einen MÜKS entwickeln können, wenn sie Analgetika für eine andere Indikation einnehmen, wie Rückenschmerzen oder Arthrosebeschwerden. Frauen sind zirka dreimal häufiger betroffen als Männer. Die Diagnose wird durch eine genaue Medikamentenanamnese beziehungsweise durch Führen eines Kopfschmerzkalenders mit täglichem Eintragen der Kopfschmerzintensität und der Medikamenteneinnahme gestellt.
Therapie bei MÜKS Therapeutisch sollte unbedingt ein Analgetikaentzug durchgeführt werden, alternativ muss zumindest eine Reduktion der Analgetika auf höchstens zwei Tage pro Woche versucht werden. Die Patienten sollten darüber aufgeklärt werden, dass Entzugssymptome wie Reboundkopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schlafstörungen sowie neuropsychiatrische und vegetative Symptome in den ersten Tagen auftreten können. Die Entzugssymptome dauern bei Triptanen 2 bis 3 Tage, bei codein- oder ergotaminhaltigen Präparaten 8 bis 10 Tage. Der Entzug kann mit Steroiden unterstützt werden, auch wenn die Evidenzlage dazu umstritten ist. Allenfalls muss der Entzug unter stationären Bedingungen durchgeführt werden, vor allem wenn der medikamenteninduzierte Kopfschmerz langjährig besteht, psychotrope Substanzen oder Opioide gebraucht wurden, der Patient schon erfolglose Selbstentzüge versucht hat, eine Depression vorliegt oder die sozialen Bindungen nicht ausreichend sind (vgl. Leitlininien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, DGN) (18). Der zusätzliche Einsatz einer Basisprophylaxe ist meist notwendig. Unbedingt zu erwähnen ist, dass Prophylaktika, die während der MÜKS unwirksam waren, nach dem Entzug durchaus wieder wirksam werden können. Ein guter psychologischer, informativer und somatischer Support ist vor, während und nach dem Entzug für das Gelingen des Entzugs besonders entscheidend. In dieser Zeit ist die Ausstellung eines Arbeitsunfähigkeitszeugnisses für zwei bis drei Wochen empfohlen.
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LINKTIPPS
Schweizerische Kopfwehgesellschaft Therapieempfehlungen und Kopfwehalgorithmus für den Hausarzt www.headache.ch/Therapieempfehlungen
International Headache Society IHS-Klassifikation der Kopfschmerzen in Deutsch www.ihs-classification.org/de/
Informationen für Clusterkopfschmerzpatienten www.ck-wissen.de
Korrespondenzadresse: Dr. med. Andreas R. Gantenbein Leitender Arzt Neurologie FMH RehaClinic 5330 Bad Zurzach E-Mail: a.gantenbein@rehaclinic.ch
pract. med. Sivan Schipper Assistenzarzt Innere Medizin Spital Männedorf 8707 Männedorf E-Mail: s.schipper@spitalmaennedorf.ch
Die Prävention (in erster Linie Aufklärung über MÜKS sowie restriktive Abgabe von Analgetika mit frühzeitigem Einsetzen von Prophylaktika) ist absolut prioritär. In einer norwegischen epidemiologischen Querschnittsstudie mit rund 30 000 Befragten mit primär chronischen Kopfschmerzen zeigte sich, dass nur gerade 3 Prozent eine prophylaktische Therapie, wohingegen 87 Prozent regelmässig Akutanalgetika einnahmen. Diese Daten zeigen, dass in der Prävention des MÜKS noch wichtige Fortschritte zu erzielen sind.
Kopfschmerzen vom Spannungstyp
Spannungskopfschmerzen sind die häufigsten aller primären
Kopfschmerzen. Sie sind gekennzeichnet durch beidseitige
drückende Kopfschmerzen von leichter bis mittlerer Inten-
sität ohne oder nur mit wenig ausgeprägten migränetypi-
schen Zusatzsymptomen. Sie gehören nicht zu den starken
Kopfschmerzen, die chronische Form (≥ 15 Tage/Monat)
kann die Lebensqualität jedoch deutlich reduzieren.
Die Behandlung der Spannungskopfschmerzen beruht in ers-
ter Linie auf nicht medikamentösen Massnahmen: Eliminie-
rung möglicher Triggerfaktoren wie Stress oder Haltungsfeh-
ler, Physiotherapie mit Instruktion zu aktiven Übungen und
Vermeidung muskuloskeletaler Verspannungen, Entspan-
nungsverfahren und kognitive Verhaltenstherapie. Zur Be-
handlung der akuten Schmerzen sind NSAR, Azetylsalizyl-
säure und Paracetamol wirksam. Opioide sind zu vermeiden,
Triptane wirken in der Regel nicht. Das Führen eines Kopf-
wehkalenders kann die Entstehung eines allfälligen Medika-
mentenübergebrauchskopfschmerzes aufdecken (vgl. oben).
Bei chronischen Spannungskopfschmerzen und/oder bei Ver-
sagen der obgenannten Therapien soll ein Prophylaktikum
eingesetzt werden, wobei Amitriptylin die beste Evidenzlage
aufweist (10–75 mg/Tag, ca. 30% Reduktion der Kopfschmer-
zen vs. Plazebo), unabhängig davon, ob eine Depression
besteht (19). Alternativ können Mirtazapin oder Venlafaxin
eingesetzt werden. Für SSRI konnte keine Wirksamkeit nach-
gewiesen werden.
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Interessenkonflikte: keine
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